Ich finde das eine sehr interessante Diskussion und möchte auch noch mal meine zwei Pfennige einwerfen.

Ich erinnere mich noch an die Zeit nach dem Tod meiner Mutter. Ich war 20 und studierte. Meine Mutter hat mir ein Haus überlassen mit einer vermieteten Wohnung und einem Haufen unsortiertem Papierkram. Nun war ich ein intelligentes und gebildetes junges Mädchen mit allen Voraussetzungen. Ich weiß aber noch ganz genau wie überfordert ich mich anfangs fühlte. Die ganzen nötigen Formalitäten, Amtsgänge, plötzliche Rechnungen für alle möglichen Dinge über die ich mir nie Gedanken gemacht habe.
Schwierig war das eigentlich auch alles nicht. Trotzdem bin ich ziemlich geschwommen.

Was hat das mit arm zu tun? Nichts aber ich kann mir vorstellen, wie schwierig es für viele Menschen sein muss den ganz normalen Wahnsinn des Lebens zu bestreiten, wenn von zuhause nicht die nötigen Kompetenzen vermittelt wurden. Da sind sicher viele froh, wenn sie die unbedingt notwendigen Formulare abgearbeitet haben und ihre Rechnungen bezahlt bekommen. Zusätzlich zu prüfen, ob nicht noch ein Formular X zur Förderung des Kindes zu bekommen wäre oder ob Amt Y noch eine Idee für einen Zuschuss hätte? Ich verstehe, dass man das einfach nicht hinbekommt.

Ich habe zuhause nicht kochen gelernt. Meine Mutter konnte das nicht. Ich empfand es anfangs als wahnsinnig schwierig. Nicht das Kochen an sich aber die Überlegungen dazu. Was koche ich? Wie viel brauche ich? Was mache ich mit den Resten? Das fiel mir nicht leicht. Und das ging anderen Studenten ganz ähnlich. Gelernt haben wir es alle aber wir hatten auch Zeit um im Internet nach Rezepten zu suchen und genug Geld so dass es kein Drama war wenn man eher für 8 Personen als für 2 gekocht hat oder wenn übrige Zutaten verschimmelten.

Was ich damit sagen will? Die Bewältigung eines strukturierten gesunden Akademikeralltages ist leicht, wenn man es gewohnt ist. Aber JEDE Verhaltensänderung benötigt Zeit, Energie, Reflektionsfähigkeit, die Fähigkeit zur Beschaffung von Informationen und Hilfen und fast immer Geld. Man muss das neue Verhalten erlernen und das ist immer mühsam.

Selbst wenn man das Geld weg lässt… So bleiben mindestens vier wesentliche Ressourcen die man haben muss, wenn man etwas ändern will.

Und diese stehen vielen Menschen einfach nicht zur Verfügung.

Für Armut gibt es viele Gründe.

Ganz sicher ist aber, dass die wenigsten Menschen gemütlich zuhause sitzen und sämtliche Ressourcen zur Verfügung haben und nur keine Lust haben sie zu nutzen.

Die häufigsten Gründe sind wohl fehlende Bildung, prekäre Beschäftigungen, Krankheit oder familiäre Probleme wie Scheidung oder Pflegefälle in der Familie.

Wenn man das nun aufdröselt… Fehlende Bildung bedeutet ja nicht einfach, dass es zufällig nicht zum Abitur gereicht hat. Es bedeutet meist auch nicht „Mathe war nicht so meins“. Es bedeutet viel mehr, dass kognitive Fähigkeiten fehlen. Fähigkeiten Dinge die einem erklärt werden zu verstehen und sinnvoll umzusetzen. Es fehlt die Fähigkeit eigene Defizite zu erkennen und anschließend Lösungen zu entwickeln. Ich sehe das teilweise schon bei unseren Azubis. Die haben ja immerhin schonmal einen Schulabschluss und eine Ausbildung. Sind somit nicht die unterste Bildungsschicht und trotzdem nicht in der Lage sich selbst zu helfen. Sie stehen dort und stellen fest „Kann ich nicht“ und finden dafür keine Lösung.
Man ist es als Akademiker so sehr gewohnt ständig Herausforderungen zu lösen, Informationen zu filtern und zu verstehen was die aufgäbe tatsächlich beinhaltet, dass man schnell vergisst, wie schwer das für andere sein kann. So führte ein „Schreibe jetzt bitte in dein Berichtsheft was du heute gemacht hast und was du wichtiges gelernt“ hast zu dem Satz „Ich habe heute Kaffee für alle geholt und es ist sehr wichtig zu merken wer Milch im Kaffee will und wer nicht, weil sonst muss ich nochmal gehen und selber Geld geben“.
Und dann sollen solche Menschen Anweisungen von Erziehern, Lehrern und Ärzten umsetzen, die solche umkonkreten Sachen wie „weniger Fernsehen, mehr vorlesen und gesünder kochen“ empfehlen? Wie soll das gehen?

Nun sind natürlich nicht alle armen Menschen einfach geistig nicht in der Lage. Der nächste Punkt wären prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Die fressen häufig einfach enorm viel Zeit. Schichtarbeit, mehrere kleine Jobs mit Fahrzeiten. Dazu die Organisation der Kinder.
Ja ich weiß, dass auch viele Akademiker viel arbeiten und Kinder managen. Ich weiß aber auch, dass auch diese oft an ihre Grenzen kommen. Wenn man aber einen festen und guten Job hat, kann man sich eine Wohnung in der Nähe der Arbeit suchen und sich ein Auto kaufen und mit den Kindern mal schnell ins Restaurant gehen wenn die Zeit mal knapp ist. Wie viel mehr Zeit geht wohl drauf, wenn man dort wohnen muss wo die Wohnung bezahlbar ist und von dort mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren muss und nicht schnell beim Bahnhofsbäcker etwas kaufen kann?
Dazu kommen natürlich die finanziellen Sorgen. Ein weiterer Energiefresser.

Gesundheit. Körperliche Beschwerden fressen Zeit und Energie. Aber auch psychische Erkrankungen sind häufige Ursachen von Arbeitslosigkeit und Armut. Depressionen, soziale Störungen und Ängste… Da wird die bloße Bewältigung des Alltages schon zur großen Herausforderung. Wer er kaum schafft aufzustehen wird wohl kaum „mehr mit den Kindern spazieren gehen und singen“ können. Wer Angst hat unter Menschen zu gehen wird wohl eher nicht wochenendliche Museuumsausflüge unternehmen.

Und nun noch der Faktor innerfamiliäre Probleme. Ich lebe gerade in Scheidung. Eine unproblematische und harmonische Scheidung. Trotzdem hat mich diese ganze Trennung so unglaublich belastet. Ich habe angefangen im Büro Fehler zu machen und war nach der Arbeit so kaputt… Ich mag mir gar nicht vorstellen wie unglaublich energiezehrend es sein muss eine unangenehme Scheidung durchzumachen und gleichzeitig Kinder zu haben die unter der Trennung und Situation leiden und noch dazu finanzielle Ängste zu haben. Ich bin mir sicher, dass ich das schaffen würde aber ich bin mir genauso sicher, dass ich den Rat „abends einfach mal eine erfundene Geschichte illustrieren und schon klappt mit der Schule“ ziemlich lächerlich fände.

Armut ist nicht nur Abwesenheit von Geld. Es ist meist auch Anwesenheit von anderen Problemen.

Und damit möchte ich noch einen anderen Punkt einwerfen der hier irgendwie recht kurz gekommen ist. Die Entwicklung der Kinder ist nicht nur davon geprägt, wie viel die Eltern sich kümmern sondern auch davon, ob die Kinder Probleme und Sorgen haben. Bei vielen Kindern fallen die Leistungen ab wenn die Eltern sich trennen. Das liegt nicht daran, dass plötzlich keiner mehr mit ihnen lernt sonder daran, dass auch die Kinder ihre Energie dann woanders brauchen.
Kinder haben nicht nur zu wenig Musikunterricht und zu wenig Ansprache sondern vielleicht auch Sorgen und Ängste die mit der Gesamtsituation zu tun haben. Vielleicht fehlt es nicht an Geigenunterricht und Frühförderung sondern an einer Paartherapie für die streitenden Eltern. Vielleicht fehlt nicht die teure Deutschnachhilfe sondern der gesicherte Aufenthaltsstatus.
Vielleicht liegen Chantalles Probleme im Geschiunterricht nicht daran, dass sie zu selten im Museum war sondern daran, dass sie müde ist weil sie nachts die kleine Schwester versorgt hat während die Mutter Schichtdienst hatte und kein Geld für einen Babysitter.

Die meisten Eltern geben ihr Allerbestes und kümmern sich so gut wie sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen eben können.

Sicherlich gibt es auch schlechte Eltern. Eltern die sich nicht für ihre Kinder interessieren. Eltern die ihr Geld in Alkohol und Zigaretten stecken. Es gibt die schlechten Klischeefamilien.
Natürlich tragen die Eltern eine Verantwortung.

Nur was ist die Konsequenz. Was hilft es den Kindern, wenn wir sagen, dass die Eltern verantwortlich sind. Was nützt es, wenn die Eltern es nicht ändern wollen oder können?

Dann gibt es doch nur die Gesellschaft die das auffangen kann. Und zwar nicht indem es benachteiligte Kinder genau so fördert wie andere sondern indem es sie besser fördert und mehr investiert um einen gewissen Ausgleich zu schaffen.