Familienalbum

Der vegetarische Hund

Über ihren ältesten Bruder sprach meine Großmutter nicht so gern. Der zweite unterrichtete Alte Geschichte an irgendeiner Provinzuni, schrieb dicke Bücher zur Verherrlichung der Spartiaten und war damit ein Gegenstand familiären Stolzes. Der jüngste Bruder wurde Strafverteidiger, was jetzt immerhin noch als halbwegs redlicher Beruf gelten kann, auch wenn man da zwangsläufig mit schrecklichen Leuten zu tun bekommt. Nur der vergötterte Liebling der Urmama, der Onkel P., wurde sozusagen gar nichts, sondern brach ein Studium der Romanistik ab, zog zu Fuß durch Ungarn und Polen, photographierte dabei – so sagt man – nichts als Heuschober und tote Schafe und wurde schließlich eine Art Lehrer. Weil auch damals staatliche Schulen nur Leute nahmen, die fertig studiert hatten, heuerte er an einer Freien Schule an und unterrichtete dort Kunst und Deutsch.

An dieser Schule war aus irgendwelchen reformpädagogischen Gründen der Fleischverzehr verpönt. Der Onkel P., behauptete meine Großmutter, sei nun lebenslänglich für blödsinnige Ideen nur allzu leicht entflammbar gewesen, stellte also auch auf der Stelle das Fleischessen ein und magerte – so sagt man – in kürzester Zeit so fürchterlich ab, dass die Urmama fortwährend Pakete voll von Schokolade und Gebäck an das Internat gesandt habe, wo der Onkel P. seinem pädagogischen Wirken oblag.

Nun ist es eine Sache, wenn ein erwachsener Mann auf Fleisch verzichtet. Anders sieht die Sache aber aus, wenn dieser Mann sich einen Hund kauft und diesen Hund fortan mit Gemüseresten, Haferflocken und Kartoffelschalen ernährt, denn der Hund als solcher ist bekanntlich eine Art Hauswolf, und Wölfe, wie man weiß, fressen eigentlich Fleisch. Man war also zutiefst beunruhigt im elterlichen, recht tierlieben Hause, und schließlich fasste man einen Beschluss. Der nächstälteste Sohn wurde mit Geld ausgestattet, begab sich an die Wirkungsstätte des Vegetariers, vorgeblich zu einem Besuch, und während dieser unterrichtete, begab sich jener zum Sohn des Hausknechts und beauftragte ihn mit der wöchentlichen Fütterung des Tieres mit Knochen, Pansen, Rüsseln und Schweinefüßen gegen ein geringes Entgelt.

Nun, die Zeiten waren schlecht und wurden kaum besser. Der älteste Bruder ging an eine englische Uni, meine Großmutter zog mit meinem Großvater nach Zürich, weil es da eine Assistentenstelle für einen hoffnungsvollen, jungen Altphilologen gab, und der Vegetarier wurde eine Art Hauslehrer in Ungarn. Also nicht so in Budapest, sondern mehr so in der hinterletzten Puszta, wo echte Wölfe wohnen, Analphabeten hungrig um die Häuser streichen und Briefe vier Wochen dauern, wenn sie denn überhaupt ankommen und nicht vom betrunkenen Briefträger hinterm Schafstall vergraben werden.

Diverse Jahre verharrte der Onkel Pauli in seinem ungarischen Kaff und zog mit der Familie, deren Kinder er unterwies, einige Male um. Man verlor sich gewissermaßen so ein bisschen aus den Augen. Dann aber war seine Zöglinge sozusagen gebildet genug, der Onkel P. bestieg einen Zug Richtung Westen und stieg Tage später am Wohnorte meiner Großmutter wieder aus. An einem Abend also klingelte es an der Tür, man öffnete, ließ den Bruder und Schwager hinein, und war nicht wenig erstaunt, als in seinem Schlepptau sich ein Hund – der Hund – in die Küche schleppte. Meine Großmutter überschlug die Jahre. Der Hund musste mindestens 17 sein, was selbst für eine mittelgroße Promenadenmischung ein stolzes Alter bedeutet.

Der Vegetarismus sei das Geheimnis der Langlebigkeit seines Hundes, behauptete der Onkel P., und meine Großmutter sah meinen Großvater streng an, der manchmal im falschen Moment die Wahrheit sagte. Nie, behauptete der Onkel P., habe der Hund auch nur einen Fetzen Fleisch verzehrt, und verdanke diesem Umstand neben seiner blendenden Gesundheit auch sein freundliches und ausgeglichenes Wesen. Ein echter Fortschritt in der Hundehaltung sei ihm mit der Entwicklung des vegetarischen Hundehaltungskonzepts gelungen, das zudem ganz gut in die kümmerlichen Zeiten passe, und er werde über seinen Hund und dessen Nahrung ein Buch schreiben.

Man nickte freundlich. Irgendwann bezog mein Onkel P. wieder eine eigene Bleibe. Der Hund kam mit. Und nicht wenig erstaunt war die Familie, als der Onkel P. irgendwann bei einem anderen Familienmitglied aufkreuzte, um Obdach bat, weil er dortselbst auf einem Vegetarierkongress sprechen werde. Das Anschauungsobjekt, nämlich sein vegetarischer Hund, sei natürlich dabei.

Man hat es ihm nie gestanden.

Kennste ein Kind, kennste alle?

Sie, meine Damen und Herren, sind vermutlich alle ziemlich unterschiedlich. Ich zum Beispiel komme mit sechs Stunden Schlaf aus. Ich kenne aber Leute, die schlafen Nacht für Nacht acht. Ich kann auch überall schlafen, auch wenn da Presslufthämmer betrieben werden oder Leute ganz laut schnarchen. Ich esse morgens nichts, andere haben nach sieben keinen Hunger mehr, na, und so weiter und so fort. Nur bei Kindern, da sollen auf einmal alle gleich gestrickt sein und gleich funktionieren.

Uns haben etwa, als der F. ganz klein war, alle gesagt, Kinder bräuchten regelmäßige Schlafenszeiten und müssten immer ganz gleich essen, singen, spielen und so weiter. Das sei zwar höllisch unbequem. Da müsse man aber durch. Andernfalls bekämen die Kinder Schlafstörungen.

Ich kenne diverse Eltern, die das eisern durchziehen. Der Koordinationsaufwand erscheint zumindest mir enorm. Da wird dann schon mal um halb sieben panisch ein Picknick abgebrochen und nach Hause gerannt. Ich kenne aber auch Eltern, die nie zu einem halbwegs regelmäßigen Tagesablauf gefunden haben. Wir sind zum Beispiel solche Leute. Und siehe da: Es klappt auch. Der F. isst manchmal um zwölf, manchmal um eins. Bisweilen geht er mit uns bis elf Uhr abends essen und schläft dann am nächsten Morgen bis zehn. Sein Schlaf- oder Essverhalten generell leidet darunter aber nicht im Geringsten. Im Gegenteil, der F. ist ein erstklassiger Schläfer und Esser. Das heisst aber nicht, dass die anderen Eltern spinnen. Das heisst vermutlich nur, dass ihre Kinder anders sind als der F.

Genauso beim Essen. Essen und Kinder ist ja ohnehin so eine etwas belastete Sache. Setzen Sie sich mal auf einen Prenzlberger Spielplatz und füttern ihr Kind mit einem Stück Schokolade. Sie werden schon sehen. Immer schießt irgendwo eine Mutter aus dem Unterholz, die zu berichten weiß, dass Kinder, die Zucker essen, alle hyperaktiv werden. Auch hier weiß ich aber: Für den F. stimmt das nicht. Der isst erstens viel lieber Schinken. Und zweitens hat ein Stück Kuchen auf ihn keinerlei aktivitätssteigernde Wirkung. Der F. ist aktiv, wenn es ihm passt. Und wenn nicht, dann wirkt auch ein Sahnebaiser keine Wunder. Gleichzeitig bin ich überzeugt: Es wird schon irgendwo stimmen, das mit dem Zucker. Bei anderen Kindern. Denn die anderen Eltern denken sich das vermutlich nicht aus. Die werden ihren Nachwuchs ebenso kennen wie ich meinen F.

Erst recht schwierig wird es bei den gesellschaftlich doch schon eher neuralgischen Punkten. Haben Sie schon mal einer überzeugten Hausfrau zugehört? Danach werden alle Kinder, die mit eins in eine Krippe „abgeschoben“ werden, um dort „verwahrt“ zu werden, einen fetten Hau und können sich eigentlich gleich beim Therapeuten melden. Diese Mütter haben auch immer ein Beispiel parat. Ich will nun nicht darüber spekulieren, in welchem Maße hier persönliche Lebensvorstellungen verteidigt werden. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass es das abschreckende Beispiel wirklich gibt. Es existieren vermutlich wirklich Kinder, die Krippen nicht mögen und nicht vertragen, weil sie nicht so sonderlich gesellig sind. Es arbeitet schließlich auch nicht jeder Erwachsene gern mit Kollegen. Ich kenne ausgesprochene Eigenbrötler, die sind eigentlich nur allein in einem Büro mit einer schweigenden Sekretärin richtig gut. Die waren bestimmt auch in Krippe, Kindergarten und Schule nicht so besonders zufrieden.

So zieht es sich durch alle Bereiche. Wie wird ein Kind trocken? Wie viel Strafe ist wirksam und ab wann wird man als Mutter zu gemein? Darf man vor seinen Kindern trinken, fluchen und über Dritte lästern? Ab wann gehen Kinder gern in Museen? Was essen Kinder eigentlich gern und wie viel? Wie viel Mediennutzung ist gut und verträglich, mit welchen Methoden und wann lernen Kinder am besten lesen, Klavier spielen und allein zur Schule gehen?

Jeder weiß, Erwachsene sind unterschiedlich. Nur Kinder, meint man, die seien alle gleich. Offenbar ist die Annahme verbreitet, Menschen entwickeln sich erst in der Pubertät auseinander. Jeder, der einmal eine halbe Stunde auf dem Spielplatz gesessen und den Kindern zugesehen hat, weiß es besser. Insofern: Machen Sie sich locker. Es gibt keine ehernen Gesetze im Umgang mit Kindern, die es im Umgang mit Erwachsenen nicht auch gibt. Fair sein etwa. Verlässlich. Aus Überlegenheit keinen billigen Profit schlagen. Ansonsten gilt: Probieren Sie alles aus. Lassen Sie sich nichts einreden. Im Zweifelsfall ähnelt Ihr Kind nämlich nicht dem Kind der anderen Leute, die so schlechte Erfahrungen mit Zucker und wechselnden Schlafenszeiten gemacht haben. Sondern Ihnen. Wem sonst.

Sozusagen gar nichts

„Wie habt ihr das gemacht?“, fragt mich die N. nach der Organisation des demnächst stattfindenden Kitawechsels des F. in eine verhältnismäßig nachgefragte Kita hier um die Ecke und breitet ihre Arme vorsichtig hinter ihrem Sprössling aus, damit er im Falle des Falles nicht von der Wippe auf den Boden fällt, sondern in ihre ausgestreckten Arme. Ihr gegenüber, auf der anderen Seite der Wippe nämlich, mache ich hinterm fröhlich wippenden F. genau dasselbe. Vermutlich sehen wir gerade ziemlich dämlich aus.

„Ach, gar nichts.“, wiegele ich ab. „Ihr habt den Platz jetzt aber nicht einfach so bekommen?“, bohrt die N. nach. Einfach so gibt es auch im verhältnismäßig gut versorgten Berlin nämlich keine Kitaplätze, zumindest nicht hier im Prenzlberg. Meine Freundin I. etwa fährt vom Kollwitzplatz jeden Tag nach Mitte, bringt ihr Kind weg, und fährt dann wieder in den Prenzlberg zurück. Dabei gibt es eine Kita gegenüber, die ihr Kind – aus welchen Gründen auch immer – aber nicht aufgenommen hat, und auch wir sind sind mehrere Monate täglich in eine ziemlich weit entfernte Kita gefahren, in der Kinder mittags Wurstgulasch essen, Väter tätowiert sind und Mütter manchmal Kopftuch tragen oder Nagelstudios wahlweise frequentieren oder betreiben.

„Habt ihr Elternarbeit versprochen?“, werde ich weiter gefragt, und verneine. Wir haben in diversen Kitas, die sich nie gemeldet haben, alles Mögliche versprochen, aber hier haben wir weder Kochen, noch Putzen, noch irgendwelche pädagogischen Beiträge in Aussicht gestellt. In dieser Hinsicht haben Juristen oder andere Bürobewohner nämlich ohnehin Pech. Wessen Eltern etwa Bildhauer sind oder Tanztherapeuten, der wird in Kitas, hört man so, immer ganz gern genommen und dann die Mütter oder Väter zu regelmäßigen Unterweisungen der lieben Kleinen verpflichtet. Da sind wir raus. Wer will schon, dass eine Rechtsanwältin mit den Fünfjährigen regelmäßig Schriftsätze schreibt?

Die N. wirkt unzufrieden. Vermutlich sucht sie gerade nach den richtigen Worten, mit denen man gute Bekannte unverfänglich fragt, ob sie die Kitaleiterin bestochen haben, wie teuer das war, und wie man das korrekt bewerkstelligt. „Wir haben jetzt also auch nichts versprochen oder so, wiegele ich präventiv ab, gebe aber zu, dass auch ich kurzzeitig intensiv darüber nachgedacht habe, wie man das macht und was wohl kostet. Glücklicherweise mussten wir uns nicht einmal dem Tribunal anderer Eltern stellen, die, wie wir gehört haben, in manchen Kitas die anderen Eltern vorladen, um sicherzustellen, dass die Eltern der anderen Kindern ganz genau so sind wie sie selbst.

Tatsächlich, unterstreiche ich nochmals, haben wir eigentlich gar nichts gemacht. Nur regelmäßig per E-Mail nachgefragt. Bilder geschickt, auf denen der F. besonders niedlich aussieht. Der J. hat sich mehrfach zur Sprechstunde der Kitaleiterin begeben, weil wir gehört haben, dass fragende Väter besonders sympathisch und irgendwie hilfebedürftig wirken. Mit Titeln und Berufen gewinkt, was wir ansonsten eigentlich nie machen und was uns entsprechend peinlich ist, und entschlossen jedes Unbehagen verdrängt, dass diese monatelangen Anstrengungen inzwischen so selbstverständlich sind, dass auch die N. sie locker unter „gar nichts“ subsumiert.

(Von der Anfrage am nächsten Tag, was der J. bei seinen Bettelzügen zur Kita denn so angehabt habe, will ich an dieser Stelle barmherzig schweigen.)

 

Frau Modestes Guide zu sehr entspannter Mutterschaft (1)

„Pah!“, sage ich, stopfe mir die Kissen wieder ordentlich in den Rücken und schenke Sekt nach. „Mutterschaft ist besser als ihr Ruf. Man bedenke nur einige wenige Regeln.

Zunächst: Überstürzen Sie nichts.

Ich weiß, es ist gerade modern, Studentinnen zum Kinderkriegen aufzufordern. Die hätten, so die Theorie, ja Zeit, und könnten nach dem Abschluss dann mit größeren Kindern ungestört arbeiten.

Jedesmal, wenn ich das lese, frage ich mich: Wie lang soll so ein Studium mit Kind denn eigentlich dauern? Bekommt die Studentin mit 23 ein Kind, schreibt dann (aber wo ist das Kind?) mit 24 eine Masterarbeit, fängt mit 25 an, bei Roland Berger zu arbeiten, während das Kind mit seinen zwei Jahren extrem selbständig morgens in die Kita und abends zurück radelt, während Mama von Montag bis Donnerstag beim Kunden … da haben wir es: Ein zweijähriges Kind ist mit den meisten Karrieren komplett unvereinbar. Es mag sein, dass ein Baby und ein Studium irgendwie vereinbar sind, aber die meisten Jobs sind es nicht. Zumindest die meisten Jobs, die irgendwas mit Geld und Macht, Leidenschaft und Feuer zu tun haben. Nun muss nicht jeder so etwas machen, aber wenn einen ein Kind im Studium auf Jobs limitiert, die bestenfalls 9 to 5 stattfinden, dann ist das für viele Studiengänge keine echte Alternative. Nicht einmal für Leute, die es nicht stört, mit 23 nur mit einem höllischen Organisationsaufwand ausgehen oder verreisen zu können, und die sich zudem ganz, ganz sicher sind, dass der Mann an ihrer Seite auch in zehn Jahren noch der richtige Mann sein wird.

Was das Biologische angeht: Es ist klar. Irgendwann ist Schluss. Aber so viel Zeit, fertig studiert zu haben und soweit gekommen zu sein, dass man selbst bestimmen kann, ob das Meeting um 10.00 Uhr oder um 18.00 Uhr statfindet, so viel Zeit hat man dann doch.

Sie brauchen einen richtig gut bezahlten Job.

Fragen Sie mal eine beliebige Gruppe Studentinnen mit 20, wie sie sich ihr Leben mit 35 vorstellen. Also so beruflich. Ziemlich viele Mädchen werden ihnen sonstwas erzählen von ihrem Beruf, der irgendwas mit Menschen, Tieren oder Kunst zu tun haben soll. Mädchen werden nämlich gern Tanztherapeutin. Oder studieren Kunstgeschichte. Oder werden Pädagogin.

Meine frühere Freundin (für Kenner: Die N.) hat eine derlei beschaffenen Berufswunsch tatsächlich und mit einigem Erfolg in die Tat umsetzen können. Sie hat damit annähernd nichts verdient. Ihr Mann verdient aber sehr gut. Als die Kinder kamen, blieb deswegen logischerweise die N. daheim. Eine Halbteilung der Elternzeit konnte sich das Paar schlicht nicht leisten. Solche Paare kenne ich nun viele. In fast allen Fällen bleibt es aber auch nach dem ersten Lebensjahr bei dieser Aufteilung. Sie ist – zumindest meistens – daheim. Er arbeitet auswärts.

Das geht so einige Jahre gut. Dann aber fängt einer – manchmal auch beide – an, sich schrecklich zu langweilen. Sie ist vielleicht inzwischen Mitte 40 und hat zehn Jahre nicht oder nur ganz wenig gearbeitet und sich zudem an einen Lebensstil gewöhnt, den sie aus eigener Kraft mit ihrem Studium nie wird erwirtschaften können. In diesem Moment kann sie also nur beten: Möge er sie nie, nie verlassen, denn nach spätestens drei Jahren endet die Unterhaltspflicht, und wenn er dann nicht mehr will, kann sie sehen, wo sie bleibt. Selbst in einer Stadt wie Berlin wird es dann schwer, sich in Prenzlauer Berg oder Wannsee zu halten. Insofern lebt es sich deutlich entspannter, einen Job zu haben, der gut bezahlt wird. Die meisten dieser Jobs hören sich, wenn man mir davon erzählt, auch irgendwie spaßiger an. Zudem ist es mit einem vernünftigen Einkommen deutlich unterhaltsamer, kleine Kinder zu haben. Man kann beispielsweise lange verreisen. Oder sich einen Babysitter leisten, wann immer man ausgehen will. Außerdem ist es gut, wenn man Kindergärten oder Schulen nur danach auszuwählen braucht, ob sie einem gefallen, und man wohnen kann, wo man will.

(Reiche Väter gehen natürlich, alternativ zum Job, auch.)

Vermeiden Sie Hebammen.

Kürzlich stand in der Zeitung, dass es das völlig überzogene Bild der detschen Mutter sei, das Frauen von Kindern abhält. Ich glaube das sofort. Wer wird schon unbesorgt Mutter, wenn damit die Forderung verbunden ist, sich stracks in eine Art Heilige zu verwandeln?

Anders, als ich es erwartet hätte, hat diese Metamorphose aber nicht erst dann zu beginnen, wenn das Kind da ist. Es gibt einen Mutterschaftskult, der mehr oder weniger mit der Nidation der Eizelle einsetzt, und die Hohepriesterinnen dieses Kults sind die Hebammen, die umgeben vom rosa Licht ihrer Salzsteinlampen sofrt anfangen, die unglaublichsten Verhaltensmaßregeln aufzustellen.

So ist für eine ordentliche Hebamme eigentlich jede Form von schulmedizinischer Medikation des Teufels. Nur die Homöopathie und so Kräuterzeug seien gut. Überhaupt ist die Schulmedizin in dieser Welt ein argwöhnisch betrachteter Gegenstand. Hört man Hebammen zu, so ist ein Krankenhaus etwas Ähnliches wie ein Schlachthof. Ich kann mir nicht helfen: Ich fand es ganz okay da, aber ich nehme ja auch keine Globuli und glaube nicht daran, dass es etwas bringt, wenn man einem Sorgenpüppchen seine Ängste erzählt, damit es sie mitnimmt. Oder zwecks Drehung eines ungeborenen Kindes in eine gute Geburtsposition zwischen den Zehen einer Schwangeren Räucherstäbchen abbrennen.

Geht es nach Hebammen, so gibt es außerdem eine ganz klare Hierarchie der Gebärenden. Ganz oben thronen die Hausgeburten. Dann kommt das Geburtshaus. Frauen, die im Krankenhaus ihre Kinder bekommen, lässt man noch mit Mühe gelten. Wer aber eine PDA, also so eine lokale Betäubung für untenrum, erhält, ist eigentlich schon des Teufels und wird nie eine ordentliche Bindung zum Kind aufbauen. Auf Kaierschnittmüttern zuletzt darf man getrost herumtrampeln. Eine gute Mutter hat keinen Kaiserschnitt.

Medizinisch ist das natürlich alles Quatsch. Da Hebammen aber eher an so eine Art Mystik glauben, als an – siehe oben – Medizin, reden sie allen Müttern, die sich darauf einlassen, einen hammerharten Versagenskomplex ein. Der setzt sich dann nach der Geburt nahtlos fort: Wer sein Kind nicht zwei Jahre stillt oder Beschwerden beim Zahnen mit Paracetamol und nicht mit Bernsteinketten bekämpft, kommt in die Hölle und hat es nicht verdient, ein Kind zu haben.

Sie glauben, das sei polemisch? Stimmt, aber es ist zu annähernd 100% wahr. Hier gilt: Halten Sie sich fern.

Fortsetzung folgt

Mach doch mal was mit Müttern

Das mit der Ernährung, sagt die an sich total nette Mutter, sei ja so schwierig. In einem Buch stehe dies und in dem anderen das. Sie versuche seit Tagen, das Institut für Kinderernährung oder so wegen Tofu und Algen anzurufen, aber der Professor gehe einfach nicht ran.

***

Natürlich erwarte sie nichts von dem Kurs, behauptet die eigentlich auch total nette Mutter und schaut ihren zehn Monate alten Sohn liebevoll an. Sie sei aber so verunsichert, da bringe sie es einfach nicht fertig, nicht hinzugehen. Sie fürchte nämlich in diesem Fall, dass sie ihrem Sohn nicht mehr in Augen schauen könne, wenn am Ende alle anderen Kinder gleich Muttersprachlern englisch parlieren würden, und nur ihr Kind spräche ausschließlich deutsch.

***

Die X. übertreibe es allerdings ein bisschen, sind sich alle beide total netten Mütter auf der Parkbank neben mir einig. So habe jene doch tatsächlich geweint, als ihre Tochter bei dem Babykurs von dem warmen Kartoffelbrei gegessen habe, in den man sie gesetzt habe, damit sie jenen sinnlich erfahre. Die Tochter sollte nämlich bis zum 1. Geburtstag voll gestillt werden. Nun habe sie den Kartoffelbrei aber so gern gegessen, dass die Mutter sich zurückgestoßen fühle. Das sei natürlich ziemlich albern. Die Ängste einer anderen anwesenden Mutter könne man allerdings nachvollziehen. Schließlich war der Kartoffelbrei wirklich gesalzen, der Kinderarzt sei nicht da, und nun habe die Mutter halt Angst.

***

Dass eine ihr vage bekannte Mutter die Bestechungskuchen für die Kitas von ihrer Putzfrau backen lässt, hält die wirklich extrem nette Mutter einer kleinen Tochter ebenfalls ohne Kitaplatzzusage für einen Skandal. Das, so sagt sie zornig, sollte man denen eigentlich mal stecken.

***

Eigentlich bin ich total gern im Büro.

Auszugsschmerzen

„Hoffentlich haut das hin mit dem neuen Bett.“, sage ich also ungefähr vor sechs Wochen und betrachte kritisch mein Kind. Kind F. aalt sich sehr zufrieden in dem kleinen Beistellbettchen direkt neben mir und sagt irgendetwas Undefinierbares, das klingt wie „Aaarp. Aaargh. Örrööö.“ Es hört sich irgendwie nicht nach Zustimmung an, fürchte ich. Ich wäre gern mal wieder allein mit dem J., aber der F. scheint den Wunsch nach separaten Schlafstätten nicht zu teilen.

„Hoffentlich haut das hin mit dem Durchschlafen trotz Jet Lag.“, sage ich ungefähr vorgestern, weil der F. trotz Rückkehr nach Berlin nach wie vor im Rhythmus der amerikanischen Westküste zu ziemlich blöden Zeiten munter ist. Nachts etwa schläft er zwar ordnungsgemäß ein, wacht dann aber um 3.22 Uhr auf, muss zu uns ins Bett geholt werden und schlummert erst eine halbe Stunde später wieder ein. „Das nervt.“, sage ich zum J. Der J. sieht das auch so.

„Hoffentlich klappt es heute.“, sage ich gestern zum J. und verpacke den F. sorgfältig in seinen neuen Sommerschlafsack. Dann legt der J. den F. in sein neues, separates Bett. Zwanzig Minuten später schleichen wir uns weg und gehen mit dem Babyphon bewaffnet bei der Bar gegenüber Wein trinken.

Als wir nach Hause kommen, träumt Kind F. selig und lächelt im Schlaf wie eine kleine, fette Putte. „Hoffentlich schläft er heute durch.“, sage ich zum F., und dann schlafe ich selbst. In meinen Träumen wandern lauter dicke Tiere im Gäsnemarsch singend durch eine sehr gelbe Sahara.

Um 4.00 Uhr morgens wache ich auf. Es ist irritierend still. Vorbei am selig schlummernden J. schleiche ich mich zum F. und schaue ins Bett. Mit offenen Augen, aber offenbar ruhig und zufrieden, liegt der F. auf dem Rücken und lächelt mich an. „Magst du trinken?“, frage ich ihn und verabreiche ihm etwas Milch. Drei Minuten später seufzt der F. zufrieden auf, schließt die Augen und schläft ein. Ich bleibe neben seinem Bett stehen und schaue ihn an. F. scheint selig zu schlummern. Ohne Baby im Arm schlurfe ich ins Bett zurück und lausche. Ich höre: Nichts.

Inzwischen bin ich hellwach. Leer klafft neben mir das Beistellbett. Zwischen dem J. und mir befindet sich nichts als Luft. Auf dem Rücken liegend ziehe ich die Beine an und schaukele ein bißchen hin und her. Dann stehe ich noch einmal auf und gehe zum F. Der F. schläft.

„Was ist denn?“, ächzt der J. schlaftrunken, als ich wiederkehre. „Weiß nicht. Ganz komisch ohne Baby.“, sage ich und versuche, wieder zu schlafen. Einen letzten Blick werfe ich auf die Uhr. Es ist 4.35 Uhr.

In drei Stunden, rechne ich mir aus, kann ich aufstehen und F. holen.

Was schenkt man einem Vater?

Mütter. Ja, Mütter sind leicht. Mütter mögen bauchige Dosen aus italienischem Glas für Kekse. Mütter mögen kleine, silberne, geflochtene Körbchen. Mütter mögen Kalender mit Photos aus englischen Gärten oder Seifen von Yardley oder Nagellack, der eine Spur zu extravagant ist, um ihn sich selbst zu kaufen, und wenn einem für eine Mutter – eine eigene oder fremde – nichts einfällt, kauft man eine Flasche Champagner. Weihnachten sollte man nur Mütter haben, denn Väter sind ein Problem.

Manchmal haben Väter immerhin eine Sammelleidenschaft. Der Vater vom T. beispielsweise sammelt Fayencen. Oder sie stellen den ganzen Keller mit einer Modelleisenbahn voll, für die es gar nicht genug Zubehör geben kann, wie der Vater der K. Manche Väter sind finanziell auch nicht so arg gut aufgestellt, die freuen sich dann auch über zwei Stangen Zigaretten, wie der Vater einer ehemaligen Kollegin im Referendariat, der sich von Geburtstagen über Namenstage bis zu Weihnachten hangelte, um durch Geschenke seiner fünf Kinder seine Nikotinleidenschaft zu befriedigen. Bei meinem Vater ist das aber alles nicht der Fall.

Immerhin liest mein Vater ganz gern und hört gern Musik. Leider kauft er sich das, was haben will, selbst. Ab und zu finde ich einen schönen und ziemlich überflüssigen Bildband über irgendetwas, was ihn besonders interessiert, den kaufe ich dann, aber dieses Jahr scheint es da nichts Neues zu geben.

Für technische Spielereien hat mein Vater schon eher etwas über, aber hier fällt mir partout nichts ein. Einen iMac will er sich kaufen, aber dafür braucht man eigentlich kein Zubehör. Mit dem Rauchen hat er schon vor 20 Jahren aufgehört. Wenn ich ihm Whiskey kaufe, trinkt ihm den meine Mutter weg. Was Schokolade angeht, isst er am liebsten Ritter Sport Voll-Nuss, die zu schenken jetzt nicht so wirklich den Charakter eines liebevoll ausgesuchten Weihnachtspräsents hätte.

Es ist fürchterlich.

Froh und munter (I)

Jedes Jahr ungefähr zu Allerseelen beginnt die Dame, die meine Schwiegermutter wäre, wären der J. und ich verheiratet, ausdrucksvoll zu schweigen: Sie fragt nicht, was mit Weihnachten ist, sie spricht nicht über Weihnachten, sie erwähnt anstehende Feiertage mit keiner Silbe, denn sie will den J. auf keinen Fall unter Druck setzen, Weihnachten nach Hause zu kommen. Der J. soll vollkommen freiwillig den ICE nach Hannover besteigen, um sich unter dem mütterlichen Tannenbaum verwöhnen zu lassen.

Der J. aber denkt gar nicht daran, eine Woche lang an den mütterlichen Butterfässern zu sitzen. Der J. fährt das ganze Jahr, Krawatte um den Hals und Pilotenkoffer in der Hand, durch die Lande, der J. möchte Weihnachten auf dem Sofa liegen, und zwar umgeben von engen, handverlesenen Freunden auf dem eigenen Sofa im Prenzlauer Berg und nicht in einem Dorf bei Hannover, wo alle zwanzig Minuten jemand fragt, ob es auch warm genug ist, ob der J. etwas trinken möchte, ob er vielleicht Hunger hat, und ob es nicht schön ist, so zusammen zu sitzen. Die Frage nach dem Hunger ist ganz besonders rhetorisch, denn alle zwei Stunden gibt es unheuerliche Mengen zu essen, die zu verschmähen als konkludente persönliche Beleidigung gilt. Die ängstliche Frage, ob das Zusammentreffen nicht ganz besonders schön sei, darf auf keinen Fall wahrheitsgemäß beantwortet werden.

Jedes Jahr ungefähr zu Christkönig hält es die Mutter des J. dann doch nicht mehr aus. Zart, so subtil wie möglich, lässt sie anklingen, sie wolle den J. Weihnachten sehen. Möglicherweise berichtet sie etwas zu nachdrücklich von der Nachbarin, die zehn Tage lang bei ihrer Tochter in München weilen werde, oder sie fragt nach, was meine Eltern Weihnachten machen. Meine Eltern – das weiß die Mutter des J. genau – fahren Weihnachten meistens weg, oft monatelang.

Irgendwann in der Adventszeit gibt die Mutter des J. sich dann einen Stoß. Wie es denn aussieht, fragt sie dann, und bevorzugt fragt sie mich. Die Anspannung bricht ihr aus jeder Pore, ich verfluche den Umstand, dass der J. keine Geschwister hat, die sich die Betreuung der Eltern zu Feiertagen teilen könnten und rede mich raus. Mir sei alles egal, sage ich, auch wenn das nicht stimmt. Der J. sei zuständig, gebe ich zu Protokoll, und lächele übeaus freundlich, weil es nicht schön sein kann, wenn sich die Verdachtsmomente häufen, der eigene Sohn umgebe sich Weihnachten lieber mit seiner Berliner Ersatzfamilie. Die Idee, dass der J. sich deutlich wohler fühlen würde, wenn seine Mutter Weihnachten mit mehr Gelassenheit und weniger Mahlzeiten angehen würde, leuchtet der guten Frau irgendwie nicht ein.

Schließlich bricht der J. ein und lädt seine Mutter zum Stephanstag ein. Seine Mutter ist ein bißchen geknickt, weil sie sich extensivere Zusammenkünfte vorgestellt hat, ich bin ein wenig ärgerlich, weil ich mir eigentlich überhaupt keine Zusammenkünfte vorgestellt habe, und um jede weitere Quelle der Anspanung auszuschließen, reserviere ich einen Tisch in einem Restaurant. Wenn dann das Essen nicht schmeckt, ist wenigstens keiner schuld.

Dass zwischen Realität und Ideal eine Lücke klafft, verdeutlicht die Mutter des J. in den nächsten Wochen telephonisch. So teilt sie mit, keinen Weinachtsbaum zu kaufen. Das lohne sich nicht, denn man sei ja ganz allein. „Aber ihr seid doch zu zweit!“, bricht es dann aus mir heraus. Schließlich haben auch wir als ein kinderloses Paar uns einen Weihnachtsbaum erworben. Das sei etwas anderes, schallt es aus dem Hörer. Na dann, denke ich mir und lege auf. Auch eine Gans solle es nicht geben, höre ich, sondern irgendetwas aus dem Römertopf. „Aber wir kommen ja am 2. Weihnachtsfeiertag zu euch und sehen dann den schönen Baum!“, zwitschert die Mutter des J. und läd das Zusammentreffen mit Erwartung auf.

Morgen früh werden die Eltern des J. nun erwartet. Wir haben einen Tisch bestellt. Die circa acht Stunden zwischen Ankunft und Essen hat man sich lang vorzustellen, sehr lang, eine bei genauer Betrachtung sozusagen der Ewigkeit nicht vollkommen unvergleichliche Spanne.

Journal :: 22.11.2010

Mit meinem kleinen Cousin und den Frauen lässt es sich nach wie vor nicht so gut an. Ein bißchen mag das an den Frauen liegen, die Sportlichkeit vielleicht mehr schätzen als einen sehr dünnen, sehr blassen, aber dafür ziemlich klugen Jungen, der gut Schach spielt, aber unglücklicherweise immer dann, wenn es darauf ankommt, einewenig vorteilhafte Figur mit leichten Artikulationsproblemen abgibt. Auch ist es generell wenig erfolgversprechend, sich ausgerechnet in seine Arbeitsgemeinschaftsleiterin zu verlieben, die die Anfänger-AG im Strafrecht unterrichtet, und auch wenn das Mädchen mit vielleicht 24 oder so nicht Dezennien, sondern nur ungefähr vier Jahre älter ist als der Kleine: Die Chancen stehen schlecht.

Dabei ist das Mädchen an sich sicherlich nicht dermaßen belagert, dass ein hartnäckiger Bewerber ganz aussichtslos bliebe. Klein sei sie, berichtet mein Cousin, circa 1,60 hoch, dabei auf reizende Weise pausbackig, angetan mit einem roten Mäntelchen mit weißen Punkten, gelben Gummistiefeln, und sie möge Frösche und Affen. „Affen!“, wiederhole ich, runzele ich die Stirn und überlege mir, was es wohl zu bedeuten haben mag, wenn ein Mädchen Affen mag. Möglicherweise, so kombiniere ich, ist man hier mehr dem Possierlichen zugewandt, als ich es für angemessen und geschmackvoll halte.

Von einem Freund hat mein Cousin bisher nichts gesehen. Das wundert mich nicht. Mädchen mit einer Vorliebe für Affen und Frösche sind jetzt vielleicht nicht so wahnsinnig gefragt, und dass kleine, dicke Frauen nicht so richtig hoch auf der Toplist der gefragten Damen stehen, weiß ich selbst aus langjährig-leidvoller Erfahrung. Auch die schwarzen Kirschaugen und die dunklen Locken, von denen man mir berichtet, reißen es da wohl nicht mehr so heraus in der Breitenwirkung, und so sitzt das Mädchen meistens mit einer oder mehrerer Freundinnen statt Heerscharen anbetender Kollegen in der Mensa. Seit mein Cousin weiß, wann sie Essen geht, sitzt er meistens in gemessenem Abstand auch an den Futtertrögen der Mensa Nord und starrt die AG-Leiterin so dezent an, wie das halt möglich ist, wenn ein Weltwunder in der Mensa sitzt und isst.

Weil das Mädchen offenbar kein Fleisch isst, isst nun auch mein Cousin vegetarisch für den Fall, dass sie sich vor Fleischessern ekelt. Kürzlich verzehrte mein Cousin also einen Blumenkohlbratling, als das Mädchen – ebenfalls mit einem solchen Bratling versehen – an ihm vorbeiging. Neben ihr ging ihre Freindin. „Hallo L.“, grüßte die AG-Leiterin. Mein Cousin würgte ein „Hallo!“ zurück. Dann starrte er auf sein langsam erkaltendes Essen.

Eine Tischreihe entfernt nahm das Mädchen Platz. Mein Cousin sah sich nicht um. Mit geschlossenen Augen verfolgte er jeden Laut des Mädchens, ihr Lachen, ihre Gespräche, das leise Schaben des Bestecks, und als sie bei der Quarkspeise angelangt war, stand er auf und ging langsam an ihr vorbei. Die Augen hatte er dabei immerhin wieder geöffnet. „Hallo L.“, grüßte das Mädchen nochmal, mein Cousin beschleunigte puterrot und mit heftigem Herzklopfen und wurde erst wieder langsamer, als die Mensa hinter ihm lag.

Es wird nicht einfach mit meinem Cousin und den Mädchen, stelle ich fest und gebe lauter gute, tantenhafte Tipps, an die sich nur hält, wer sie nicht braucht, wie ich mich vage entsinne.

Vom Paradies ein gold’ner Schein

In den Ferien, wenn sonst keiner frei hatte, kamen Schwesterchen und ich zur Oma. Wenn die Oma nicht da war, kamen wir zum Onkel. War aber auch dieser nicht verfügbar, weil die dazugehörige Tante zur Kur war oder verreist, oder weil man nicht zwei Schulferien hintereinander dem Onkel gleich zwei Mädchen zumuten konnte, musste wir zu den Tanten, die eigentlich Großtanten waren, also die beiden ältesten Schwestern des Großvaters, die eine Buchhandlung hatten, über der sie wohnten.

Besonders gut lief die Buchhandlung nicht. Man darf sich das nicht blitzend und gläsern vorstellen, da war nichts mit roten Sesseln und Regelmeter um -meter Lebenshilfe und Reisen auf drei Stockwerken bis nachts um zwölf. Die Buchhandlung meiner Tanten war ein einziger Raum, ein kleines Fenster zur Straße, eine Tür, vor der ein Glockenstrang hing, und dann rechts und links Regale und in der Mitte ein langgezogener Tisch. Ganz hinten stand noch ein kleiner Tisch quer, darauf war die Kasse. Es war so dunkel, dass den ganzen Tag das Licht brannte, und damit möglichst viele Bücher in das finstere Gelass der Tanten passten, hatten mein Vater und mein Onkel A. Regale bis zur Decke gezogen, vor denen eigentlich immer dieselben Kunden standen und sehr, sehr lange brauchten, um Bücher auszusuchen. Besonders viele Kunden gab es nicht.

Ob meine Tanten nicht an Dekoration glaubten, oder ob schlicht nichts mehr in ihre Bücherhöhle passte, ist nicht mehr aufklärbar. Das Schaufenster dekorierten sie jedenfalls ebenfalls ausschließlich mit Büchern, Neuerscheinungen meistens, und wenn es vom Verlag Photographien der Autoren gab, stellten sie die daneben, damit man sehen konnte, wie die Schriftsteller aussahen. Ich kann mich an keinen Ausgestellten konkret erinnern, aber in meiner Erinnerung rauchen sie alle Pfeife, und die wenigen Frauen sahen aus wie Loki Schmidt. Gelegentlich schnitten die Tanten besonders hymnische Kritiken aus der Zeitung aus und stellten diese neben das gepriesene Buch, falls ein Passant zwar in der Zeitung die lobenden Worte der Kritiker verpasst hatte, sich aber beim Spaziergang von den gedruckten Sirenengesängen von Reich-Ranicki, Joachim Kaiser oder Hilde Spiel verleiten lassen würde.

Besonders begeistert waren meine Tanten von dem wochenlangen Besuch von Schwesterchen und mir vermutlich eher nicht. Wer lange allein gelebt hat, umgeben nur von seiner ebenfalls etwas schrulligen Schwester, hat sehr jugendlichen Besuch oft nur für einige Stunden ganz gern. Der kindliche Appetit macht alte Damen Sorgen, und der Bewegungsdrang von Zehnjährigen ist für zwei alte Frauen, die niemals Fahrrad fuhren und nicht schwammen, einigermaßen schwer zu beherrschen. Anmerken ließen sie sich das aber nicht. Nur den Ermahnungen meiner Mutter war anzumerken, dass man über der Buchhandlung nicht genauso willkommen war wie woanders. Außerdem bekamen wir zu den Tanten richtige Geschenke mit, nicht nur ein paar Pralinen oder Taschentücher oder so, und irgendwann, der Besuch sollte besonders lange dauern, kaufte mein Vater einen Videorecorder. Das war teuer. Die Tanten hätten sich einen Videorecorder niemals gekauft. Ein vorhandener Videorecorder aber wurde genutzt. Man lieh Videos aus. Man nahm Filme auf, und als ich das nächste Mal erschien, nur für ein zwei Wochen, wie ich meine, lief der Recorder im Hochbetrieb.

Jeden Abend saßen die Tanten auf dem grünem Sofa in dem Wohnzimmer über dem Geschäft. Jeden Abend gab es einen Film, öfter auch einmal dieselben, wie ich wenig später bemerkte, denn das Repertoire war begrenzt. Heinz Rühmann war beliebt, den konnte man ständig sehen. Cary Grant war beliebt, galt aber in den Kreisen meiner Tanten als entschieden zu schön für einen Mann. Willy Fritsch mochten beide Tanten nicht ganz so gern wie Hans Albers. Ungeschlagen und in eigentlich jeder Lebenslage gern gesehen war Peter Alexander. Frauen dagegen mochten meine Tanten nicht so.

In der ersten Woche bei den Tanten saßen die Tanten und wir im Wesentlichen stumm auf dem Sofa und saßen schwarz-weißen Schauspielern beim Handkuss zu. Ab und zu gaben die Tanten spärliche Erklärungen der Handlung ab, erläuterten Schauplätze und ließen längst versunkene Namen fallen. Zu den abendlichen Filmen gab es meistens gebrannte Nüsse, Katzenzungen, Mozartkugeln und Saft. Die Tanten gönnten sich gelegentlich ein Glas Wein. In der zweiten Woche aber entspannten sich die Tanten. Abends gab es nun auch für mich ein sehr kleines Glas Wein mit viel Selters, und außerdem blieben die Tanten nicht länger stumm. Wenn gesungen wurde, sangen sie mit.

Irgendwo auf der Welt, sangen die Tanten, gebe es ein kleines bißchen Glück. Das aber, so entnahm ich dem Trio meiner Tanten mit Lilian Harvey, gebe es nur einmal. Das kommt nicht wieder, sangen die Tanten mit ihren nicht ganz sicheren Altdamenstimmen, und gingen gefährlich in die Höhe, wenn es zu schön war, um wahr zu sein.

Wenn ein junger Mann kommt, hätten meine Tanten vermutlich kaum gewusst, was damit anzufangen, auch wenn ich nicht ausschließen kann, dass sie mit ihm in den Himmel hinein hätten tanzen können. Ich bin ja heut‘ so glücklich, wurde ereignisunabhängig gesungen, auch wenn meine Tanten Renate Müller aus irgendwelchen obskuren Gründen besonders wenig mochten, doch schließlich hat Jede Frau irgendeine Sehnsucht.

Wenn aber der Film aus war, gingen die Tanten einsam zu Bett. Sehr leid taten mir die alten Damen damals, hellwach abends um zehn im Gästezimmer im Bett neben meiner schlafenden Schwester. Dass es doch unschön sei, von Kavalieren – Husarenuniform hin oder her – nur zu träumen. Besser müssten es Frauen haben mit einem echten, eigenen Mann zum Tanzen und Träumen, stellte ich mir vor, denn dass zum Träumen immer etwas übrig bleibt, hate mir keiner gesagt.