Indifferenz

Es war spät und der Rauch der Zigaretten schimmerte im Kerzenlicht wie ein Heiligenschein. Der Wein ging zur Neige, und ich ging in die Küche, um Gin Tonic zu mixen. C. ereifert sich über ihren Friseur. M. und ich stritten über die „Entführung aus dem Serail“ in der Komischen Oper, die ich zweimal gesehen habe und über die ich mir bei der Premiere fast die Hände blutig geklatscht habe.

T., der schon Stunden nichts mehr gesprochen zu haben scheint, begleitet mich in die Küche. Ich schneide Zitronen. T. nörgelt, das tut er eigentlich immer. Seine Tiraden über die Friseure und Metzger von Berlin habe ich öfter gehört als die Zauberflöte. Seine ergebnislose Suche nach dem perfekten italienischen Restaurant von Mitte langweilt mich inzwischen mehr, als sie mich amüsiert. Heute bin ich dran.

T. sagt, Ich bin unpolitisch. Das ist ok. Ich bin ein Snob, sagt er, aber das ist nicht wahr. Ich gebe zuviel Geld aus, aber was andere Leute ausgeben, ist mir egal. Dann holt T. zum Schlag aus. Ich sei in der Realität nie angekommen. Auffordernd und ein bißchen kokett schaut er mir ins Gesicht.

Nun würge ich T. ab und drücke ihm zwei Gläser in die Hand, die er ins Wohnzimmer tragen soll. Wir streiten und trinken, wir verabschieden uns.

Allein stehe ich auf eine letzte Zigarette auf dem Balkon. Ich ärgere mich über T. Vermutlich hat er recht. Aber ich bin der Realität nicht ausgewichen. Sie ist nicht zu mir gekommen, das harte, wahre, authentische Leben hat mich ausgelassen:

Die Wirtschaftskrise hat mein Umfeld irgendwie nicht erfasst. Obwohl ich in Berlin wohne. Niemand, den ich kenne, hat schwere Krankheiten oder sonst Lebenskämpfe auszufechten, die über unerwiderte Liebe oder Übergewicht hinausgingen. Ich hege keine Bedenken bezüglich meiner beruflichen und sonstigen Zukunft.

Ich weiß, dass meine Lage mehr als nur ein bißchen privilegiert ist. Ich lese Zeitung und kann mir vorstellen, dass das Leben ziemlich unangenehme Seiten haben kann. Ich habe es nur nie gesehen oder gespürt. In der Öffentlichkeit artikulieren sich andauernd Betroffene. Ich bin von komplett nichts betroffen. Und um über dieses Faktum glücklich zu sein, ist es mir zu selbstverständlich.

T.´s Vorwurf hätte vielleicht lauten sollen: Ich bin in der Realität anderer Leute nicht angekommen.

Ich schaue dem Zigarettenstummel nach, der ziemlich langsam in den Hinterhof fällt. Ich schließe die Tür. Wieso, frage ich mich, soll ich in der Realität anderer Leute verkehren? Warum soll ich mich für Menschen interessieren, die sich auch nicht für mich interessieren?

Ich erschrecke.

„Aber“, spricht der Zyniker in meinem Kopf, „was macht es für einen Unterschied, ob du dich für den Rest der Welt interessierst oder nicht. Ob du über Hartz IV sprichst oder über ein Revival der Persianerjacke, das ist doch ganz egal.“

Ein großer Unterschied ist das, fahre ich ihn an. Und er schüttelt den Kopf und lacht.

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