Wenn ich heute Nacht sterbe, liege ich nicht Wochen herum. Um von der Katze gefressen zu werden, habe ich zu viele Freunde, zu viele Gewohnheiten und nicht zuletzt zu viele Verpflichtungen. Aber wenn ich nächste Woche nach Würzburg, Trentino oder Bad Saarow umziehe, und dort in der erste Nacht in den neuen vier Wänden am Herztod verrecken würde, dann würden mich Leute finden, die ich nicht kenne, die mich nicht kennen, und für die ich nur eine fremde Frau wäre, die von ihrer Katze angeknabbert worden ist.
Und dann?
Wenn sich einer die Mühe machen würde, mein Leben zusammenzusetzen, die Dateien meines Rechners ein letztes Mal zu öffnen, die Nummern auf dem Mobile nochmal anzurufen, die Bücher und die Musik abzuschreiten – wie würde mich dieser posthume Besucher sehen? Stimmt das Spiegelbild? Bin ich identisch mit meinen Vorlieben, Beschäftigungen und Bekanntschaften? Ist „Ich“ die Summe meines sichtbaren Verhaltens, meiner Schuhe, der Texte auf dem Rechner, der gekauften und ungekauften Literatur, versehen mit einem Bewusstsein, dass „ich“ sagen kann ohne zu lügen?
Mein Glaube an die Existenz einer Seele als einer Art unveräußerlichem Mehrwert hat sich spätestens in dem Moment verflüchtigt, in dem ich nach einer unvermeidlichen Medikamenteinnahme ungefähr vier Wochen jemand anders war, und zwar jemand, den ich nicht gern kennen möchte. Zu einem undokumentierten Doppelleben bin ich zu schlecht organisiert, im übrigen ist Geheimniskrämerei ohne Not eine ziemlich ridiküle Sache. So sehr ich überlege, da ist wohl nichts. Die Summe aller Taten und Gedanken, dazu ein bißchen Blut, Haut und Haare. Ja, und die Katze natürlich.
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