Tagebuchbloggen

Tagebloggen (16.10.18)

Ich bin gern nachts im Büro. Ich weiß, das klingt ein bisschen absurd, so nach jemandem, der sein Leben nicht vernünftig ausgefüllt bekommt, aber ich mag die Dunkelheit, die Ruhe  eines Bürohauses nach elf. Ich mag die Freiheit, die sich auf einmal ergibt, wenn es auch schon egal ist, wie lange man noch im Büro sitzt. Die Ideen, die einen anspringen, wenn man sich noch eine allerletzte Kanne Tee kocht und über den Hinterhof in Wohnungen schaut, in denen langsam die Lichter ausgehen.

Ich könnte heute abend Freunde anrufen und ausgehen. Ich könnte zu Hause auf dem Sofa liegen und lesen. Ich könnte einfach so den Ku’damm abwärts spazieren. Statt dessen stehe ich mit einer halb vollen Schale Tee in der Hand in meinem leeren Besprechungszimmer, schaue zu, wie die Straßenlaternen das Laub erglühen lassen in spätem Gold, und ziehe spät, sehr spät, die Tür hinter mir zu und fahre heim.

Tagebloggen (15.10.18)

Ich habe seit ein paar Wochen eine BahnCard 100. Leider war ich noch gar nicht so viel unterwegs, wie ich wollte. Aber schon die schiere Möglichkeit beflügelt mich. Wo ich überall hinfahren könnte. Wo Burgen stehen, wo man auf Berge klettern, an Küsten wandern könnte. Welche Städte schön und welche Freunde zu lange nicht besucht wurden. Ich will meinem Sohn Deutschland zeigen. Ich freue mich drauf.

Vorerst – und überhaupt eher häufig – fahre ich beruflich. Heute fahre ich zur Uni, ich unterrichte da nebenberuflich, und freue mich auf mein neues Semester. Anders als viele, die beklagen, was Studenten heute alles nicht könnten, bin ich begeistert von meinen Semestern. So engagiert, so klar und so offen war ich mit Anfang 20, fürchte ich, nicht, und ich freue mich, als ich einen Studenten aus meinem letzten Semester treffe, der in dem Fachgebiet promovieren will, über das ich spreche.

Nach der Vorlesung treffe ich meinen Doktorvater zum Kaffee. Ich habe an einer ziemlich gesichtslosen Uni in NRW studiert und seit ich denken kann, klagt alles über anonyme Massenunis. Ich kann das nicht bestätigen. Ich bin von Anfang an, seit den ersten Seminaren im 3. oder 4. Semester, großzügig gefördert worden, ich bin immer auf Gesprächsbereitschaft gestoßen, auf Menschen, die sich viel Zeit für mich genommen haben. Ich habe sehr gut und sehr komfortabel betreut mit einem Stipendium promoviert, war lange Mitarbeiterin und habe viel über Wissenschaft, über Gremien, über Menschen generell und über Büros gelernt, und lehre bis heute. Wenn ich heute an der Uni bin, dann komme ich heim. Uni ist, was man draus macht.

Tagebloggen (14.1018)

Vor zwei Wochen wollte Sohn F. in die Oper partout kein Hemd anziehen. Dann saß er in der Staatsoper in einem Langarmshirt, alle anderen anwesenden Kinder dieser Nachmittagsvorstellung des Freischütz waren feingemacht in Kleidchen, Samtblazern und Hemden, und der F. fühlte sich etwas unbehaglich. Am Sonntag um halb zehn steht Sohn also freiwillig vorm Schrank und knöpft sich umständlich ein weißes Hemd zu. Neben ihm liegt sein neues hellblaues Sakko.

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In der kleinen Feldsteinkirche von Schmargendorf wird der Sohn F. unserer Freunde I. und S. getauft. Wahrscheinlich ist er das letzte Baby im engen Freundeskreis, der pausbackige, kulleräugige Nachzügler, der im weißen Taufkleid über das Taufbecken gehalten wird.

Es tauft die Tante, Pastorin, deren drei Kinder in der ersten Reihe sitzen. Überhaupt laufen viele Kinder herum, die ihre eigene Party feiern und beim Essen in einem schwäbischen Restaurant auf dem Viktoria-Luise-Platz im Sandkasten sitzen, durch Blätter rascheln, einen toten Vogel finden und ab und zu atemlos ins Lokal gelaufen kommen, ohne sich ein einziges Mal zu streiten.

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Am Nachmittag fahren der F. und ich weiter gen Westen und treffen am S-Bahnhof Grunewald die C.3 aus Wien, die für einen Monat im LCB arbeitet. Es ist 24° C warm, die Wälder an großem und kleinem Wannsee ein Traum in Gold und Rot, der Himmel schwingt licht wie blaue Seide über den Villen am See, und im Wannsee springen klitzekleine Nixen aus dem lichten Wasser.

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Wusstest du, dass ich einmal in Heinrich von Kleist verliebt war, mein F.?

Tagebloggen (13.10.18)

Die Demonstration hört gar nicht mehr auf. Es ist sonnig, die Menschen lächeln, Kinder werden herumgetragen und ich bin so froh, dass die, die die Bösartigkeit und Engherzigkeit und Häme der AfD und ihrer Freunde teilen, viel, viel weniger sind als die, die sich ihnen als „unteilbar“ entgegenstellen.

Ich teile die politischen Ansichten der meisten Leute hier nicht. Einige halte ich sogar für absolute Spinner. Was mich aber mit allen, die hier mitlaufen, vereint: Niemand von uns will eine Politik, die Menschen nach ihrer Herkunft oder ihrem Aussehen unterschiedlich bewertet und behandelt, die Freundlichkeit nur weißen deutschen Gesinnungsgenossen vorbehalten will. So will ich niemals sein, so wollen wir alle niemals sein, und dass wir so viele sind, macht mich froh.

Viele Stunden dauert die Demonstration, aber ich biege nach zwei Stunden ab, denn der F. ist müde, und gehe mit ihm Essen. Später nehmen wir an einem Workshop teil, bei dem Kinder programmieren lernen, schlendern nach Hause und essen eine Waffel auf dem Heimweg, und als ich zuhause ankomme, ist es so spät, dass ich mich sofort wieder anziehe und zum Kino laufe und mit meiner Freundin, der J., Gundermann sehe, den ich mag, auch wenn ich ihn nicht verstehe.

Tagebloggen (12.10.18)

Letztes Jahr wurde unsere Babysitterin auf einmal krank. Es war etwas Chronisches, und nach einigen Rückschlägen mochte sie nicht mehr zu uns kommen, weil sie ab und zu einfach umfiel. Fortan gingen der J. und ich nur noch jeweils allein aus. Ab und zu war Sohn F. bei unseren Eltern, auf Kitafahrt oder bei Freunden, dann kamen wir auch mal gemeinsam vor die Tür, aber meistens ließen wir es im letzten Jahr jeweils allein krachen. Also natürlich nicht allein, sondern mit Freunden.

Die Babysittersuche gestaltete sich schwierig. Mit Kindern von Freunden war es ein bisschen schwierig, schließlich wollen die ausgehen, wenn man auch selbst ausgehen will, und man kam dann am Ende doch nicht zusammen. Am Freitag aber klingelte es, es erschien eine nette Dame Ende 20, für zwei Jahre in Deutschland halbwegs solides Deutsch, Pädagogikstudentin aus Syrien, und der J. und ich verschwanden in die Nacht.

Es war lustig. Wir waren im Watapas, einer Izakaya um die Ecke. Haben vor der Cantina Sant’Ambroeus Aperol Spritz getrunken. Sind bei Johnny im Sorsi e Morsi versackt, die Nacht war warm wie nie im Oktober, und als wir heimkamen, schlief der F. schon seit Stunden, wir hatten so lange am Stück miteinander gesprochen, wie sonst selten, viel gelacht, ein bisschen getrauert, die alten und die neuen Zeiten hochleben lassen, und es war jeden Cent wert.

Tagebloggen (11.10.18)

Heute ist der F. grantig. Der F. ist eigentlich fast immer guter Dinge, selten stur oder schlachtgelaunt, aber heute ist er müde, ein wenig gereizt und außerdem nervt ihn, dass er sein Zimmer aufräumen soll. Das macht er nicht gern, aber morgen kommt die Reinmachefrau, und die soll auch bei ihm saugen können.

Immer muss man nur müssen, mosert der F., als er endlich im Bett liegt in seinem roten Rennfahrerpyjama. Nie darf man, was man will, setzt er verbittert nach, und da tut er mir leid, der kleine Kerl. Nie darf er mal ein Wochenende über die Stränge schlagen, so viel Schokolade essen, wie er möchte, den ganzen Tag im Schlafanzug herumlaufen, nachts auf den Tischen tanzen oder ganztags zehn Sendungen mit der Maus hintereinander schauen. Die Erwachsenen dagegen, ja, die dürfen, wie sie wollen. Nicht immer, aber dann doch eben viel, viel öfter als die Kinder, und so verspreche ich dem F., der die Augen schon fast geschlossen hat, dass er am Samstag einen großen Tag erlebt, und als er lächelt, male ich ihm leiser und immer leiser aus, was für ein schöner Tag auf ihn wartet.

Tagebloggen (10.10.18)

In der Mittagspause gehe ich zum Friseur. Ich habe keine besonders komplizierten Haare, halt lang und dick und schwarz und ziemlich struppig. Ich habe auch keine besonders anspruchsvolle Haut, ich creme mit einer Creme für 3,49 und reinige sie mit einem Stück ordinärer Seife. Irgendwann wird sich das vermutlich schrecklich rächen, aber aktuell fühle ich mich eigentlich meistens halbwegs adrett, auch wenn im Spiegel beim Friseur eine ein wenig dickliche Frau in mittleren Jahren etwas verloren in dem blitzenden Salon sitzt und an einer Kaffeetasse nippt.

Vielleicht denke ich, sollte ich noch einmal etwas an meinem Aussehen ändern. Eine andere Frisur. Ich könnte abnehmen. Oder mich anders anziehen. Oder ich lasse mich mal beraten und schminke mich künftig richtig. Vielleicht sollte ich auch generell so etwas extravaganter werden, so, wie die hübsche Friseurin etwa, oder zumindest so damenhaft elegant, wie andere Frauen wie in meinem Alter.

Am Ende, weiß ich, werde ich nichts davon tun. Ich bleibe bequem. Ich fahre in meinem grünen Kleid auf dem Rad zu meinem nächsten Termin. Ich sehe mich in der Fensterscheibe mit wehenden, schwarzen Zotteln, und als ich abends heimkomme, finde ich mich total okay, so wie ich bin. Ich sehe nicht schön aus. Aber mir geht es gut.

Tagebloggen (8.10.18)

Die Tagung gefällt mir. Ich treffe in Hamburg ein paar alte und neue Bekannte, ich spreche mit meinem Kollegen, der morgen in Urlaub fährt, noch ein paar letzte Angelegenheiten durch und telefoniere nebenher mit allen möglichen Leuten, diktiere ins Telefon und verschicke E-Mails, buche Zeiten in eine App, auch übers Telefon, reserviere einen Flug über eine andere, speichere Unterlagen zu Akten und hinterlege schnell eine Idee in einer Plattform, bevor ich sie wieder vergesse. Die Zeitungen schreiben so oft, dass Leute sich vor der Digitalisierung fürchten, aber ich könnte weder mein Leben noch meinen Beruf so führen, gäbe es die Digitalisierung nicht, die mich fast unabhängig von Orten und anderen Leuten macht. Noch vor zehn Jahren war all das völlig unmöglich.

Apropos andere Leute: Auch auf dieser Tagung bin ich die älteste Frau. Wie oft im akademischen Rahmen gibt es ein paar Studentinnen, ein paar Doktorandinnen, und dann gibt es richtige Erwachsene, und die sind alle männlich. Ernsthafte Männer, so ungefähr in meinem Alter, mit Stirnglatzen, die Anzüge anhaben und über ernsthafte Dinge sprechen.

Wo, frage ich mich, sind eigentlich die anderen Frauen um die 40? Ging denen nach der Promotion die Puste aus? Sitzen sie irgendwo am Sandkasten? Haben sie irgendwann das Handtuch der Anwaltschaft geworfen und sind Richterinnen geworden? Vermisst die eigentlich keiner außer mir? Wieso wird die Frage, wie viele Frauen irgendwo sprechen, nur in meiner Internetblase diskutiert, aber in meinem echten Berufsleben spielt das gar keine Rolle? Frauen um die vierzig, ich vermisse Euch!

Nach der Tagung treffe ich die Herren Kid37 und Merlix. Wir lesen uns ungefähr hundert Jahre, der Abend schwappt in großer Gemütlichkeit hin und her, ich esse Fisch und trinke Weißwein, und als ich meinen Zug verpasse, nehme ich mir unkompliziert und schnell ein Zimmer in der Nähe des Bahnhofs (oh, gesegnete Digitalisierung!).

Tagebloggen (7.10.18)

Im Blumenladen bin ich die einzige Kundin. Es ist morgens um kurz vor zehn, die vietnamesische Floristin hält Blüten neben Blüten, zieht Blätter aus großen Vasen und plaudert ein bisschen über ihre beiden Kinder. Wir sind gleich alt, haben wir gerade festgestellt, aber ihre Älteste ist 22 und mein Sohn erst sechs. In Vietnam heiraten die Leute zu früh, sagt sie, und dass es ihr nie leid getan hat, ihre Kinder allein erzogen zu haben. Ihre Töchter studieren beide und sollen nicht so früh heiraten. Oder gar nicht.

Mit einem Blumenstrauß ist blau und weiß und stehe ich vor der Tür der J.2, um mit ihr Tee zu trinken und meinen Sohn abzuholen. Sie hat ihren Vater verloren vor ein paar Tagen, und wir sitzen am Küchentisch und sie spricht über ihre Eltern. Ganz am Ende im Heim seien sie etwas glücklicher gewesen, sagt sie, und ich frage mich, wie viele Frauen am Morgen ihrer Goldenen Hochzeit eigentlich noch einmal ihren Mann geheiratet hätten.

Die J.2 und ihre Kinder treffe ich den ganzen Tag wieder und wieder. Wir wohnen nämlich in einer Art Großstadtdorf, wir treffen immer Leute, sobald wir das Haus verlassen. Frühere Kollegen von dem J. oder mir, Schulfreunde, Studienfreunde, Eltern aus Kita oder Schule oder einfach Bekannte. Am meisten Leute trifft Sohn F., denn der kennt alle ungefähr 220 anderen Kinder der Schule und begrüßt alle paar Meter Kameraden.

Im Park stößt der F. wieder auf den Sohn der J.2, und mit ihm und einer Nachbarstochter ziehen wir weiter durch den Volkspark. Die Kinder laufen weiter, sind nicht mehr auszumachen, kehren zurück, streiten sich, vertragen sich wieder, und nachdem wir den M. und die M. mit ihren Kindern getroffen und über die Taufe bei gemeinsamen Freunden gesprochen haben, die nächsten Sonntag ansteht, gehen wir zu zweit mit der Nachbarstochter heim.

Bei uns sieht es schlimm aus. Der F. und ich haben mittags getuscht, alles liegt voller halbherziger Bilder, Malerlappen und Pinsel. Die Kinder verschwinden im Zimmer des F., ich koche Rindsgeschnetzeltes mit Steinpilzen und Reis, und als wir fertig sind, dusche ich den F., bringe ihn ins Bett und lese ihm die letzten Seiten seines Wikingerbuches vor, bis er auf meinem Arm schwer wird und einschläft.

Ich glaube nicht an Walhalla, flüstert er mir noch zu. Dann ist er weg.

Tagebloggen (6.10.18)

Wirklich, ich mag den Spreewald. Ich fahre gern mit dem F. unter den sich sacht verfärbenden Blättern hindurch, freue mich über seinen Jubel über die vom Biber angenagten Bäume, esse Gurken mit ihm und fahre sonnensatt mit der Bahn wieder mit ihm nach Hause.

In der Bahn legt der F. den Kopf an meine Schulter und döst ein bisschen ein. Wir lesen ein Buch über Wikinger, das dem F. gehört, und ich erzähle ihm, dass ich gerade ein Buch lese, das „Sechs Koffer“ heisst und von einer Familie handelt, in der alle denken, die anderen hätten den Vater an die Behörden verraten. Das klinge spannend, sagt der F., und dann freut er sich, dass er Gurken gekauft hat und mit zwei Jungen gespielt und eine Dönerbox gegessen hat: Der zweite Döner seines Lebens.

Vom Alex aus fahren wir heim. Der F. sollte eigentlich beim Babysitter bleiben, aber jetzt wird er bei seinem Freund N. schlafen, ich bestelle mir ein Taxi und hechte im letzten Moment in die Komische Oper. Es gibt Korngold. Die Tote Stadt, und ich vergesse wieder, meine Freundin M. nach ihrem Parfum zu fragen, das ich so gern rieche.

Ich mag die Musik. Ich mag den berückenden, spätromantischen Klangteppich, ich mag Sara Jakubiak als Marietta, und auch, wenn der Paul etwas zu stumpf und das Orchester etwas zu laut singt, bin ich fast enttäuscht, als der Vorhang fällt. Ich glaube, ich war zwei Jahre nicht im Theater, aber in die Oper kann ich eigentlich ständig. Und würde es der Welt nicht gut tun, es würde nur noch gesungen? Das Libretto allerdings ist der wüsteste überhaupt denkbare morbide Kitsch und von der größten, psychologischen Unwahrscheinlichkeit dazu.

Als ich heimkomme, liegt der J. auf dem Sofa. Es ist warm und schön, wir schlendern durch die Straßen und sitzen am Ende im Birra in der Prenzlauer Allee, essen Provolone und warmes Brot mit Öl, ich trinke ein Weizen vom Hops and Barley, und wenn man leise ist, auf dem Heimweg, kann man die Erde ruhiger atmen hören, wie sie es immer tut: Im Herbst.