Zwei Dinge:
Zum einen: „Wer mehr arbeitet und arm ist, möge sich melden.“
Mangels der Definitiondessen, was im Moment das Durchschnittseinkommen ist kann ich auch nicht ausrechnen, wie viel 60% davon sind, aber ich werfe immer gern mal wieder die Zahlen der KSK rein: Das Durchschnittseinkommen (vor Steuern) ihrer Mitglieder (Texter, Grafiker, Webdesigner, …) liegt zwischen 11.000 und 15.000 €. Im Jahr. Vor Steuern. Ob das per Defintion jetzt „arm“ oder „nur prekär“ oder – es ist auch egal – ich finde es trotzdem besser, wenn man mal mit konkreten Zahlen spricht und nicht mit diesem schlecht greifbaren „arm“. Und das Selbstständig das Wörtchen „ständig“ drin hat – bekannt, nicht wahr? Ich habe auch in schlechten Jahren bestimmt nicht weniger gearbeitet.

Das zweite ist:
Diese ganze Kindergeschichte ist auch im größeren Zusammenhang zu sehen. Wer wenig genug Geld hat, um als arm zu gelten, der hat vermutlich in den wenigsten Fällen einen gesicherten Job, sondern -wenn überhaupt – einen oder zwei oder drei Hilfs- oder Zeitjobs.
Die ständige Angst, ob die auch im nächsten Monat noch da sind, die ständige Sorge, dass Waschmaschine und Jeans bitte nicht kaputtgehen dürfen – das kostet deutlich mehr Energie, als man sich von außen vorstellen kann. Das ganze in Verbindung mit der ewigen Erniedrigung, nicht dazugehören zu können, die nicht nur Kinder spüren. Dass Depressionen und auch andere Krankheiten in armen Familien deutlich verbreiteter sind als in der sog. Oberschicht spricht Bände.
Wenn das ganze Leben aus Rechnen und Tricksen und verstecken besteht um nur zu überleben, dann ist es schwer, auch noch B- und C-Pläne zu entwickeln, um die Kinder musikalisch zu supporten. Denn da geht die Energie schon dafür drauf, auch denen das halbwegs normale Überleben zu sichern. (Sie kennen Frau Nufs Berechnungen zum Schulanfang im Sommer?)
Wenn aus einem normalen Schulanfang nach den Sommerferien eine mehrtägige Angelegenheit wird (zu Fuß (weil der Bus ja kostet) zum Amt, um einen Zuschuss zu beantragen, nochmal zum Amt, um das Geld, wenn es bewilligt ist zu holen, zu Fuß in den Laden, der die speziellen tralala-Norm-linierten Hefte führt, die die Lehrerin fordert, zu Fuß in den anderen Laden, der die speziellen Hefter führt, den die andere Lehrerin fordert – in der Zeit ließen sich sicherlich viele hübsche Blockflötenvideos gucken.)

Ich gebe Ihnen Recht, dass eigentlich nicht NUR die Politik für die Kinder zuständig ist. Wenn sie aber dafür sorgt, dass die Eltern sich nicht kümmern können, dann vielleicht doch.

Ich habe lange fürs Jugendamt gearbeitet und bin sicher, dass keine der Väter oder Mütter, mit denen ich arbeiten musste sich keine Mühe für ihre Kinder gegeben haben. Aber die Mühe ging eben fürs Überleben drauf, für mehr war keine Energie mehr da.
Und ich habe lange genug nur überlebt, weil meine Frau gut genug verdient. Ich weiß, wie die Existenzangst jede Energie frisst.

Das sind Dinge, die man sich aus einer halbwegs gesicherten Existenz heraus nicht gut vorstellen kann. Und da sind wir vielleicht dann auch schon weg von Deinem Artikel und bei den Entscheidungend er Politiker, denen diese Vorstellung eben auch fehlt, aber das wird dann vielleicht doch zu groß.