Über Bücher

Journal :: 27.11.2017

Kurz ergreift mich das Bedürfnis, mit etwas zu werfen, aber was nützt das, wenn derjenige, nach dem man es werfen möchte, leider nicht anwesend ist, sondern einen telefonisch sozusagen verhöhnt, ohne das auch nur zu bemerken. Passenderweise ist es draußen dunkel und kalt, über die Fenster läuft schwarzer Regen, und obwohl es so aussieht, als würde es nie wieder hell, ist es eigentlich erst kurz nach fünf, und hier ist nicht der Hades, sondern bloß ein Büro.

Auch der Mann am anderen Ende der Telefonverbindung steht in einem Büro und wollte vor zehn Minuten mit mir über Kekse sprechen und über unsere Chancen, unsere Kinder doch noch christlich beschulen zu lassen und sie nicht dem gottlosen Berliner Bildungssystem in den schadhaften Rachen zu werfen. Von diesen Themen ist er dann allerdings abgekommen und nun sprechen wir seit zehn Minuten über Bücher. Ich lobe Kehlmanns „Tyll“, mit dem dem Meister des eleganten, ein wenig leblosen Plots nun wider Erwarten doch ein Roman gelungen ist, in dem der Dreck stinkt und Körper atmen, und in dem die Magie wirklich lebt und webt und nicht nur zitiert und behauptet wird. Aha, sagt er und schweigt für eine Minute. Dich, sage ich, um das Schweigen nicht über Gebühr auszudehnen, habe ich auch kürzlich zwischen zwei Buchdeckeln getroffen, und er lacht und fühlt sich, glaube ich, ein wenig geschmeichelt.

Ich dich auch, sagt er. Ich ziehe scharf die Luft ein und fürchte mich ein bisschen. In der Tat. Ich fürchte mich zu recht. Isabel, sagt er. Isabel in Jackie Thomaes „Momente der Klarheit“, dieses sehr wahre, sehr traurige, sehr treffsichere und unglaublich lustige Buch von vor ein paar Jahren über halb kreative, halb bürgerliche Mittvierziger in Berlin, die alle einmal etwas mit allen hatten, und in vielen kurzen Episoden jeweils den einen Moment erleben, in dem sie feststellen, dass die Liebe vorbei ist, und dann weitermachen oder auch nicht.

Wieso ausgerechnet Isabel, frage ich. War diese Isabel nicht Videokünstlerin? Ich habe eine intensive Abneigung gegen Videokunst. Und ist Isabel nicht eine ziemlich überspannte Person, die in Regisseur Engelhardt erst das Gefühl hervorgerufen hatte, ein jahrzehntelanger Irrtum habe sich endlich aufgeklärt, um dann Knall auf Fall zu einem Fremden zu ziehen, und Engelhardt auch noch den Umzug machen zu lassen? Eine Person, die im Personenverzeichnis als ebenso gewinnend wie angriffslustig bezeichnet wird? Die fiese, Haare ausreißende Schwester von Natalie, die eigentlich nur in emotionalen Extremen existiert? Die dann den total langweiligen Anwalt Clemens am Schlachtensee kennenlernt, der sich irgendwann von ihr trennt, weil sie sich offenkundig nicht die Bohne für ihn interessiert.

Ausgerechnet Isabel, ächze ich und überlege, ob eine Schädeldecke wohl bricht, wenn man mit einem schweren Locher auf sie einschlägt. Hier liegt ein Irrtum vor, proklamiere ich. Ich halte mich in der Tat eher für etwas zu kontrolliert als für das Gegenteil. Und ich mag manchmal Launen haben, aber ich bin Meilen entfernt von einer Frau, die die eigene Schwester für eine bisweilen gefährliche Borderlinerin hält, und nicht zuletzt seit über 20 Jahren in beispielhafter emotionaler Stabilität dem geschätzten Gefährten verbunden. Jaja, lacht man mich aus, und dann spricht man übergangslos wieder über Kekse.

Und hier sitze ich nun und denke darüber nach, welch schreiendes Unrecht es bedeutet, von seinen engsten Freunden so bösartig verkannt zu werden, und wie man sich hierfür als gesetzte Dame in durchaus mittleren Jahren am gediegensten rächt. Vorschläge gern in die Kommentare oder per E-Mail.

Nach Hause.

Am Ende kommt der Regisseur Emil Nägeli nicht mit dem Film nach Deutschland zurück, den zu drehen ihn der japanische Offizier Masahiko Amakasu, vermittelt durch den Direktor der UfA, Alfred Hugenberg, angeheuert hat. Nägeli hat keinen Stummfilm gedreht, der die gemeinsamen Ideale der faschistischen Diktaturen Deutschland und Japan verherrlichen würde. Die Idee einer Achse aus Zelluloid, einer gemeinsamen Filmkultur in Abgrenzung zur großen Illusionskunst Hollywoods ist schon im Ansatz gescheitert. Der Hans im Glück, als dessen zerquälten, zarten Bruder wir Nägeli kennenlernen, wird das viele Geld der Japaner Etappe für Etappe für etwas anderes eintauschen, um ganz am Ende mit fast leeren Händen heimzukommen, zumindest, wenn man die Maßstäbe des Auftraggebers anlegt.

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Nägeli ist schon vor seiner Reise von Berlin nach Japan kein deutscher Monumentalfilmer, damit durchaus dritte Wahl der Japaner, sondern ein sensibler Schweizer, angegriffen durch den kürzlichen Tod des durchaus ambivalent gezeichneten Vaters, abgestoßen durch das barbarisch scheppernde Berlin der Dreißiger Jahre, in dem die Filmkritiker Kracauer und Eisner am letzten Tag vor der Flucht nach Paris als einzige Menschen unter alptraumhaften Fratzen ihm die Idee eines ganz anderen Films einpflanzen. Doch auch dieser Film wird nicht gedreht werden. Hans im Glück wird auch diese Idee, den Coup der Emigranten, nicht als Film nach Hause bringen, denn kaum in Japan angekommen, bemerkt er, dass seine Verlobte Ida von Uexküll ihn mit Masahiko Amakasu betrügt, und filmt den Betrug durch ein Loch in der Wand.

Dieser Betrug wird zur Urszene des Films, den Nägeli am Ende einem erfreut-verständnislosen Zürcher Publikum vorführen wird, Ausgangspunkt einer zusammenhanglosen Zusammenstellung von Bildern von Fischern, Gegenständen, Bergen, eines Raums mit europäischen Gemälden und Erinnerungsstücken am äußersten Rande Asiens, die Nägeli auf einer langen Reise zu Fuß, per Schiff und per Zug zusammengefilmt haben wird. Es ist eine Reise nach Hause, auch eine Reise mit sozusagen glücklichem Ausgang, an deren Ende nicht das kalte Wasser des Zürichsees oder die Maden eines chinesischen Lagers warten, sondern eine Professur und eine bürgerliche, quasi Eichendorffsche Behaglichkeit, eine gewisse Selbstverzwergung inbegriffen.

Doch ein Eichendorffscher Taugenichts ist Nägeli nicht. In Nägeli glänzt nicht die anima candida der Romantik, er ist durch Kindheitstraumata und Lieblosigkeit aus dem Paradies vertrieben, und so verflucht er Ida und Amakasu, die dann – wie Fluch und Erzähler es wollen – einen elenden und grotesken Tod finden. Auf den letzten Seiten des Romans fällt  Ida vom großen H des Hollywoodschriftzugs in die Kakteen. Amakasu, dieser dunkle Doppelgänger Nägelis, ertrinkt im Meer.

Überhaupt wird viel gestorben in diesem Roman, dessen erzählerischer Boden fortwährend zu schwanken scheint. Die unruhigen Zeiten übertragen sich auf die Protagonisten, die – Eisner und Krakauer ausgenommen – ebenfalls halb wie Schlafende, halb wie böse, dämonenhafte Puppen durch die Handlung wanken. Eingeschlossen in diese Schale aus Untergängen aber erzählt Kracht seine Geschichte vom unreinen Tor, den er mit einer Heimkehr beschenkt wie noch keinen seiner Reisenden zuvor.

Christian Kracht, Die Toten, 2016

Vom Untergang

Ich bin ja nicht so Exzess. Ich arbeite eine echte Vollzeit, ich habe ein kleines Kind, da bin ich selten unterwegs, um mal einen tiefen Blick in Abgründe zu werfen. Wenn ich dann doch mal an Abgründen vorbei komme, weiche ich meistens aus, weil ich am nächsten Morgen doch aufstehen muss. Ich bin – sehen wir den Tatsachen ins Auge – ein ziemlich erlebnisarmer Bürger mit gemäßigten Ansichten über nahezu alles, einem gewissen Hang zur Bequemlichkeit. Ich bin das Juste Milieu.

Natürlich wird Stuckrad-Barres Buch Panikherz vor allem von Leuten wie mir gelesen. Wer kauft und liest in Deutschland sonst auch Bücher. Und weil Stuckrad-Barre auch Jahrgang 1975 ist, bewege ich mich in Panikherz in einer bekannten Welt. Die Achtziger, dieses endlose Bad in lauwarmer Langeweile. Die Neunziger, in denen es dann endlich losgehen sollte, ohne dass genau festgestanden hätte, was es denn eigentlich ist. Nur, dass es größer, lauter, bedeutender sein sollte, als die geordnete Welt unserer Kindheit in der westdeutschen Provinz, das war wohl den meisten von uns klar, die wir Mitte der Neunziger einen Umzugswagen voll Kisten gepackt haben, um irgendwo ein Leben anzufangen, von dem wir vermutlich alle mehr erwartet, als bekommen haben, wie es denn so geht.

Anders als ich hat Stuckrad-Barre die Suche nach Bedeutung ungleich ernster genommen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, ausgerechnet im Segment der Musik- und Fernsehunterhaltung das echte Leben zu suchen, aber in Panikherz liest sich das eigentlich alles ganz schlüssig und rund. Warum auch nicht.

Die ersten feinen Risse zeigen sich just dann, als Ende der Neunziger Stuckrad-Barre Erfolg hat. Soloalbum ist ein tolles Buch, ist ein erfolgreiches Buch, auf einmal ist sein Autor ein Star, und ich erinnere mich noch an eine Lesung in einem vollgestopften ziemlich großen Raum, in dem ansonsten Bands auftraten. Ich habe Stuckrad-Barre damals ein bißchen beneidet, nicht weil er dieses Buch geschrieben hatte, sondern weil er überhaupt ein Buch geschrieben und sogar bei einem Verlag untergebracht hatte, während ich andauernd Romane schrieb, die ich dann alle ob mangelnder Qualität wegschmeißen musste.

Dass Erfolg nicht glücklich macht, war schon damals jedem klar. Natürlich macht Erfolg aber auch nicht unglücklich. Er legt nur die Schluchten frei, von denen man vor Eintritt des Erfolgs immer dachte, sie würden sich schließen, wenn erst einmal irgendetwas eintreten würde, was man sich gerade so wünscht. Wenn die Gletscherspalten dann immer noch klaffen: Dann war es eben nicht dieser Erfolg. Dann fehlt etwas anderes. Abnehmen. Rausch. Sex, was auch immer, und so folgt man Stuckrad-Barre ins Innere der Hölle. Dieser Teil des Buches ist sicherlich der stärkste. Stuckrad-Barre gelingen große, groteske Bilder von der Getriebenheit, der Sucht, dem Untergang in Selbstekel, Willenlosigkeit und den vielen Verlusten. Dass er den ganzen Weg abwärts nicht aufhört, genau zu beobachten, und ein präzises Abbild der Welt schafft, deren vorwiegend Berliner Kulissen auch ich gut kenne, würde mein Interesse am Buch auch dann wach halten, wenn nicht schon der Untergang an sich ein Thema wäre, das ein Buch dieses Umfangs trüge.

Dass der schon fast völlig Zerschlagene am Ende von seiner Familie und Udo Lindenberg gerettet wird, erleichtert den Leser und bedient die Erwartungen an eine geschlossene Dramaturgie. Ganz aber, ganz glaube ich nicht an die Geschichte von Höllenfahrt und Errettung, und als ich schließlich im Postbahnhof sitze, und Stuckrad-Barre mager und blass liest, unterhält und witzelt, lache ich zwar, versinke in einer gerührten Nostalgie, und wehre mich doch vergeblich gegen das Gefühl, dass das das Ende der Geschichte noch nicht ist, denn vielleicht gibt es keine Wege zwischen dem Untergang auf der einen und der Gleichgültigkeit auf der anderen Seite, und wir alle müssen wählen, was uns bitterlich fehlt.

Benjamin von Stuckrad-Barre, Panikherz. 2016.

Mittwoch, 29. Juli

Immerhin sitze ich nicht bei 15 Grad für Säcke voll Geld an der Ostsee, rede ich mir das Berliner Temperaturdesaster schön und gehe um zehn ins Bett. Ich bin schlecht gelaunt, denn meine Teigtaschen im Brot und Rosen waren nicht nur etwas zu al dente und mit einem ziemlich krümeligen Hackfleisch gefüllt, sondern auch zu wenig, um davon satt zu werden. Dann aber schlage ich Auerhaus von Bov Bjerg auf und stürze kopfüber in die Achtziger Jahre. Ich weiß das doch noch, erinnere ich mich an meinen Thermopullover, an meine Lieblingsjeans mit 15, den Geruch von Kirschtee und einen Karton voll Kassetten. Dann aber vergesse ich Kulisse und Kolorit und lese eine zeitlose Geschichte über die Zwischenjahre, diese schmale Scheibe aus Zeit zwischen den Zwängen der Schulzeit und den Zwängen von Uni, Beruf, Familie. Bei mir waren das immer nur ein paar wenige Wochen oder Monate, immer so gerade zwischen zwei Etappen gemogelt, und es tut mir ein bisschen leid, dass ich nie ein Auerhaus bewohnt habe, einen Ort außerhalb der Zeit, scheinbar eine Schüler-WG irgendwo in der Provinz, aber in Wirklichkeit ein schwankendes, labiles, wahrhaft schmerzliches Arkadien.

Fünf Bewohner hat das Auerhaus, alle auf der Durchreise aus einem Kinderleben in ein richtiges, eigenes Leben, ein eigenes Ich. Vorerst sind sie alle um die 18, Halblinge des Erwachsenenlebens, weder Fisch noch Fleisch und an die Gebote der Gesellschaft so wenig gebunden, dass auch ihre Regelbrüche noch etwas Unschuldiges haben, als seien sie an das Verbot des Stehlens etwa weniger gebunden als die, deren Füße schon fest in der Erde fußen.

Dem leichten, auch leichtsinnigen Unernst stellt Bov – und diese Spannung trägt das Buch auch über die untiefen Stellen – den äußersten, bittersten Ernst gegenüber: Nur wegen Frieder wohnen die anderen im Auerhaus, nur, um Frieder von einem weiteren Suizidversuch abzuhalten, wird hier gelebt, gefeiert, kaum geliebt irritierenderweise, und dieser schwarze Untergrund verleiht dem hell getuschten Treiben der Übrigen eine fiebrige Tiefe, und als ich das Buch zuschlug, viel zu spät für einen Mittwochabend, war ich so 18, wie ganz lange nicht mehr, und hätte gern mit dem Ich-Erzähler Höppner Hühnerknecht ein Bier getrunken und ihm erzählt, dass noch bessere Jahre kommen mögen, wenn man einmal erwachsen ist. Aber keine mehr, die man so sehr spürt wie diese.IMG_0185

Gelesen

Ich habe mir Reisebücher gekauft. Ein klassische Ersatzhandlung eigentlich: Ich würde so gern wieder reisen. Also so richtig reisen, so mit einer kleinen Tasche am Arm, einem Ticket und einer Kreditkarte, Sonnenbrille nicht vergessen, und dann einfach los. Ein Bahnhofshotel in Bukarest und dann mit irgendwelchen dahergewehten Passanten auf den nächsten Markt, sich zeigen lassen, wo man hier die beste Suppe isst. Sich überreden lassen, immer weiter nach Osten zu fahren, mit Zügen am besten. Kartenspielen mit Fremden in einem heißen, abgeschabten Abteil. Auf einem leergefegten Flughafen in Asien stranden, nachts mit den Taxifahrern diskutieren, und dann am Morgen übernächtigt, überwältigt an einem fremdem Hafen sitzen und in die Sonne blinzeln. Nicht wissen, wo man morgen Abend die Auge schließt. Statt dessen nun: Ein Ferienhaus, ein Mietwagen und acht Tage mit den Schwiegereltern, die wegen ihrer eher eingeschränkten Kommunikationsprozesse – mein Schwiegervater kennt nur zwei Gesprächsthemen – vermutlich nicht einmal den Turing-Test bestünden. Nun ja.

Zu Fuß

Schon vor dem eigenen Urlaub gereist mit Patrick Leigh Fermor. Sie wissen schon. Der Mann, der 1933 als entlaufener Schuljunge von von England aus nach Europa reist, um zu Fuß bis nach Konstantinopel zu laufen. Eine unglaubliche Reise, ein Füllhorn von Begegnungen, kreuz und quer über den Kontinent, um mit dem Adel Ungarns zu tanzen, mit Pferdeknechten Bier zu trinken, und so gestochen scharf und farbig einen letzten Blick auf dieses alte Europa zu werfen, bevor es unterging: Zerrissen, zerbomt und geteilt. Zwei Teile begründeten – nein: vertieften – den Ruhm Leigh Fermors. Der dritte, der letzte Teil der Reise, ist nun posthum erschienen, und mit leisem Bedauern versteht man, wieso der Autor selbst die vielen bunten Flicken nicht mehr zusammenzufügen vermochte. Es war am Ende auch alles schon allzu lang her. Für ein paar Abende ohne Bedauern aber reicht es, und lohnt sich nicht zuletzt für die paar goldenen Adern im Schiefer der verfallenden Zeit. Mir hat es – bei allen Schwächen – gefallen.

(Patrick Leigh Fermor, Die unterbrochene Reise, Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié)

Auf hohem Ross

Keine Ahnung, warum ich das überhaupt gekauft habe. Ich habe von Altmann schon einmal ein Buch gelesen. Da ging es um seinen bayerischen Heimatort, ein verlogenes, verstunkenes Kaff. Dass man in so einem Nest nicht leben und atmen kann, leuchtet mir irgendwie ein. Ich könnte das auch nicht. Dass man durch die Welt zieht, einfach um des Fremden in der Fremde willen: Auch das erscheint mir einleuchtend. Ich mag auch keine hässlichen Menschen, die halbnackt und schwitzend durch den Petersdom schnaufen, und ich würde meine Urlaube ebenfalls nicht in einem Club verbringen, all inclusive mit einem Bändchen am Arm. Da bin ich aber nicht besonders stolz drauf, und zu einem besseren Menschen macht mich das auch nicht. Den Leuten vor Ort wäre ein Neckermann-Tourist, der Geld für Kitsch ausgibt, Henning Mankell liest und sich abends für 10 Euro ein Eisbein servieren lässt, vermutlich auch lieber als ein Backpacker, der die heiligen Schriften des örtlich ansässigen Kultus gelesen hat, sich mit allen unterhalten will, egal, was die davon halten, und dann für 20 Cent das Nationalgericht isst.

Mir erscheint diese Form des Reisens oft eher etwas distanzlos, aufdringlich nachgerade, und sich öffentlich zu rühmen, ein besserer Reisender zu sein als andere Leute, empfinde ich als mindestens taktlos, wenn nicht gar als nachgerade hoffärtig. Um nicht zu sagen: Widerwärtig arrogant.

(Andreas Altmann. Gebrauchsanweisung für die Welt. )

Im Cabrio

Reizend dagegen, vergnügt, raschelnd vor fröhlich-sinnloser Geschäftigkeit, wirbelt das Buch von der Riviera an mir vorbei. 1931 ist es erschienen, Klaus und Erika Mann haben es geschrieben, und es ist genau die Küste, die wir lieben: Dieser schmale Streifen Land zwischen Marseille und Menton. Sehr viel geschieht gar nicht in diesem eher schmalen Reisebüchlein. Man fährt herum, trifft hier diesen und dort jenen. Man geht zum Friseur, isst mal scheußlich und mal fabelhaft, erfreut sich des Lichts, des Nichtstuns, der Casinos, der Nachtclubs, wirft einen flüchtig-trägen Blick auf Städtchen und Dörfer und ist schon wieder weg.

Unsere Cǒte d’Azur ist das – bei allen Ähnlichkeiten – nicht. Was wir sehen ist geprägt vom Boom des französischen Südens in den Fünfziger und Sechziger Jahren. Ein bisschen aus der Zeit gefallen sieht es dort heute bisweilen aus, ein wenig rührend passé auf diese sehr gemütliche Weise, die gerade wieder ein wenig in Mode kommt: Wie eine Karikatur von Paul Flora, die so langsam, langsam ein wenig Nostalgie und Patina ansetzt. In den Dreißigern aber war die Cǒte d’Azur nicht ein wenig unmodern und sehr gemütlich, sondern todschick, rasant, es war Jugend und Jazz und F. Scott Fitzgerald, und es nimmt dem kleinen, schnell gelesenen Büchlein nichts, dass Klaus Mann am Ende nach Cannes nur zurückkehren sollte, um 1949 an Drogen und Einsamkeit zu sterben.

(Klaus und Erika Mann, Das Buch von der Riviera)

Wiederleser

Ich bin ja Wiederleserin. Beim ersten Durchgang, da will ich wissen, was drin steht. Bekommt ihn das Mädchen aus dem Schloss oder heiratet er etwa ihren Schützling? Geht alles gut, oder scheitert auch die zweite Ehe des Fräulein aus dem Norden? Fängt der alte Mann den Wal? Und wie kommt der Held aus dieser verdammten Grube eigentlich wieder heraus?

Beim zweiten Lesen aber beginnt das Schwelgen. Wie hübsch führt der Autor seinen Helden ein. Wie gut gemacht ist der Szenenwechsel, wie charmant wird angedeutet, was der Autor noch nicht sagen will. Wie lebendig erscheint die Szenerie, wie kalt brausen die Wogen.

Dann aber vergehen Jahre. Neue Bücher stapeln sich auf die alten. Bisweilen erinnert ein Buch an jenes, das irgendwo in den Regalen döst, ab und zu seufzt, und mir dann und wann einen Gruß zuruft durch eine blühende Magnolie, einen witzigen Ausspruch eines Fremden, ein Zitat oder einen Straßennamen. Besuch‘ mich bald wieder, heißt es dann, und ich lache und winke.

Dann aber sitze ich daheim. Es ist ein bißchen langweilig. Der J. ist nicht da, der F. schläft, zum Telefonieren habe ich keine Lust. Besuch müsste man haben. Oder nein: Vielleicht doch besser heut‘ nicht. Statt dessen früh ins Bett, ein lang nicht gelesenes Buch, ein Hauch von Staub, und dann ein beglücktes Wiedersehen, ein fröhliches Hallo, ganz vertraut wie mit Freunden von früher, erlöst von der Spannung des Kennenlernens und ganz daheim wie in eigenen, früheren Gärten.

Man sollte jedes geliebte Buch dreimal lesen. Oder alle zehn Jahre erneut.

Vom Paradies

Christian Kracht, Imperium

Es ist doch alles da, wenn Sie des Nachts erwachen. Was Sie im satten Schein der Nachttischlampe vom Bett aus sehen, zeugt von Ihrem Geschmack und (wozu dies beschweigen) von Ihrem Geld. Sie sind gesund und haben keine Schmerzen. Der Mensch, der neben Ihnen schläft, liebt Sie und sieht – bei aller Intelligenz – auch noch gut aus.

Wenn Sie an den nächsten Tag denken, spüren Sie weder Furcht noch Ärger. Doch denken Sie an das nächste Jahr, ach: an das nächste Jahrzehnt, so spüren Sie eine leichte, eine kaum wahrnehmbare Beklemmung, der Schatten eines Gefühls mehr als ein Gefühl selbst, und Sie schelten sich für dieses Missbehagen, für das es keinen Anlass gibt, denn voraussichtlich geht es Ihnen auch in zehn Jahren blendend.

Das Gefühl aber – das wissen Sie – wird nicht weichen. Sie werden erwachen, morgen früh, übermorgen, irgendwann in Ihrem Leben, und wissen, dass irgendwo in der Mitte Ihrer Welt ein schwarzes Loch klafft, der Eingang zu einem dunklen Kanal in die Mitte des Nichts, und alles, was Sie ausmacht, nur Girlande ist und sinnlose Verzierung, denn das Loch ist das Eigentliche und alles andere ist nichts.

Ein Geringerer als Sie würde nun verzweifeln und Erlösung suchen in Schönheit oder Kunst, würde sehr religiös oder ginge zumindest viermal die Woche zum Yoga und würde Anhänger der Eigenurintherapie. Sie aber sind klug. Sie wissen, dass nichts auf Erden uns rettet, und alles Streben nach Unsterblichkeit, nach Glück und Auflösung in einem höheren Sein scheitern wird, nur scheitern kann, und das Schicksal dem Scheiternden meistens nicht einmal Tragik und Würde bereitstellt, weil es kaum etwas gibt, was lustiger ist als jemand, der auf den Bananenschalen ausrutscht, die auf dem Weg ins Paradies auf den Wanderer warten.

Abgeklärt, wie Sie sind, lehnen Sie sich zurück in Ihre ganz sicher sehr bequemen Kissen und belächeln gern die Irrläufer der Suche nach dem Heiligen Gral. Herrn August Engelhardt etwa – dessen wohl teilweise wahre Geschichte Christian Kracht uns in seinem vierten Roman erzählt – erfreut Sie deshalb ganz und gar mit seinem Plan, ein Reich der Glückseligkeit auf einer Südseeinsel zu errichten, auf der seine Jünger und er nackt und friedlich sich ausschließlich von Kokosnüssen ernähren sollten, um so unsterblich zu werden.

Als ein Realist durch und durch wundern Sie sich nicht, dass aus dem Plan nichts wird. Engelhardt wird (natürlich, denken Sie und verziehen mokant das Gesicht) nicht glücklich und gesund, sondern verwandelt sich durch die jahrelange Mangelernährung in einen paranoiden, antisemitischen, leprakranken, regredierten Kannibalen. Auch aus der Schar von Jüngern, die Engelhardt sich vorstellt, wird nichts, denn die wenigen Anhänger, die es bis zu seiner Insel Kabakon schaffen, enttäuschen Engelhardt, und die Anhänger, die in der Kolonialhauptstadt hängen bleiben, führen schließlich dazu, dass der Gouverneur der Kolonie Engelhardt loswerden will und – wenn auch erfolglos – seine Ermordung beauftragt.

Auch der Erzähler selbst, so erscheint es Ihnen, teilt Ihre Ansicht über diejenigen, die wie Engelhardt versuchen, der Unerlösbarkeit der Welt mit ungeeigneten Mitteln zu entkommen. Elegant zurückgelehnt, gelassen plaudernd mit allen Mitteln des großen Romans des letzten Jahrhunderts, erzählt Kracht von diesem Kammerspiel des deutschen Welttheaters, als habe es die stilistischen Aufgeregtheiten des letzten halben Jahrhunderts nie gegeben. Heiter erscheint Ihnen dieser Erzähler, von einer sonnig-entspannten Ironie, die Sie sanft durch die rund 250 Seiten trägt, freundlich und bar jener Verzweiflung über die Unheilbarkeit der Welt, die die ersten Romane des Autors grundierte, und so ziehen Sie sich die Decke noch etwas höher in der besten aller Welten.

Später aber, ganz spät, schon haben Sie das Licht gelöscht und die Augen geschlossen, erschrecken Sie doch. Der Autor hat Sie verraten, erkennen Sie, auf dem trockenen Pfad Ihres Realismus. Nicht vorgeführt, so scheint es Ihnen nun, hat Kracht Ihnen den Irrweg aller Utopisten, die Vergeblichkeit der Erlösung und die Verzweiflung derer, die danach suchen, denn (anders als es in Wikipedia steht), stirbt Engelhardt bei Kracht gerade nicht 1919 vereinsamt und abgemagert an seiner Kokosnussdiät. Noch nach 1945 taucht Engelhardt auf, geheilt von der Lepra, abgemagert, aber lebendig, und auch wenn die Erlösung, auch wenn das Paradies, nicht unaussprechlich dionysische Genüsse bereithält, sondern nur Cola und Hot Dogs und sehr gesunde GI’s: Die Pforten dieses Paradieses immerhin öffnet Kracht seinem traurigen Helden, und mehr Erlösung von Übel und Tod, als Sie sie finden werden, bei Nacht, in Ihrem Bett, in Ihrem soliden Leben und mit Ihren beiden Beinen fest auf dem Boden.

Doch nächtliche Verzweiflung, auch das ist Ihnen klar, haben Sie morgen vergessen.

Nichts.

„Nichts!“, jammere ich. Alles durchgelesen, was da ist, und die Beschreibung der Neuerscheinungen in der Zeitung reizt mich nicht im Geringsten. Ich war Samstag nacht sogar auf dem Rückweg vom Essen mit der I. und dem S. zum Bus noch bei Dussmann und habe da beim Durchschlendern auch nichts gefunden. Es ist aber auch nicht einfach. Ich interessiere mich nicht für „radikale“ Schilderungen von irgendwas oder für Bücher, die einen „ganz neuen Ton“ treffen. Das Humorig-Launige allerdings liegt mir auch nicht.

Ich will grundsätzlich nie wissen, wer wen umgebracht hat, und ich interessiere mich ganz ausgesprochen nicht für gesellschaftliche Randgruppen. Ich mag mich nur mit wirklichen Problemen auseinandersetzen wie Haarausfall oder Langeweile oder die Frage, ob man jemanden lieben kann, der nackt komisch aussieht.

Das letzte Buch, das ich ungelesen weggeworfen habe, war von Dietmar Dath. Das letzte Buch, das ich gelobt habe, war gestern abend gegenüber dem liebenswürdigen J. die Autobiographie von Christopher Hitchens. Zuletzt – mit zehn Jahren Abstand – zweimal gelesen habe ich Wilhelm Speyers „Charlott etwas verrückt“.

Nun ist mein Nachttisch leer. Mir ist langweilig. Helfen Sie mir.

Dumme Schafe

Vielleicht liegt’s an mir. Vielleicht liegt es daran, dass ich noch nie einen Mann retten wollte, an dem mir etwas lag, denn ich möchte für nichts und niemanden leiden, ich will Annehmlichkeiten und schöne, weiße Pelze und Sahnetorten und einen Mann, der mir morgens und abends sagt, dass ich zauberhaft sei. Vielleicht bin ich deswegen die falsche Leserin für Katja Müller-Langes Roman „Böse Schafe“, der von Soja handelt, die in den Achtzigern aus dem Osten nach Westberlin kommt und sich in den letzten Jahren vor der Grenzöffnung in Harry verliebt, einen Junkie, und dann alles für ihn tut, und er tut nichts für sie.

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