Mir scheint, Sie gehen bei vielen armen Eltern von völlig falschen Voraussetzungen aus. Ich bin Lernpatin einer Achtklässlerin aus einer sogenannt bildungsfernen Familie. Beide Elternteile gingen in der Türkei ganze fünf Jahre lang zur Schule und sprechen nicht besonders gut deutsch. Können Sie sich vorstellen, wie Ihre Welt aussehen würde, wenn das Ihre ganze Bildung wäre? In dieser Welt kommen Bücher ganz einfach nicht vor. Ich vermute mal, dass die Eltern meines Lernpatenkindes noch nie in ihrem Leben in einem Museum waren – das ist von ihrer Lebensrealität so weit weg wie für mich der Mond. Dabei ist die Familie extrem bildungsambitioniert, aber völlig orientierungslos. Bildung ist für sie etwas, das ausschliesslich in der Schule stattfindet. Es gibt schlichtweg keine Vorstellung davon, dass Bildung etwas mit ihnen zu tun haben könnte und auch zuhause vermittelt wird. Und selbst wenn sie das wüssten, würden sie wahrscheinlich denken, dass sie ihren Kindern nicht viel mitgeben könnten. Wie gesagt, das sind extrem bemühte Eltern. Die Mutter geht zu jedem Elternsprechtag und wiederholt eifrig, was die Lehrer*innen ihr erzählen, nämlich dass ihr Kind mehr lernen muss – aber was soll sie da machen? Helfen kann sie beim Schulstoff schon lange nicht mehr.
Das sind wahrscheinlich alles Dinge, die Sie aufgrund Ihrer Herkunft nicht aus eigener Anschauung wissen. Aber so wie Sie von armen Eltern fordern, sich halt mal anzustrengen, könnte man von Ihnen verlangen, sich mal zu informieren. Wenn Sie jetzt sagen, Sie wissen nicht wie und wo, Sie kennen dieses Milieu und diese Leute nicht – willkommen in der Welt meiner Lernpatenfamilie. Dort kennt man keine Akademiker*innen, weiss wenig bis nichts von deren Lebensrealität, und weiss nicht, was für den Bildungserfolg – den sie sich für ihre Kinder sehr wünschen! – nötig und wichtig ist.