Tüll

So ganz früh morgens durch die Stadt zu laufen und zu dampfen vor Nacht und Zigarettenqualm und mit klebrigen Haaren, weil man tanzen war. Kurz vor der Oberbaumbrücke auf einer Bank zu sitzen, ein letztes, warmes Bier, sich was zu erzählen und auf die gleißende Spree zu schauen, und nie, nie, nie nach Hause zu gehen: Wie vorbei ist das und wie nie gewesen.

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Weil ich manchmal vergesse, dass ich manchen Kleidungsstücken gar kein passendes Leben bieten kann, kaufe ich bisweilen Paillettenoberteile, abenteuerlich ausgeschnittene Kleider und zuletzt einen hellgrauen Tüllrock. Traurig hängen die Kleider nun in meinem Schrank, ganz und gar ungetragen, bisweilen flüchtig gestreichelt, und links hängengelassen zugunsten der blauen, ganz und gar nüchternen, hornbrillentüchtigen Etuikleidern, in denen ich festen Schritts durch meinen Alltag laufe, in dem es weder raschelt, noch fliegt und nichts glänzt und glitzert.

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Vor kurzem darüber gesprochen, ob 2020 vielleicht nur der Auftakt zu einem Leben ist, in dem es alles Mögliche nicht mehr gibt, oder nur noch in der digital vermittelten Wiederspiegelung, angefangen bei Musik. Ein bisschen wehmütig bei dem Gedanken, dass dies die schicksalhaften Zufälle noch einmal deutlich reduzieren würde, die es ja ohnehin gerade schwer haben, schwerer noch als ein neuer, ungetragener Tüllrock und Nächte in der Stadt, die niemals stattfinden, zumindest nicht für mich.

3 Gedanken zu „Tüll

  1. das kann durchaus sein, dass es danach alles mögliche nimmer gibt. aber den tüllrock kann man im home-office tragen und damit auf den balkon zum rauchen gehen.
    ach, ja. der abschied von der freiheit.

  2. Zurück von einer Reise, blättere ich durch diverse Blogs und finde Erinnerungsmomente in einem geistigen Dreieck.
    Während „ingrid“ gerade ihren „Tüll“-Gedanken-Beitrag sendet, sitze ich beim „Erdinger am Gendarmenmarkt“ – einem Punkt, der im Nahbereich von „Modeste“ liegt.
    Dann der „Klick“ auf „ingrid“ bringt mich geistig nach Allensteig und zum nahe gelegenen Truppenübungsplatz. Den durfte ich im Sommer 1959 für etwa 14 Tage auf Kosten der damaligen Steuerzahler*innen kennenlernen.
    Mit „Tüll“ hat mein Beitrag wenig zu tun, aber er spannt einen Erinnerungsbogen und verbindet mich mit Orten, Zeiten und Personen.

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