Essais

Marie Bashkirtseff

Von Nizza nach Rom, von Rom nach Neapel, hin und her, Baden-Baden, Genf, auf ein paar Wochen nach Russland, und immer weiter mit einem Tross Dienerschaft, den langsam verblühenden Tanten, der blassen, schwachen Mutter, um schließlich 1884 in Paris zu sterben, 24 Jahre alt. Notre dame du sleeping car, nennt sie ein Freund, unsere liebe Frau von der ewigen Unruh‘, ein anderer, und unklar bleibt, was es ist, das es sie weiter treibt, von einem Ort des eleganten Europa zum nächsten. Vielleicht ist’s auch gar kein Fernweh, kein Wunsch, an einem anderen Ort das Glück zu suchen, das nie dort ist, wo Maries Koffer gerade stehen. Vielleicht ist es einfach gedankenlose Gewohnheit eines Kindes, das ein Daheim nicht mehr kennt, seit die Eltern sich trennen, schon bald nach der Hochzeit, und die Mutter mit Dienerschaft und Tanten, Zofen und Lakaien, einem Mohrenknaben und mitreisenden Ärzten Russland verlässt, um auf eine endlose Reise zu gehen von Hotel zu Hotel, einmal quer durch Europa.

Fremd erscheint ihr nun der russische Distrikt ihrer frühen Kindheit. Langweilig sind die ländlichen Wolfsjagden und die immergleiche, folgenlose Galanterie der ländlichen Bekannten, besucht sie einmal ihren Vater. Fremd auch ist die russische Sprache geworden, die sie nur noch mit den Dienern spricht. Das Tagebuch, das sie nach ihrem Tode erst bekannt machen wird, führt sie auf Französisch, aber auch das Französische bleibt ihr letztlich fremd, und sie merkt es, wie auch Italienisch, Englisch, ein wenig Deutsch, aber es wird nichts Rechtes mit den Sprachkünsten der kleinen Marie, die nach raschen Lernerfolgen – denn Marie ist begabt – sich gelangweilt abwendet, sobald die Mühen beginnen. Rasch fasst sie auf, bringt es in allem, was sie tut, auf schnelle Kunstfertigkeit. Sie liest, sie spielt, sie tut, was sie tut zum Entzücken ihrer Tanten, aber dieses Entzücken reicht ihr nicht, und alle Bewunderung, die man ihr entgegenbringt, wird ihr nie reichen, denn das eigentliche Ziel des Mädchens, das mit zwölf Jahren sein Tagebuch beginnt, ist der Ruhm, eine vage Vorstellung von Größe und Bedeutung. Ich möchte Cäsar sein, Augustus, Marc Aurel, Nero, Caracalla, der Teufel, der Papst!, wirft sie ungeduldig auf die Seiten ihres Tagebuchs, da ist sie 15 Jahre alt und erträgt es kaum, noch nicht berühmt zu sein, wofür auch immer. Willensstark ist Marie, heftig und schwankend in ihren Wünschen.

Eine große Sängerin will sie sein, singt, bis ihr die Stimmbänder versagen, und sie den Traum von der Bühne begraben muss. Einen Herzog zu heiraten, den Neffen eines Kardinals, eine große Dame zu sein der Gesellschaft, die sich ihr nicht ganz öffnet, denn ein wenig obskur mögen die reichen Russen des kleinen Landadels der ansässigen Gesellschaft erscheinen. Vielleicht wird der Reichtum ein wenig zu laut zelebriert, vielleicht erscheint das fahrende Leben zwischen Hotels und stetigen Aufbrüchen ein wenig anrüchig, oder es reicht schlicht das Geld nicht, um dies vergessen zu machen, und so wird es nichts mit Maries Träumen von einer Hochzeit, die Glanz und Größe ohne eigenes Zutun eröffnet.

Dass es nicht die Liebe ist, die ihr Interesse an den Bewerbern erregt, konstatiert sie selber, denn kühl, erbarmungslos mit jeder Regung der eigenen Seele zeichnet sie die Schwankungen des eigenen Gemüts auf: Wie sie nur in Abwesenheit liebt, die Spottlust und die Kälte in Gegenwart der Verehrer, überhaupt, aus welchen nicht immer reinen Quellen ihre Neigung sich speist, und das eigentlich Abstoßende der Berechnung verwandelt sich beim Lesen in einen leises Mitleid mit der Ziellosigkeit einer kleinen Prinzessin, die nicht fassen kann, das ihr das Leben nicht alles schenken mag, was es anderen zu bieten bereit ist, und auch die Fassungslosigkeit aufschreibt mit der ganzen exhibitionistischen Grazie vollkommener Aufrichtigkeit.

Die Schonungslosigkeit im Umgang mit der eigenen Seele ist es auch, die versöhnt mit ihrer grotesken Selbstverliebtheit, die sich immer wieder in langen Schilderungen ergeht, wie sie am Balkon sitzt etwa, in einem weißen Kleid, was sie trägt, lauter lebende Bilder mit Marie im Mittelpunkt. Die ridiküle Bewunderung ihrer schönen Hände, des reinen Gesichts, denn hübsch ist sie wirklich, den Photographien und Portraits zufolge, ein reizendes Mädchen, dem die Heftigkeit des Temperaments nicht anzusehen ist, das stets schwankende Gemüt, das sich liebt, hasst, vergöttert, das Höchste von sich erwartet und zutiefst enttäuscht ist, bleibt sie sich schuldig, was sie von sich verlangt.

Eine große Sängerin wird sie also nicht werden, der der Tod von den Stimmbändern langsam Richtung Lunge kriecht und ihr den Körper zersetzen wird. Der sie ein paar Jahre später das Gehör kosten wird, noch ist sie keine 21, und die sich beobachtet wie eine Fremde, eine Verdopplung in zweimal Marie: Eine Marie, die sich erregt zu Boden wirft, ihre Handschuhe aus dem Fenster fallen lässt, einen Uhr ins Meer wirft vom Nizzaer Balkon des Hotel Negresco, die weint, die Dienstboten quält, um sodann übertriebene Geschenke zu senden, alle Welt zu umarmen und sich wieder zu versöhnen, so geräuschvoll wie der Streit. Eine andere, die neben sich steht, sich beobachtet, und sich mit jener anderen Person nur vereint, um Stoßseufzer zu Himmel zu schicken, an deren Vergeblichkeit sie von Jahr zu Jahr weniger vorbei kommt. Mein Gott, wenn du mich leben lässt, wie ich es wünsche; ich verspreche dir, mein Gott, wenn du Mitleid mit mir hast, ich verspreche dir von Charkow bis nach Kiew zu Fuß zu gehen wie die Pilger. , schreibt sie, aber Gott, dem sie den zehnten Teil ihrer Einnahmen verspricht, ist nicht gnädig, und der Ruhm kommt nicht zu ihr noch das glänzende Leben.

Einen Versuch unternimmt sie noch, beginnt zu malen, schließt sich einem Atelier an, das auch Frauen ausbildet, und wundert sich, dass die anderen Schülerinnen sie, die mit ihren Dienern erscheint und sich Mahlzeiten aus den Küchen der großen Hotels kommen lässt, nicht mögen. Wie in allem was sie tut, bleiben auch hier die Erfolge nicht aus, sie stellt aus, findet Förderer, und ist doch nicht zufrieden, denn sie selbst, sie selbst hat mehr von sich erwartet als die letztlich nur handwerklichen Fertigkeiten, die ihren Bildern anzusehen sind, auch wenn sie Erfolge einfährt, um die andere sie beneiden.

Sie malt wie besessen, denn der Ruhm muss doch kommen. Sie verlässt Paris nur noch selten, denn da steht das Atelier, das letzte schmale Tor zu Berühmtheit und Größe. Sie übernimmt sich, malt Tag und Nacht und verpasst doch die Maler der jüngsten Generation, die in den Achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts groß werden, die Impressionisten, den Pointillisten, und eifert den akademischen Lehrern nach, vielleicht auch verblendet von dem Glanz, der diesen sichtbar und sofort zuteil wird, und jenen erst später, aber da ist Marie schon lange tot.

Ein wenig trauert man mit ihr um den vergeblichen Traum von Unsterblichkeit zu Lebzeiten. Ein wenig schüttelt man den Kopf vor der Eifersucht auf jeden Erfolg der anderen Schülerinnen, der Heftigkeit, den immer schriller werdenden Klagen und der Enttäuschung der Zwanzigjährigen, die zusehends müde wird, weil ihr nicht reicht, nie reicht, was das Leben ihr schenkt. Blick- und gedankenlos geht sie vorbei an allem, was das Paris jener Tage zu bieten hat, diese satte, üppige Stadt, strotzend vor Lebenslust und Genussucht, all das, was sich darbietet in den Romanen von Flaubert, Balzac, den Novellen des Maupassant, mit dem sie einen törichten, anonymen Briefwechsel pflegt, um der Größe zumindest nahe zu sein. Das Leben mit dem Duft der Blumen, dem Wirbel der hungrigen, stetig wachsenden Städte, den gesunden Lungen und dem gesunden Appetit auf Skandale und Liebschaften, auf die schweren Braten und Weine dieser prosperierenden Tage: Keinen Niederschlag findet all das in ihrem Tagebuch, und so geht Marie am Leben, das sie haben könnte, vorbei zugunsten des Lebens, das sie nicht haben kann. Sie verbrennt sich dabei, überanstrengt sich, und die Last der Enttäuschung, der Mühe und der Müdigkeit der steten Anstrengungen und allzu kleinen Erfolge frisst an ihrer Gesundheit.

Mit 24 geht ihr der Atem aus. Ein paar Tage vor ihrem Tod ein letzter Eintrag, und man schließt das kleine Taschenbuch mit einer Beklemmung und einigem Mitleid mit dem ungelebten Leben des toten Mädchens, zu dem der Glanz nicht kommen wollte: Jene Gnade der Kunst, die zu erhalten es nicht reicht, sie so heftig zu begehren, dass es einen das Leben kostet, bis man nichts mehr davon haben wird, wenn das Protokoll dieses Scheiterns einmal berühmt werden soll, aber man selbst liegt längst schon im Grab in Paris Passy.

Du meines Panthers Rosengang

Über Alkibiades aus Athen

Es ist kein gemessenes Schreiten marmorblasser, erhabener Gestalten, für das die Straßen der Akropolis, wie wir sie kennen, in jenen Jahrzehnten gebaut wurden. Stolz und heißblütig treibt Athen, glänzendes Zentrum der griechischen Welt, durch das fünfte vorchristliche Jahrhundert, in dem äußerster Ehrgeiz auf unendliche Möglichkeiten stößt, denn nichts von dem, was man denkt, sagt, aufschreibt oder ausprobiert, ist zuvor jemals gedacht oder getan worden. Ein lautes und übermütiges Lachen, ein Schrei von Lebenslust und Maßlosigkeit füllt das Zeitalter, das die Götter für seinen Wagemut beschenken mit einer Perfektion der Schönheit, der Grazie und der Eleganz, als könne kein Fehl sein an dem, was noch ganz ohne die Müdigkeiten späterer Saecula zu sein scheint, rund, spiegelnd wie polierter Marmor und makellos wie das Lächeln der Athene über ihre eigene Stadt.

Azurblau, grün wie der griechische Frühling, rosenrot und golden, prangend und saftig steht die Stadt in einer reichen, ebenso üppigen Natur, und nicht minder kräftig sind die Farben, die sie dem Leben ihrer Söhne verleiht, die sie mit aller Kraft der Unvernunft liebt, um sie bei dem kleinsten Anlass zu verstoßen, ganz, wie ein Kind ein Spielzeug zertritt. Göttlich ist nur der Sieger, kein Mitleid schlingt weiche Arme um einen Unterlegenen, und was wie die Fähigkeit zur raschen Verzeihung, zur schnellen Revision unverhältnismäßiger Urteile ausschaut, mag nicht mehr sein als eine lachende Gleichgültigkeit in jenen Zeiten, in denen die Schönheit noch zu neu war, um der Brechung zu bedürfen, und die Amphoren noch nicht leergetrunken, auf deren Grund erst spätere Zeiten die schwere Süße der Melancholie finden sollten.

Strahlende Sieger wünscht sich das Volk von Athen, Helden wollen die Dichter besingen, und stolz, schön wie die Statuen dieser amüsantesten aller Götterwelten, mit jener sorglosen Verfeinerung eines Adels, der mit dem Schwert in der Hand durch ein schwankendes, stets durch die Könige der Perser bedrohtes Griechenland zieht, männlich und kraftvoll, laufen die Besten der Athener durch eine Welt, in der das Gute und das Schöne ebenso eine Einheit bildet wie Soldatentum und Gedankenfülle, Sinnlichkeit, Ehrgeiz und eine Lust am Spiel, wie sie nur der Gott und der Desperado aufbringen.

Es ist die Mitte dieser Welt, das Herz Athens, das 450 v. Chr. jenen Mann gebiert, den das Zeitalter selber geträumt haben muss, um ihn in Fleisch und Blut über die Agora der Stadt zu schicken: Neffe und Ziehsohn des Perikles, Schüler und Geliebter des Sokrates, Schwiegersohn des Hipponikos, des reichsten Mannes der griechischen Welt. Geliebt, vergöttert, verführerisch durch Anmut, Schönheit und Geist, glänzend im Feld und von einer Wendigkeit, die wir bewundern müssten, wäre sie uns nicht ein wenig unheimlich, ein wenig tierhaft in ihrer Unbedenklichkeit und von einer Leichtigkeit, die der Folgenschwere fremd geworden ist, die unsere Schritte hemmt und begleitet.

Ob es die Sucht nach Ruhm und Siegen war, die Alkibiades verlasst haben mag, Athen in immer weitere Kriege zu treiben, oder die Einsicht, dass das in allzu kleine Stadtstaaten zersplitterte Griechenland auf die Dauer den Feinden von außen keinen Widerstand zu leisten vermögen würde? Oder ob die Unruhe selbst sich eines Unruhigen bediente, um Athen in ein militärisches Abenteuer um das reiche Sizilien zu treiben, an dessen Besitz die Hegemonie innerhalb der griechischen Welt hing? Hingerissen von der Beredsamkeit des Alkibiades jedenfalls zogen die Krieger der Stadt über das Meer, aber das Glück war woanders, und so sehr das Volk von Athen den Alkibiades vergöttert hatte, so sehr forderte es nun seinen Kopf. In Abwesenheit verurteilte man den Glücklosen indes nicht wegen der Erfolglosigkeit im Felde, sondern wegen eines Streiches, einer Übermütigkeit, von der noch heute keiner sagen kann, ob er sie wirklich begangen: Noch während der Vorbereitungen des Feldzuges nämlich waren eines Nachts allen Hermes-Figuren, die die bilderreiche Stadt schmückten, die Köpfe abgeschlagen, überdies hatte der gesprächige Alkibiades angeblich die Geheimnisse der eleusinischen Mysterien ausgeplaudert und im Kreise einiger Freunde Parodien der heiligen Handlungen gefeiert. Er solle sterben, beschloss also die Volksversammlung, aber dass der Verurteilte nicht nach Athen zurückkehren würde, um sich dort hinrichten zu lassen, dürfte auch die Zeitgenossen nicht besonders überrascht haben.

Statt nach Athen fuhr Alkibiades also nach Sparta, zum monarchistischen Erzfeind, gewann auch dort Einfluss, wurde mächtig, schloss ein Bündnis mit dem Perserkönig und besiegte Athen bei Dekeleia. Wiederum verurteilte die athenische Volksversammlung den Alkibiades zum Tode, allerdings galt auch diese Verurteilung wiederum einem Abwesenden, und so wurde auch aus diesem zweiten Todesurteil nichts.

Vielleicht hätte Alkibiades Sparta die entscheidenden Siege verschaffen können, vielleicht wäre schon in jenen Jahren eine der mächtigen Stadtstaaten der hellenischen Welt erst prima inter pares werden können, und schließlich ein einheitliches griechisches Reich entstehen können, das einen anderen Weg genommen hätte. Vielleicht wäre das Römische Reich nicht entstanden in einer schon aufgeteilten Welt, und geachtet und geehrt hätte Alkibiades als ein spartanischer Feldherr altern können. Maßvolle Vernunft aber war seine Sache nie, und so begann der Maßlose nicht nur eine Affäre mit der Frau des spartanischen Königs Agis II., sondern jene erwartete von dem fremden Feldherrn sogar ein Kind, und so erstarb auch diese Chance eines einheitlichen griechischen Großreiches im Schlafzimmer der Königin von Sparta, deren Untertanen nicht viel übrig hatten für derlei Umtriebe.

Vor den lakedaimonischen Verwicklungen floh Alkibiades weiter, geriet an den Hof des Persers Tissaphernes, Provinzstatthalter des Großkönigs, und wurde wiederum mächtig, spielte Spartaner und Athener gegeneinander aus, und kehrte schließlich als Gewinner politischer Wirren innerhalb der attischen Polis mit einigen Siegen an der Brust umjubelt nach Athen zurück.

Langsam aber wurde Alkibiades alt, und die Göttin Athene, die die Jugend liebte, wandte sich ab von ihrem Sohn. Die Elastizität, die der Jugend vorbehalten zu sein scheint, fiel von ihm ab, und die Fähigkeit, zu bezaubern, zu verführen, und auf Fortunas goldener Kugel durch Griechenland zu rollen, muss den Alternden verlassen haben, denn nur wenige Jahre später entzog das Volk von Athen Alkibiades endgültig seine Gunst, der ein paar Schlachten verloren hatte. Wiederum flüchtete Alkibiades, aber diesmal sollte das Glück nicht auf seiner Schulter die Stadt verlassen, und so wurde Alkibiades am Hofe des persischen Satrapen, zu dem der Vertriebe sich geflüchtet hatte, auf Betreiben der fast ungriechisch nachtragenden Spartaner ermordet. Das Bedauern der Zeitgenossen, hört man, soll sich in Grenzen gehalten haben.

Wir aber, die wir zwei und ein halbes Jahrtausend später dem saftvollen, strotzenden Frühling unserer Welt ein halb sehnsüchtiges, halb belustigtes Lächeln hinterherschicken, werfen mit ein wenig mehr Bedauern der ungebrochenen Kraft und der Maßlosigkeit jenes Unverschämtesten der Athener eine Kusshand hinterher und hegen keinen Zweifel, dass selbst der Hades ihm leicht sein müsse, und Persephone selbst ihm hinter den schwarzen Strömen goldene Äpfel reicht.

Publius Clodius Pulcher

Noch haben die Caesaren die Kraft der römischen Aristokratie nicht gebrochen, und aus einem Übermaß an Energie, aus einem Zuviel an Erregbarkeit der wüsten, von den unruhigen Zeiten schon angefressenen Nerven, wirft sich der Nachwuchs der römischen Gesellschaft in die Politik und schleudert blutige Würfel über die sieben Hügel Roms. Ein ungefährliches Spiel ist die Politik nicht in diesen Jahren, hat doch der Bürgerkrieg bereits reiche Ernte gehalten unter denjenigen Familien Roms, die traditionell die Wahlämter der Republik verwalten, und auch die Claudier nicht ausgespart in jenen unruhigen Jahren, in denen Marius und Sulla um die Vorherrschaft über die Mitte der Welt ringen, und ein Riss durch die ersten Familien der Stadt geht, von dem wir nicht wissen, nur ahnen können, wieviel Überzeugung und wieviel Hunger nach Macht, wieviel auch von jener Lust am Spiel, die nur diejenigen frivol nennen, die sie nicht kennen, den einzelnen auf die Seite der Senatspartei oder auf diejenige des Volkes trägt.

Große Männer der Optimaten wie der Popularen stellt die Sippe der Claudier, und so ist kaum die Frage, ob, sondern nur, auf welcher Seite sich ein junger Mann des Patriziats positioniert, der 92 v. Chr. als Publius Claudius Pulcher geboren wird. In seine Kindheit fallen die ersten ernsthaften Schläge gegen die Republik und senken eine Unruhe in eine ganze Generation von Politikern, die sich ein halbes Jahrhundert lang in Krämpfen entlädt, bis unter diesen Stößen das korrupte Casino, zu dem die römische Republik längst geworden ist, erzittert, um schließlich seine Tore zu schließen: Schon sind die Proskriptionen Vergangenheit, schon hat das mehrjährige Konsulat Lucius Cornelius Cinnas einen der Grundsätze des Reiches einem Achselzucken unterworfen, das nicht mehr wegzudenken sein wird, und immer wieder rebellieren die, auf deren Rücken das mächtige römische Reich blüht wie eine allzu üppige Pflanze: Der Aufstand des Spartacus ist weder der erste noch der letzte Aufstand der Sklaven, und immer weitere Sklaven spülen Roms siegreiche Kriege in die Stadt. Immer schwerer wird es dem freien Bürger in den Mietshäusern der Subura, den Lebensunterhalt für sich und die Seinen zu verdienen, und längst ist der schlichte Edelmann, der eigenhändig pflügt wie ficht, Vergangenheit.

Diese Unruhe, der schwankende Boden, scheint es auch zu sein, die von Anfang an den P. Clodius Pulcher umgibt wie ein Schatten: Taucht er an der Seite des Lucius Licinius Lucullus auf, so bricht prompt eine Rebellion aus, in Syrien verliert er fast sein Leben, entführt wird er wie mancher römische Edelmann, der seiner Familie Geld wert ist. Dass er, der Catilina 65 v. Chr. angeklagt hat, mit ihm gemeinsame Sache gemacht haben soll, behauptet zwar nur Cicero, aber etwas Zwielichtiges ist stets um ihn, seine Söldner durchstreifen die Stadt, und die Wahlkämpfe jener Jahre um alle Ämter, die der um des Tribunats Willen plebejisch gewordene P. Clodius Pulcher jemals innehat, tragen einen wüsten und bizarren Charakter.

Dass es die Seite der Konservativen, der Senatspartei nicht sein wird, für die Clodius Pulcher antritt, versteht sich fast von selbst: Überschießend, maßlos und populistisch sind seine Forderungen, seine Feindschaften, die ihn am Ende den Kopf kosten werden, und die Bestechung wie die Straßenschlacht sein Element. Nur jene letzten Jahre der Republik bieten einem wie ihm die Möglichkeit, in die lecken Stellen des Staates auf eigene Rechnung wie Risiko einzudringen wie später einmal die Condottieri der Renaissance oder ein Freibeuter auf den Meeren. Nicht um Geld oder Ruhm indes wird hier gespielt, fast die ganze bekannte Welt wird, so flüstern es die Träume von Ruhm und Herrschaft, dem gehören, der einmal die überreife Republik vom goldenen Baume pflückt, und längst sind es nicht mehr die Senatsmehrheiten, die die Macht der Politiker ausmachen, sondern die Straßenbanden und Söldner wie Sklaven, die sich schlagen für ihn, der Quaestor wird, Volkstribun, curulischer Aedil, und Praetor nicht mehr werden sollte.

Ob die Feindschaft zu Cicero nur auf politischen Gründen beruht oder von Anfang an ein privates Missfallen den Hintergrund eines Hasses bildet, der noch 2000 Jahre später aus den Reden Ciceros spritzt? Ob tatsächlich die Terentia, die erste Frau des Cicero, mit ihrer Eifersucht auf die mittlere Clodia, die Schwester und angebliche Geliebte des P. Clodius Pulcher, den ersten Anstoss gibt für die ciceronianische Kampagne gegen den zehn Jahre jüngeren Clodius Pulcher? Oder ob Cicero, ehrgeizig, aber keiner der Männer, deren Ziel die Zerstörung die Republik war, in ihm den Unruhestifter sah, einen der Entzündungsherde des Staates, und die behauptete Sittenlosigkeit der Clodia und ihres Bruders nicht mehr als ein Vorwand waren, sind doch die Ehen der Römischen Gesellschaft aus meist politischen Gründen ebenso schnell geschlossen wie geschieden, und zahlreiche Feste, Reisen an die See oder aufs Land bieten Gelegenheit für Affären, von denen wir, zwei Millenien später, nicht mehr wüssten, wäre die üble Nachrede kein Politikum gewesen, mit dem freilich fast jedem zu schaden war in jenen Jahren.

Der Bona-Dea-Skandal, das Eindringen in das Haus des C. Iulius Caesar als Frau verkleidet zu einer Festlichkeit, zu der aus religiösen Gründen nur Frauen zugelassen waren, mag eine Unverschämtheit gewesen sein, an eine Beleidigung der Römischen Götter allein mag in diesen Jahren indes keiner mehr so recht geglaubt haben, wäre doch der Jüngere Cato ansonsten kaum die komische Figur geworden, als die er durch unsere Schulbücher treibt. Ob die mittlere Clodia, die Lesbia Catulls, tatsächlich die Geliebte ihres Bruders P. Clodius Pulcher war, welche Frauen der Römischen Gesellschaft ihre lieblose Ehen noch mit ihm verschönerten – wen kümmert es noch heute, wo die ganze glänzende, vergnügungssüchtige, opulente römische Aristokratie schon so viel länger vergangen ist, als selbst die Gestalten unserer Märchen und Sagen: Sind doch Dietrich von Bern, die Heymonssöhne oder die Nibelungenkönige vom Rhein, noch längst nicht soviele Jahre tot wie jene.

Parteigänger Caesars, Gegner nicht nur Ciceros, sondern auch Pompeius‘, dreht sich die Welt immer schneller, immer wirrer um P. Clodius Pulcher. In Titus Annius Milo findet er einen Widersacher, dessen Temperament dem seinen gleicht: Auf einem schillernden Boden von Gewalt, Volkstribun auch er, wetteifern die Populisten um die Gunst der verelendenden Massen in den engen Straßen der Stadt. Versprochen wird viel, gehalten wird wenig, und auf den Wogen eines glänzenden Untergangs fahren die dahin, von denen am Ende derjenige übrigbleiben soll, siegreich auf dem Schlachtfeld, dem der Preis gehört: das Imperium Romanum.

Am Ende aber wird keiner von ihnen das Römische Reich in der Hand halten: Caesar wird erstochen werden, und T. Annius Milo als aufständisch hingerichtet. Cicero werden sie am Ende durch die Straßen schleifen, tot wie die Republik, und seinen Kopf ausstellen auf der Rostra am Forum Romanum, Cato wird sich in der Ausweglosigkeit töten, und auch Pompeius sollte die Bürgerkriege nicht überleben, aus denen schließlich die Pax Augusta herauswachsen wird als ein Produkt der Erschöpfung und Ausblutung der römischen Eliten.

Die kommenden Bürgerkriege jedoch, dieses letzte Zucken der Republik und ihren Untergang in Schwefel und Rauch, hat P. Clodius Pulcher nicht mehr erlebt: Schon 52 v. Chr. sollten ihn die Sklaven Milos auf der Via Appia unweit Roms in ein Handgemenge verwickeln, auf offener Straße erstechen und niedermachen. Die Massen Roms, die einfachen Bürger, als deren Sachwalter auch Clodius Pulcher aufgetreten war, sollten tagelang die Straßen Roms unsicher machen, die Curie niederbrennen: Würdiger Heimgang eines Unruhigen.

Am Horizont aber, klein und unscheinbar, schaukelt auf den Wellen des Elends in den Straßen von Rom, auf denen P. Clodius Pulcher wie manche andere ihr Glück gesucht und ihren Tod gefunden haben, bereits der Keim für die spätere Ausbreitung des Christentums, an dem nach der Römischen Republik die Römische Welt zugrunde gehen wird.

Thy Pale, Lost Lilies Out Of Mind

So, wie bei einer Flut ein Haus erst rissig wird, Feuchtigkeit seinen Keller überschwemmt, und schließlich die Wände nachgeben, steht das 19. Jahrhundert nur scheinbar sicher auf den festgefügten Mauern, nach denen sich ein blutiges halbes Jahrhundert später ein Stefan Zweig sehnen wird. In den Großstädten sammeln sich die, die von sich mit nicht unberechtigtem Selbstbewusstsein behaupten werden, das Bewusstsein einer Zeit zu sein, die langsam beginnt, aus ihrem Innersten die fleischigen Gesichter zu zersetzen, die von den Portraits dieser letzten Jahrhundertwende aus ihren überladenen Rahmen auf uns herunterschauen.

Die Städte Europas sind in diesen Jahren auf ihrem Scheitelpunkt angelangt: Der ganze Glanz der Urbanität, eine üppige Sinnlichkeit, gewürzt mit dem Hautgout einer entfesslten, derben Genussucht, die einer allzu schnell zu Wohlstand gekommenen Gesellschaft entspringt. Es ist das Europa der rotgesichtigen, reichen Kaufleute, der Bel Ami des Zeitungswesens, der Väter, die in den Autobiographien ihrer verfeinerten, schlanken Söhne ein fratzenhaftes, verzerrtes Nachleben von grauenerregender Vitalität noch lange nach ihrem Tode führen.

Unter den fragilen Kaufmannssöhnen, die in den literarischen Journalen Londons veröffentlichen, findet sich auch der Name des 1867 geborenen Ernest Christopher Dowson, der nach gescheitertem Studium mit 21 Jahren dem väterlichen Unternehmen beitritt, um fortan ein zweites, nächtliches Leben in London zu führen. In den Katakomben der Hauptstadt des Empire verschmelzen in jenen Jahren eine robuste Lebensfreude mit einer vibrierenden Lust am Exzess, der Sehnsucht nach einem überschießenden Untergang in Pracht und blendenden Kaskaden, die sich nur in ihren Erscheinungsformen, nicht aber in ihrem Kern gleichen.

Vom Grunde dieses schwarzen, irisierenden Stroms, aus dem Schlamm des glänzenden, aufstrebenden London, fördern die Autoren jener Journale, in denen auch Dowson publiziert, eine üppige, rauschhafte Schönheit, und versuchen, das Ungezügelte, Bacchantische in Formen zu gießen, in deren kühler Strenge alles Erlebte, Erträumte, Erfahrene erstarrt wie heißes Metall zu üppigen Ranken. The Yellow Book, The Savoy drucken seine Gedichte, Aubrey Beardsley illustriert, ein Roman misslingt, und kränklich, zart inmitten dieser blutvollen, dämonischen Welt, meißelt Dowson eine Handvoll, ach: weniger als eine Handvoll Gedichte von makelloser, erhabener Schönheit.

Die dämmerige, reine Erhabenheit des Klosterlebens jenseits der Verworrenheit der Welt: And it is one with them when evening falls, and one with them the cold return of day. Das Verblassen der Erinnerung, der schmerzhafte Fall der Rosen, Rain of their starry blossoms – To make you a coronet? Do you ever remember, Yvonne, As I remember yet?. Die Gegenwart der vergangenen Liebe zu einer Toten.

I cried for madder music and for stronger wine,
But when the feast is finished and the lamps expire,
Then falls thy shadow, Cynara! the night is thine

Das Vergehen der Liebe überhaupt, nach deren Reinheit der ausschweifende Katholik zu suchen vermeint. Die geliebte, zwölfjährige Gastwirtstochter, die einen Kellner heiraten wird, eine kleine Madonna, und der Herzschlag und die Lippen derjenigen auf der anderen Seite, die im Werk jenes Viktorianers keinen Namen tragen. Surely the kisses of her bought red mouth were sweet; But I was desolate and sick of an old passion, When I awoke and found the dawn was gray…

Grau mag der Morgen tatsächlich gewesen sein, das schwere Erwachen an der Seite von gleichgültigen Fremden. Die Nacht, in der Robert Sherard den Betrunkenen ohne einen Penny in einer Bar auflas, und mit sich nahm in sein Cottage weit ab der großen Stadt, wo Dowson sechs Wochen später starb, 32 Jahre alt, in jenem Jahr, in dem Oscar Wilde die Augen schloss, ein paar Monate vor dem Tod der Königin Victoria, und knappe anderthalb Jahrzehnte, bevor die Spannungen, die Europa ein halbes Jahrhundert lang ausgebrütet hatte, sich blutig entluden, und das Haus einstürzte, dessen feine Risse sich in den wenigen Seiten Lyrik als ein gewundenes, seltsames Muster von großer Schönheit darbieten.

Du fändest Ruhe dort

Nicht auf der Stelle, nicht in einem einzigen, stahlblitzenden, kristallinen Moment vergeht der Mensch, und auch das Sterben soll ein mühsames Geschäft sein, und das Totsein kann vielleicht erst recht eines werden: Auf einer langen Wanderung gen Hades vorbei an den grünen Himbeeren und den Feuern, die nicht wärmen, über den Styx in jene Sphären, von denen wir nicht wissen, um erst dort richtig tot zu sein und endgültig vergangen.

In dieses Zwischenreich zwischen Tod und Leben, das wir das Sterben nennen, hat Franz Schubert im Herbst 1827, nur ein Jahr vor seinem eigenen Tod, einen namenlosen Wanderer ausgeschickt, der die 24 Sterbestationen der Winterreise durchläuft und durchleidet, eine menschenleere Welt voll Eis und Kälte in dem blendendem Weiß, von dem ich mir vorstelle, dass es jene letzte Farbe ist, in der alle Farben der Welt einmal verschwinden. Vom romantischen Dekor, das noch die Welt der Schönen Müllerin 1823 verziert und die scharfen Schneiden der heißen, aus dem Überschwange tödlichen Liebe abschleift und rundet, ist dieser Zyklus frei, die Zeit und die Verzweiflung haben das warme Fleisch von den Zeilen geschält, und die Höhen ebenso abgeschliffen wie die weichen, ziehenden Melodien. Hier bindet kein schönes, grünes Band den Wanderer mehr an die Oberwelt: Nackt, aus leeren Augenhöhlen, lacht der Tod seiner Beute ins Gesicht.

Will er umkehren? Träumt er sich noch einmal zurück in die warmen, grünen Auen, ins Dur des Frühlingstraums? Hier wird kein Frühling mehr, hier schickt das barmherzige, warme Leben keinen Brief mit der Post, und ganz vergeblich fragt der aus der Welt Gewiesene, wann endlich er sein Liebchen im Arm hält: Nimmermehr, denn so krächzen die Raben, die die Singvögel nicht sind, von denen einer noch träumt.

Längst sind die Tränen zu Eis geworden, und hinter dem Wanderer schließen sich die Wege. Längst ziehen und locken die Zweige des Lindenbaums in den Frieden, und in dem scharfen, in seiner Schönheit schmerzhaften Gesang der Brigitte Fassbaender, in der scheinbaren Süße der Mitsuko Shirai hat der Tod schon die Augen aufgeschlagen und auf allen Wegweisern geht es zum Hades. Gnade sagt man jenem nach, der denen, denen er wohlwill, die Sinne verwirrt, aber es leidet, so schneidet es die Musik in die mitleidigen Ohren, der Wanderer auch an jenen drei Sonnen, die am Horizont erscheinen, als es schon fast dem Ende zugeht. Schon hat der Tod den Willen des Ermüdeten überwunden, schon ist nicht mehr die Rede von Blumen, wenn´s auch Eisblumen sind, schon ist die Liebe zu einer, die sich als Wetterfahne erweisen sollte, kein Ort mehr, der auch nur wirklich wäre. Das Obdach, das eine barmherzige Seele noch gewährt, vermag nicht mehr zu halten und zu heilen, der Totenacker, auf dem die grünen Kränze locken, zieht den Wanderer, und so lockt ein Licht schließlich den Wanderer dorthin, wo jedem einmal sein Gott gegenübersteht, und es ist doch dieser Hermes Psychopompos so erbärmlich wie einer nur sein kann, der doch ein Göttlicher ist, wenn auch barfuß und verlacht.

Schüchtern, sagt man, sei Schubert gewesen, und so tastend, wie wohl ein Ungeliebter, spricht sein Wanderer den Leiermann schließlich an und wird ihm folgen, wenn die Musik verstummt, und uns zurücklässt mit jenem mitleidigem Schmerz, dass nicht einmal der Tod ein sanftes Mädchenantlitz trägt, den Frieden der Abwesenheit auf die Lider zu senken, die die Krähen aus den Lindenzweigen fressen, und benommen, ermüdet von dem fremden Tod, verlassen wir den Saal, und es mag ein bißchen dauern, bis die Welt wieder warm und wirklich scheint.

(Mit Dank an Frau Sopran)

Aurelius Augustinus

Schon etwas abgeblüht ist das Römische Reich, schon etwas welk seine Kraft, und filigran sind die Hände geworden, die das Reich regieren. Die nervöse Üppigkeit des Orients hat sich schon so lange vermischt mit den derben Instinkten der Bauern, die vor Jahrhunderten ein Weltreich eroberten, und bringt nun Generationen hervor, die statt zu erobern – oder auch nur zu regieren – vergeblich etwas suchen, was jenseits der purpurroten, faulig-irisierenden Üppigkeit jener Jahre liegt, die wir die Spätantike nennen: Nur noch wenige Generationen, und die verästelte, spannungsreiche Hinfälligkeit dieser Welt wird unter den Schwertstreichen der Germanen verenden, und jener, der Mitte des 4. Jahrhunderts im Süden des im wesentlichen intakten Reichs geboren wird, wird am Ende seines Lebens in Hippo unter der Belagerung der Vandalen seine Augen schließen.

Die Jahre sind vorbei, in denen es die Fischer, die Armen, diejenigen vom Rande der Gesellschaft waren, die an die Geschichte von Kreuzestod und Auferstehung ihre Hoffnung hefteten. Längst schon hat der sterbende Kaiser Kontantin die Taufe genommen, das Konzil von Nicäa ist bereits Geschichte, aber noch ist das Christentum eine Religion unter anderen und noch sind es zumeist die Massen aus den Städten, die auf das Herabsteigen des Christus Salvator warten.

Aurelius Augustinus ist keiner von ihnen, aus der Provinz Numidien gebürtig hat er den Bildungsgang eines jungen Mannes aus gutem Hause durchlaufen. Christ ist er nicht. Seine Mutter Monica ist getauft, betet für ihn und seine Bekehrung, und das Denkmal, dass er der Monica im neunten Buch seiner Confessiones errichtet, ist wahrhaft monumentum aere perennius, das von seiner Lebendigkeit und Wärme nichts verloren hat über den Graben der Jahrhunderte.

Lange betet die Monica für die Bekehrung, denn jene lässt auf sich warten. Augustinus ist ein guter Schüler, ein begabter Student, dem die Erfolge zufallen, und der in dem dünnen, duftenden Blut des Zeitalters doch nicht findet, was er sucht. Die Säulen der Welt sind zweifelhaft geworden, der Glaube an die altrömischen Götter hat einer ihrerseits bereits ehrwürdigen Skepsis Platz gemacht, deren Gelassenheit und maliziöse Eleganz erst die Renaissance wieder erreichen wird. Die Schulen der griechischen Lehrer sind gleichfalls Jahrhunderte alt, und ob es der Müßiggang ist oder die Erkenntnissehnsucht, die Roms Jünglinge durch Griechenland treibt: Auch dieser Weg zu Wahrheit und Erkenntnis ist schon so lange beschritten worden, dass auch sein Scheitern bereits patiniert ist von denen, die Generationen zuvor zu Füßen der griechischen Lehrer saßen. Das Überraschende ist Kanon geworden, die Antinomien der Schulen zur Gewohnheit verkommen, und der Mund der Wahrheit spricht mit Greisenstimme zu seinen Jüngern. Eine große Klugheit liegt in jenem Achselzucken, mit dem die damalige Welt der Frage nach ihrem Innersten, nach Seinsgrund und Ziel allen Seins begegnet, aber brausende Wahrheit und Leidenschaft wohnt nicht dort, wo Augustinus sie sucht: Weder bei Cicero noch bei den Manichäern. Am Ende seiner Ausbildung in Karthago und Mailand ist er Hochschullehrer, hat in vielen Schulen die Erlösung von den Zweifeln gesucht, die ihn immer wieder überkommen, ist angesichts der Lücken und Brüche der Lehren stets weitergezogen, und hat die Wahrheit nicht gefunden.

Zum Grübler und Sucher jedoch wird Augustinus nicht, denn die damalige Welt mag auf schwankendem Grunde stehen, Genuss bietet sich einem, der Essen und Wein, Frauen und dem Theater zugetan ist, in reichem Maße, und so ist es auch die Forderung nach Keuschheit, die Augustinus lange von der Konversion abhält, als er, zermürbt schon von den Zweifeln und der Komplexität der Gedankengebäude, schon überzeugt auf die Taufe zuschreitet.

Von einer geisterhaften Kinderstimme schreibt Augustinus, die ihn zum Buch der Bücher hingezogen habe, und ob dies nun ein Bild sein mag, oder einer jener Zufälle, von denen die Welt lebt. Stimmig erscheint es in hohem Maße. Mehr als ein Jahrzehnt hat Augustinus nun nach Wahrheit gesucht, Komplexität gefunden, und er mag der Vielfalt der Wahrheit überdrüssig sein und müde des Suchens gleich den Tangenten, die Grund und Maß nie berühren. Augustinus wirft die Suche von sich: Das Lehramt. Die Suche nach dem wahren Wesen des Seins in immer feineren Differenzierungen. Der Glaube, dem Wesen der Welt mit den Mitteln des Verstandes nahe zu kommen. Ob er die in ihrer Schlichtheit fast rührende Geschichte vom toten Sohn des Zimmermanns glaubt? Ob er seine Wahrheit findet, und die Zweifel zerstieben?

Ob in jener Fama vom reinen Tor, der im unruhigen Jerusalem zwischen die Parteien gerät und umkommen muss, die Wahrheit des Augustinus liegt oder nur der entschlossene Wunsch, die Wahrheit gefunden zu haben: Augustinus entsagt, kehrt der unruhigen, grellen Welt des Altertums den Rücken zu und wird jenes Monument, als das er in den Hallen der una et sancta steht, die ohne ihn nicht wäre, was sie ist.

Die Nervosität jenes Saeculums am Ende einer Epoche, seine Farben und Menschen, seine Zerrissenheit, von der Augustinus sich abgewandt hat, wenden sich indes nicht ab vom Augustinus. In seinen Confessiones, viel gedruckt und zu wenig gelesen, steht sie noch einmal auf, die verwesende Welt des ausgehenden Altertums, die sich in jenem Geist konserviert hat, den sie enttäuschte, der sie von sich stieß, und der ihrem Zauber noch ex negativo nicht entkam in Sphären, die den Geist nichts nötig haben.

Und alle Winde müssen westwärts weh´n

Nach wie vor liegt weit im Osten Europas die Kleinstadt Brody, in der Joseph Roth 1894 geboren wurde, und ist doch gleichwohl untergegangen: Eine jener bröckelnden Schattenstädte der Donaumonarchie, die – im südlichen Polen und in der Ukraine gelegen – im verwaschenen Gelb mancher Amtsgebäude, in verwitterten Grabsteinen und sinkenden Herrenhäusern ein Andenken jener Zeit bewahren, der Roth entstammte, und die er neu und schöner erfand, um ihr geschminktes Abbild wie in Bernstein zu konservieren: Den ländlichen Adel Österreichs in der Schlichtheit und Treue der Freiherrn Trotta, die Sehnsucht nach dem Meer, die den Korallenhändler Nissen Piczenik adelt und letztlich verdirbt, weil es doch die weichen Stellen sind, an denen wir verfaulen. Die einsame Liebe in den Feldern, die bunten Röcke der Frauen, das Wogen der Felder – all das überglänzt und veredelt mit jenem warmen, goldenen Licht des glücklichen Traumes, das die Schlechtigkeit und Kleinlichkeit, die derbe Gier und den Suff der Bauern in der Schankstube nicht unterschlägt, aber mit einem weichen, schmelzenden Timbre versieht:

Sehnsuchtsorte hat Roth erschaffen, und hat jenes Brody doch schon vor der Matura verlassen, um westwärts zu wandern, immer weiter Richtung Westen, Lemberg, Wien, Berlin – einmal durch den Kontinent, weniger geographisch als auf jener geistigen Landkarte, um sich im verfeinerten, nervösen, unendlich filigranen Paris der Dreißiger schließlich totzutrinken als das Abbild jenes Österreichs, das er selber erfunden hat, auf dass es verwechselt würde mit jenem Ort, vor dessen Realität er geflüchtet war, lange bevor es an Kopf und Kragen ging.

Auch in den Romane Roths wird geflüchtet, was das Zeug hält: man flieht vor der Russischen Armee, man flieht vor der eigenen Vergangenheit, vor dem eigenen Schicksal, flieht aus Sehnsucht ans Meer, und landet oft bloß in jenen kleinen, abgewetzten Hotels, irgendwo zwischen dem Hotel Savoy an der Russischen Grenze und jenen Hotels in der großen Stadt Paris, die die schäbigen Provisorien der Heimatlosen sind, Rastplätze auf dem Wege zu jenen Gräbern, die kein Stein mehr deckt. Schauplätze von Abwesenheiten.

Hinfällig ist das Personal der Romane Roths, ermüdet von den Eindrücken und Anstrengungen eines Lebens, die auf eine oft gesteigerte Empfindungsfähigkeit treffen, die kein Ventil mehr in Aktivitäten findet: Die Liebe ist ein schwarzer, hoffnungsloser Ort, der weich und warm nur in der Sehnsucht scheint, um sich aufzulösen, greift man nach den Sternen. Familie als Ort der Geborgenheit gibt es nicht, einsam ist man, die Heimat ist verlassen und verloren, und getrieben von einer aus den Fugen geratenen Zeit wehen die weichen Helden des Roth´schen Kosmos durch ein Europa, das unter den Stößen dieser ersten Nachkriegszeit bebt und zittert. So überflüssig wie er war niemand in der Welt, heißt es vom Franz Tunda, der auf der Flucht ohne Ende zwischen Zentralasien und Russland, Wien und Paris einhergeweht kommt, 1927, und so erweist sich mancher Held Roths als ein nutzloser Mensch im bürgerlichen Sinne. Indes ist es ist nicht böser Wille, nicht das Fehlen von Begabung, sondern ein Zuviel, ein Zuviel an Phantasie, an Imaginationsfähigkeit, die die Helden dieses Kosmos ihren Nachbarn voraus haben, die das Meer nicht lieben, keiner fremden Frau verfallen, wie der Stationschef Fallmerayer, und überhaupt nicht jene überempfindlichen Nerven haben, die zu stark ausschlagen, um das ruhige Gemüt dessen hervorzubringen, der sich einrichtet in seiner Welt und mit Gott und den Menschen nicht hadern muss.

Nach Paris wie Franz Tunda, wie den Trinker Andreas, verschlägt es auch Roth selber. Berlin hat sich verschlossen in diesen Jahren, Wien ist das Wien nicht mehr der frühen Zwanziger, und jenes Wien schon seit Jahrzehnten nicht mehr, wie Roth es mit seinen süßen Mädeln und koketten, trägen Leutnants noch einmal weniger porträtiert denn formt. Müde sind sie geworden, die Gestalten jener Vorkriegszeit Schnitzlers, noch weniger robust, noch verlustiger jener rotbackigen Derbheit, die sich immer zu helfen weiß, und so verderben sich die Helden und Heldinnen töricht das wenige und kleine Glück, das noch durch ihre Hände fließt wie feiner, goldener Sand.

Nicht nur das Törichte aber durchwandert die Romane, das Böse selber hinkt graziös, elegant und schlank durch die Geschichten und sucht den Menschen zu verderben. Auch Jenö Lakatos, der Versucher, der Teufel, indes wirkt kraftlos, weniger elementar selbst als beim Zeitgenossen Thomas Mann, dessen ironischer Teufel körperloser ist, aber dem Grauen, dem Dunkeln näher als dieser Exponent der Hölle, der nur noch leicht, fast neckisch dorthin ziehen kann, wohin die Protagonisten mehrerer Romane ohnehin neigen, schwanken und schließlich versinken.

Die Widerstandskraft gegen das Verderben ist schwach bei den Figuren, denen wir zuschauen dürfen in jenen Romanen. Und schwach erweist sich auch Wille wie Vermögen Roths, dem Rausch, der Abwesenheit und der Flucht vor einer spitzen, klirrenden Wirklichkeit zu widerstehen, und so sinkt er denn, fällt nicht nur in Visionen eines noch einmal kaiserlichen Österreichs, sondern tiefer der Angst und der Heimatlosigkeit entgegen, bis Nerven und Körper 1939 der alkoholischen Betäubung nicht mehr standhalten.

In einem Spital von Paris, nur etwas über vierzig Jahre alt, stirbt Joseph Roth einer Welt zu, die in seinen letzten Büchern dem Traum und dem Märchen glich, golden glänzende Heimat, die sich einer erfindet auf lebenslanger Flucht.

Die Liebe der Penthesilea

Wer mit der S-Bahn nach Wannsee herausfährt, heraus zur Bismarckstraße, der kann beim Ruderclub den Weg zwischen den Eiben auch herauf laufen, und steht nur wenig später vor einem schlichten Grabstein. Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein, verkündet die Inschrift dem Wanderer an jener Stelle, an der im November 1811 Heinrich von Kleist die Unruhe der Welt per Pistolenschuss verließ: Ein grelles und bizarres Ende, die belanglose, zufällige Gefährtin, das ausgelassene Picknick im November am grauen See, und die Abschiedsbriefe, die voll der Würde und der Trauer dessen, der sich falsch ins Leben gestellt sieht, die Misere dieser 34 Jahre währenden Flucht noch einmal scharf beleuchten. Ein Ende, das dem Werk gut zu Gesicht steht, und, an einem sommerlichen Sonntag fast zweihundert Jahre später, etwas Tröstliches ausstrahlt, als habe der, der hier liegt, am Ende einen Frieden gefunden, der zwischen den zuckenden Gegensätzen seines Werkes wie in dem von stetem Ortswechsel und erfolglosen Ansätzen zu Tätigkeit geprägten Leben keinen Raum gefunden hat.

Der zerbrochene Krug, glaube ich, wird bisweilen aufgeführt. Vorm Prinzen von Homburg schreckt die Bühne offenbar ein wenig zurück, auch wenn dieses Stück Passagen einer reinen und schwerelosen Schönheit enthält, ein hastiger Tanz um den Tod herum, den der Prinz ersehnt, um dann wieder ängstlich zurückzuschrecken. Das Gewand von Pflichterfüllung und Kriegsruhm hängt nur lose um diesen Totentanz eines Getriebenen, und der Bühne vielleicht am Rosa-Luxemburg-Platz würde das Stück gut zu Gesicht stehen. Das Käthchen, nun gut, das mag für andere reizend sein. – Von den Novellen liest man die eine oder andere in der Schule zu einem Zeitpunkt, an dem die Kälte von Verhängnis und verderblichem Schicksal dem Leser noch fremd sein muss, und so entschwindet uns Kleist in einem Maße, wie es angesichts dieses todblitzenden, sehnsuchtsvoll eruptiven Werkes kaum zu erklären ist.

Gefällig mag der Tote nicht gewesen sein, der sich mit fast allen Freunden nach hastiger Annäherung entzweite. Körperliche Schönheit war ihm, den wenigen Abbildungen nach, nicht zu eigen. Ausstrahlung muss er besessen haben, und die Gabe, geliebt zu werden. Dass er, der keine Ehe eingehen konnte oder mochte, von der Liebe trotzdem mehr verstand, als es dem 19. Jahrhundert meist zu eigen ist, zeigt die Penthesilea, dieses großartige, brutale und lyrische Drama über die Liebe. Dass dieses Drama, voll der Schönheiten und einer tiefen Wahrhaftigkeit, den Weg auf die Bühne so selten findet, dass es nicht mehr geliebt, nicht mehr gelesen wird, kann ich mir kaum erklären.

Die Klimax des Verfallenseins, Stolz und Gier der Liebe reiner Ausdruck: Wie im vierten Auftritt Achilles schwört, nicht ins Lage der Griechen zurückzukehren, bis er Penthesilea erobert haben wird.

Doch müßt´ ich auch durch ganze Monden noch,
Und Jahre um sie frein: den Wagen dort
Nicht eh´r zu meinen Freunden will ich lenken,
Ich schwör´s, und Pergamos nicht wiedersehn,
Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht,
Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden,
Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen.

Wie Penthesilea den Kampf aufnimmt,

den einen heißersehnten Jüngling siegreich
Zum Staub mir noch der Füße hinzuwerfen.

Wie er sie unterwirft. Wie sie ihn lieben kann nur in dem Glauben, ihn ihrerseits besiegt zu haben. Die Unerträglichkeit des Irrtums, ihm unterlegen zu sein, das Losreißen aus der Verfallenheit, und schließlich das Dahinschlachten, die Rache für die Unterwerfung durch den Helden, der den Kampf herausgefordert hat, mit Hunden und Sichelwagen. Das Rasen der Penthesilea, der Donner rollt heftig, die törichte Verständnislosigkeit des Achilles, der glaubt, die Liebe der Penthesilea bewahre ihn vor ihrem Schwert. Er naht sich ihr, nur leicht bewaffnet, bemerkt den Ernst der Rasenden zu spät, und hebt die Händ´ empor, und duckt und birgt in eine Fichte sich, der Unglücksel´ge, den man auf der Bühne nicht bedauern wird, weil es Lohn genug sein mag, so geliebt zu werden. – Sie aber

…spannt, mit Kraft der Rasenden, sogleich
Den Bogen an, dass sich die Enden küssen,
Und hebt den Bogen auf und zielt und schießt,
Und jagt den Pfeil ihm durch den Hals…

Die Gewalttätigkeit der lodernden Liebe: Wie sie die Hunde auf den Sterbenden hetzt. Ihn mit Zähnen zerfleischt, ihn gleichsam aufisst,

Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend,
Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust,
Sie und die Hunde, die wetteifernden

Besser beobachtet gibt es die bewusstlose, blutige Ekstase nicht, die von der Liebe aus dunklen Gründen nicht zu trennen ist, gibt man sich dem anderen ganz preis: Mehr, als wir wissen, muss Kleist geliebt haben, denn allein aus der Imagination ist diese tiefe Erkenntnis kaum vorstellbar.

Das Finale schließlich, fällt schon deutlich ab: Der Tod der Penthesilea, die kalte Verzweiflung, dass die Erfüllung der Liebe auch stets ihr Untergang sein muss, und dann der Dolch und das jähe Ende. Besser, intimer, wahrhaftiger, hat das 19. Jahrhundert den Rausch der Liebe an keiner Stelle geformt. Die Besinnungslosigkeit der Begierde, den zerstörerischen Wunsch, einander vor lauter Liebe in Stücke zu hacken, und zu hoffen, dass die blutigen Brocken diesmal ein heiles Ganzes ergeben – kein zweites Beispiel der Literatur jener Epoche ist mir bekannt, in dem die schwarze, widrige Seite der Liebe so ergreifende, wahrhaftige Bilder gefunden hat.

Ach, und was es Tristes aussagt über uns und unsere Welt, die tieferen Schichten auf der Grenze zwischen Hell und Dunkel nicht auf der Bühne sehen zu wollen. Und so geht man denn, an einem sonnigen Sonntag, am kleinen Wannsee am Grab Heinrich von Kleists vorbei, lächelt der Unsterblichkeit, und lege eine schwarze Rose auf den Grabstein.

Die Niedrigkeit der Träume

Die Welt ist kalt und fremd, und der Mensch des Menschen Wolf. Und Glück und Schönheit sind stets eine Verführung zu etwas, was am Ende nicht gut sein wird für alle Beteiligten, aber schade ist´s schon um die Menschen, die Fassbinder vor unseren Augen zugrunde gehen lässt. Gesellschaftskritik mag man das schwitzende, übelriechende Panoptikum der verzweifelten Suche nach dem kleinen Glück kaum nennen, auch wenn es denn meist die Gesellschaft ist, an der man eingeht, sei´s die kriminelle Konkurrenz, seien´s die bösen Nachbarn, oder einfach die Verhältnisse der alten Bundesrepublik, die in diesen Filmen ein dämonischer Ort zu sein scheint, bevölkert von geborstenen, umgetriebenen Untoten mit Hosenträgern und Kittelschürze.

Weich sind nur die Träume und Schatten, die Liebe ist ein ferner Sehnsuchtsort zwischen feindlichen Reichen, über die der Gesang der wunderschönen Hanna Schygulla nicht siegen wird, und die schmierigen Finger des schlechteren Lebens drücken an den Träumen herum, bis die fauligen Stellen auch dieses Glück noch zerstört haben werden. Die Welt fordert Unterordnung, um die Folgsamen dann beiläufig und grausam zu bestrafen. – Die miteinander ihr Leben verbringen, werden sich gegenseitig zur Qual, und wer sich an Irm Hermann als Ehefrau im Händler der vier Jahreszeiten erinnert, wird dieses Bild ehelicher Discordia wohl kaum so schnell vergessen. Der Untergang der Liebe zwischen der alten Putzfrau und ihrem jungen Marokkaner, der Untergang der Effi Briest in einer niemals aufbegehrenden Demut, die man am Ende noch anschreien mag für ihre Vergebung, wäre sie nicht schon ganz und gar hinüber. Die ganze würgende Traurigkeit der Elvira „In einem Jahr mit 13 Monden“, senkt sich gerade im – gelungenen – Zitat auf die Lider: In Oskar Roehlers großartiger „Agnes“ nämlich: Durch die dicke Haut und das Fett der alten Republik platzen die Schäbigkeit der Verhältnisse, wie sie auch sein mögen, und die Gewalt. Keine schöne Welt ist das also, durch die Fassbinder uns führt, und warum, so fragen Sie sich, mag das Fräulein Modeste gerade über diese Filme schreiben, und plaudert nicht ein wenig über Rohmer oder die langen Nächte am Helmholtzplatz unter Sternen?

Warum ich, fernab der Wurzeln des verworrenen Lebens, abhold der Gesellschaftskritik, gleichgültig gegenüber jeglichem Realismus, den Fassbinder liebe, warum ich Filme einmal, zweimal, öfter gesehen habe, die quälen und auf der Haut brennen, mag sein, dass hier hinter der hässlichen Welt der untergegangenen Nachkriegsrepublik eine Eisenschmelze kocht und brodelt, in der alle Leidenschaften der Welt und eine überlebensgroße Sehnsucht lauern. Die ungeheuerliche Lebensfülle dieses Werkes, die Erkenntnis, dass hinter den glatten Dingen der äußeren Welt Abgründe von Schmutz und blutigen Tritten warten, dass alle Schönheit der Grausamkeit abgerungen ist, und zu ihr zurückfließen wird. Dass die Wahrheit hinter den Fassaden nur ein paar Worte, ein paar Gesten entfernt ist. Dass die ganze überschießende und brutale Vitalität des Sein im Banalen droht und lockt zugleich. Diese Angstlust, dass da noch etwas ist hinter den schwebenden Nächten, wird es sein, die in den Filmen bis heute flackert und bisweilen überquillt. Und diese Ahnung von den dunklen Seiten aller Leidenschaften mag es sein, die den Sog ausmacht dieser über vierzig Filme, die ich nicht alle kenne: Einen dreckigen Traum zu zeigen, ohne den ich nicht aufstehen könnte, morgen früh, irgendwann.

Zehn Jahre „Faserland“

Wir hatten sowas von nichts zu tun den ganzen Sommer. Wir lagen im Garten der Eltern eines Freundes am See, und ab und zu ging einer ins Haus und holte etwas Kaltes zu trinken. Ich lag auf dem Steg, war sogar zum Baden zu träge, und die Sonne hatte mir den Bikini strahlend weiß auf die Haut gemalt, weil ich monatelang kaum etwas anderes trug, bis die Schule wieder anfing.

Ich muss den „Mephisto“ gelesen haben, und mindestens ein Buch von W. S. Maugham, und die Erinnerungen der Lady Diana Cooper dazu, aber meine Erinnerung weiß das nicht mehr, nur in den Büchern steht auf dem Vorsatzblatt „1995“ und mein Name, weil ich damals Bücher noch Leuten auslieh, die sie dann nie zurückgaben.

Von der Ödnis der zeitgenössischen Literatur war ich so überzeugt, dass ich noch nicht einmal darüber nachdachte, und so werde ich Faserland trotz der emphatischen Empfehlungen von irgendeinem dieser längst verwehten Freunde skeptisch begonnen haben, die Füße im kühlen Wasser und langsam die Seiten umschlagend. An die Skepsis kann ich mich indes nicht mehr erinnern, nur noch an die Euphorie des Wiederfindens, die „Faserland“ bei uns allen auf dem Steg auslöste, denn es war unser eigenes Spiegelbild, unsere Traurigkeiten, der Ekel und der Überdruß und die Angst vor etwas Ungenanntem in der Gier. Vor unseren Augen wurde die Reise durch die Republik von Gosch auf Sylt bis Zürich zu einer Höllenfahrt, einem Panoptikum aus Einsamkeit und Verwesung, in dem der Tod in den Falten eines Lebens saß, das ein gutes wäre, wenn es denn nur auf die Umstände eines Lebens ankäme. Jenem namenlosen Erzähler, den Christian Kracht einen nüchtern anmutenden Bericht über eine Reise durch die übersättigte Republik schildern ließ, vorbei an der Hybris und der kalten Lust, umgeben von unendlich einsamen Menschen, waren wir durch eine Selbstreflexion überlegen, von der wir ahnten, dass sie uns nicht zu besseren Menschen machen würde, sondern nur zu abwechslungsreicherer Gesellschaft.

Das schmale Buch, keine 200 Seiten lang, war unsere Hymne, und ich las es auf der Stelle vier- oder fünfmal. Dass „Faserland“ aber unsere Sicht der Welt verändert hätte, war schon deswegen nicht wahr, weil es genau das ausdrückte, was wir schon jahrelang unausgesprochen gespürt hatten: Nicht jenseits der Gärten unserer Welt, sondern in den komfortablen Räumen unserer Kindheit und in jenen Kleidungsstücken, die eine Dauerhaftigkeit vortäuschten, die es nicht mehr geben sollte, brütete ein Untergang, dessen feine Erschütterungen wir spürten. Den Dingen unseres Lebens gab die Vorahnung dieser Vergeblichkeit ein fremdes und vorläufiges Aussehen, und dass ganz am Ende dieser Höllenfahrt in den Wassern des Bodensees nicht Reinheit und ein neues Leben wartet, sondern nur der sinnlose Tod eines Mannes, der ein „Jedermann“ sein könnte, wenn es denn Gott gäbe, erschien uns folgerichtig. Wir waren schon so weit ab von den Träumen eines neuen Lebens auf den Trümmern einer alten Welt, den unsere Eltern folgenlos geträumt hatten.

Ein Jahr später war keiner von uns mehr vor Ort.

Manchmal bekomme ich noch E-Mails von den Freunden vom See. Meistens sind es Umzugsmeldungen, und unentwegt ziehen die Freunde von einst durch die Republik. Viel weiß ich nicht mehr von ihrem Tun und Treiben, und kann nicht sagen, was sie treibt. Treffe ich den einen oder anderen, so erzählen wir uns ein wenig von unseren Leben, in denen alles da sein dürfte, was die Welt noch über ihre Lieblinge auszuschütten pflegt.

Aber zwischen den Sätzen beim Wiedersehen in Cafés, in der Stille der abgebrochenen Wortanfänge und dem kurzen Schweigen bei einem Treffen in Eile auf Flughäfen schwingt mit, dass die Welt auch jene Erwartung nicht enttäuscht hat, von denen dieses Buch einen ersten Schatten auf unsere Welt geworfen hat, die Ahnung, dass wir nicht mehr sein würden, als ein nervöses, feines Geäder auf einer langsam abgewaschenen Goldschicht, dahinter nichts als die Leere, die Einsamkeit und alle Häßlichkeit der Welt.