Der Nachbar

Die Wohnung stand über Wochen leer. Ich hatte die Altmieter nicht ausziehen sehen, sie hatten sich auch nicht verabschiedet, nur an der Abwesenheit ihrer Fahrräder und der Stille über mir war der Wechsel zu bemerken.

Schließlich kamen die Möbelpacker, Sofas und Tische wurden durchs Treppenhaus getragen, und neue Fahrräder standen im Hinterhof. Der neue Mieter stellte sich vor. Traf ich ihn im Treppenhaus, lächelte er und grüßte, und manchmal hörte ich seine Schritte. Er zog Möbel über die Dielen, ihm fielen Gegenstände auf den Boden und manchmal schlugen nachts die Türen. Einmal traf ich ein älteres Ehepaar vor der Tür, der Mann mit Freizeithemd und senffarbenem Sakko, die Frau sorgfältig onduliert und mit einer schwarzen knautschigen Handtasche. Elternbesuch.

Dann wurde es kalt, mein Nachbar klingelte an der Tür und bat mich, seine Pflanzen zu gießen und den Briefkasten zu leeren.

„Wo fährst du hin?“, fragte ich.
Er wollte nach Indien, nicht zum erstenmal. Er erzählte mit weitausholenden Gesten vom Ganges, von der Grazie der Inder, halbverfallenen, urwaldzerfressenen Tempeln und lief die Treppe hoch, um Photos zu holen. Ich zog Wein auf, mein Nachbar sang indische Schlager und versuchte mit einer Müslischale vor meinem Gewürzregal die Gerüche Indiens zu mischen. Dann ging er und versprach ein Souvenir.

Lange Wochen wurde es still. Ich goss die Pflanzen, leerte den Briefkasten und las die NZZ. War ich auch nicht da, goss der nette Österreicher aus dem Erdgeschoss die Blumen im Dachgeschoss und meine dazu und konnte den ganzen Tag Zeitung lesen.

Dann hörte ich wieder Schritte. Etwas schepperte, ich hörte die Balkontür zuschlagen und wartete auf den Nachbarn, dessen Briefkastenschlüssel in meiner Schlüsselschale lag. Der Nachbar kam nicht.

Am dritten Tag ging ich hoch. Ein Fremder öffnete die Tür. Mein Nachbar, sagte er, wolle erst einmal in Indien bleiben. Er sei solange Untermieter. Ob ich wüsste, wo der Briefkastenschlüssel sei?

Ich habe ihm den Schlüssel gegeben. Ich höre ihn manchmal, er liest die NZZ und er fährt mit dem Fahrrad des Nachbarn, das ihm die Kinder aus dem Hinterhof zeigen mussten. Er grüßt nicht und er öffnet nicht die Tür, wenn ich klingele. Niemand von den anderen Nachbarn war seit seinem Einzug in der Wohnung.

„Das ist doch komisch.“, sage ich zum netten Österreicher und nehme mir ein neues Bier aus seinem Kühlschrank.
„Herzl,“ sagt der Österreicher in diesem fiesen Dialekt, der mit jedem Jahr in Berlin schlimmer wird. „Der Kerl hat den oidn Nachbarn in Indien derschlagt und sei Schlüssl mitgnomma.“, und öffnet das Bier mit seinen Schneidezähnen.
„Was du alles kannst“, sage ich und wir stoßen an und trinken.

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