Welthaltiges Erzählen, zumal in der Großen Form, ist von gewissen interessierten Kreisen diffamiert worden, damit sie selbst umso heller strahlen. Man riskiert, im Kulturbetrieb als Ignorant oder ästhetischer Reaktionär dazustehen, wenn man der Mode nicht folgt. Schulen, Peer-Groups, Netzwerke, Klüngel sind nicht zu vernachlässigende Faktoren in der Hochkunst. Ganz ähnlich ist die figurative, gegenständliche Malerei diskreditiert, hingerichtet worden. »Realistisch« macht man einfach nicht. Höchstens auf Außenseiterposten, was einiges an Charakterstärke voraussetzt. Der Abscheu der Bohéme vorm Bürgertum richtet sich zwar gegen dessen Inhalte und somit Lebenswirklichkeit, sie erzielt ihre Wirkung aber durch die Lufthoheit über den Diskurs um die Form, welche sie im Bedarfsfall ex cathedra abbürstet.

Dabei kommt ihr zugute, dass der realistische Traditionsstrang im deutschsprachigen Raum nie besonders stark ausgeprägt gewesen ist. Realistisches Erzählen hat immer eine gewisse Nähe zum Journalismus, zur Reportage. Es setzt den Willen zur Welterkundung voraus. Und eine gewisse geistige Unabhängigkeit. Es hat immer auch ein aufklärerisches Moment. Die repressiven deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts haben all das zu unterdrücken gewusst, um Könige und Kaiser samt ihren Apparaten zu erhalten. Dunkelmännertum und Irrationalismus (lies: Katholizismus) konnten so gedeihen, wurden gefördert. Das Bürgertum tat mit (Romantik) oder flüchtete vorläufig in die Innerlichkeit (Biedermeier). Das Wiedererstarken realistischen Erzählens im deutschsprachigen Raum gegen Ende des 19. Jahrhunderts korreliert nicht zufällig mit den emanzipatorischen Bestrebungen des liberal gesinnten, oftmals jüdischen Großbürgertums. Auch das Zeitungswesen, der Journalismus erlebten in jenen Jahren einen Aufschwung. Fontane war den Großteil seines Lebens Journalist, hat erst im hohen Alter zur Fiktion gewechselt. Mit der Vernichtung des jüdischen Bürgertums ist dieser ganze Bereich ausgelöscht worden. Journalismus und Welterhellung sind seitdem wieder sowas von igitt, damit macht man sich als ordentlicher Dichterpriester nicht gemein. Und folglich verwundert es nicht, dass mit zunehmender Repressivität unserer Gesellschaft die Welthaltigkeit, nach Strohfeuern in den 1970ern und zu Anfang der 90er, erneut aus dem deutschen Erzählen verschwindet, sich bestenfalls in Nischen verdrückt (dem Krimi etwa), Innerlichkeit wieder vorherrscht; und Judith Hermann und Konsorten als große Nummern gehandelt werden, Stipendiatsliteratur floriert.

Und eben wegen ihrer ganz anderen politischen und gesellschaftlichen nichtobrigkeitsstaatlichen Verfassheit und Entwicklung hat sich im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten ein so viel welthaltigeres Erzählen herausbilden und etablieren können. (Wobei allerdings gerne übersehen wird, dass auch in den USA eine breite Palette an verquaster, ungenießbarer, im dortigen Feuilleton hingegen hoch gehandelter protestantischer Selbsterforschungsliteratur auf Stipendiums- und Literaturpreisgrundlage existiert.)

Welthaltiges Erzählen braucht also vor allem Selbstbewusstheit und -sein, Selbstreflexion, den Willen zum Anders- und Dagegensein. Ohne einen gewissen Selbstbefreiungsdrang fehlt auch der Antrieb, anderen von sich anschaulich zu erzählen. An all dem mangelt es unserem Stehkragenproletariat.

Selbst wenn dem nicht so wäre – die Diskussion über Form und Ästhetik wäre damit noch lange nicht erledigt. Vielleicht ist das bürgerlich gesetzte Erzählen in der Tat obsolet, zeitgebundene Erscheinung, auf die wir qua Erziehung fixiert sind. Fort mit Schaden. Und weiter mit der Ausdrucksform der letzten Jahrzehnte: Musik.