Langsam, auch weil es dunkler wird, verschwimmen die Tage und Tageszeiten. Ich weiß nicht mehr, ob gerade Sonntag oder Dienstag ist. Den ganzen Tag ist es halb fünf. Und hinter mir und vor mir streckt sich die Zeit wie ein träges Tier mit staubigem Fell.
Am Abend gehe ich vor die Tür, atme kalte scharfe Luft und gehe irgendwohin, wo zumindest Bewegung und Lärm ist, der den Stillstand kaschiert. Nachts wogt die Zeit um die Füße meines Bettes. Ich lade mir Menschen ein, die mir von ihrem immergleichen Alltag erzählen, garniert mit Anekdoten. Irgendwo, gar nicht weit weg, feiern andere Erfolge, weinen über Niederlagen, verlieben sich und trennen sich wieder.
Was Männer wirklich suchen – wenn diese Verallgemeinerung überhaupt ihre Berechtigung haben sollte – liegt eigentlich auf der Hand. So bitter das ist. Und trotz aller Beteuerungen, Humor, Intelligenz oder sonstwas gebe den Ausschlag. Das ist nämlich alles nicht wahr.
Gibt es eigentlich überhaupt irgendeinen Mann auf Erden (oder zumindest in Berlin), der sich jemals von einer bildhübschen Bratze getrennt hat, um sein Leben sodann mit einer schlauen (optischen) Durchschnittsfrau zu verbringen? Ich kenne keinen, zumindest keinen, bei dem der Wechsel freiwillig gewesen wäre. Und wieso verstehen Männer unter einer „Mordsfrau“ immer eine Titelblattschönheit? Und warum treffe ich nie auf Kerle, denen die Enttäuschung nicht auf der Stirn geschrieben stünde, wenn sich ihr Freund mit meiner schönen Freundin oder noch schöneren Schwester unterhält, und er mit mir sein Bier kippen muss?
Nee, Frau Fragmente, wäre schön, wenn sich das ändern würde. Ändert sich aber nicht. Glaube ich nicht dran. Ist zu schmerzhaft, immer wieder drauf zu hoffen, und dann ist es doch…so.
Wochenenden, die damit enden, dass ich mir in der Badewanne fast den Hals breche, sollte es sowieso nicht geben. Immerhin der passende Abschlus zur „Langen Nacht der abwegigen Kurzfilme“ in der Volksbühne und dem Treffen mit einer der unangenehmeren Seiten meiner Vergangenheit (siehe unten). Immerhin hat mir beim Brunch heute morgen nur fast ein Kind auf die Schuhe gekotzt.
Schon schlecht war, dass ich zwanzig Minuten vor dem verabredeten Zeitpunkt da war. Ich sitze also auf einem muffigen Sofa und rauche. Als der Kellner das zweitemal kommt, um zu fragen, ob es schon etwas sein dürfte, höre ich mich selber erklären, dass gleich noch ein Freund kommt und ich dann bestelle. Der Kellner zieht wieder ab.
Als der angekündigte Freund endlich erscheint, beugt sich der Kellner erneut über den Tisch. „Na, da isser ja endlich.“, grinst der Kerl mich an. „Hast du lange gewartet?“, werde ich gefragt und verneine auch noch. Langsam wird mir unbehaglich, ich ziehe meine schwarze Stola enger um meinen Oberkörper, rauche noch mehr und verschütte promt etwas Bier auf meinem Rock.
Dann lobt er meinen Friseur, erzählt von einer Umstrukturierung in Ungarn und einer Ausgründung in Österreich, wuschelt sich durchs Haar, das etwas höher ansetzt als damals und fragt unvermittelt nach mir. Heiratspläne? Kinder? Job? Ich antworte brav, sage Biographie auf und er nickt reichlich unbeeindruckt. Schön denke ich. Mir reicht´s, denke ich. Und bestelle nach.
Er zeigt Photos von seiner Hochzeit im Sommer, bei der ich abgesagt habe. Seine Braut sieht gut aus, dunkel und geheimnisvoll mit riesengroßen Augen. Wir gleichen Erlebnisprotokolle ab, Theaterpremieren, Ausstellungen, Bekanntschaften, Städte, in denen wir waren und schließlich kommt die Rede auf jene Stadt, in die wir gemeinsam gefahren sind und die ich allein im Zug verließ. Es gibt ein Photo von mir vor dem Jugenstilbahnhof, ein paar Tage vor meiner Abreise. Lächelnd, vor dem Portal.
Aus Aberglaube, sagt er, sei er nie wieder in diese Stadt gefahren. So egal, denke ich mir, scheint es ihm also doch nicht gewesen zu sein, wie ich damals dachte. Wir vermeiden seine fürchterliche Mutter und meinen besten Freund, der ihn gehasst hat, und dem ich dieses Treffen noch fünf Jahre später verschweigen werde.
Als das Schweigen fürchterlich wird, stehe ich auf. „Soll ich dich heimfahren?“, fragt er, der mindestens so betrunken ist wie ich. Ich verneine, steige in ein Taxi und fahre nach Hause. Im Fond des Wagens fange ich an zu zittern. Es war damals richtig, gefahren zu sein. Aber wäre alles anders gewesen, seine Mutter, mein bester Freund, sein Ehrgeiz und meine Examenspanik, dann läge er morgen früh neben mir im Bett.
Wenn ich heute Nacht sterbe, liege ich nicht Wochen herum. Um von der Katze gefressen zu werden, habe ich zu viele Freunde, zu viele Gewohnheiten und nicht zuletzt zu viele Verpflichtungen. Aber wenn ich nächste Woche nach Würzburg, Trentino oder Bad Saarow umziehe, und dort in der erste Nacht in den neuen vier Wänden am Herztod verrecken würde, dann würden mich Leute finden, die ich nicht kenne, die mich nicht kennen, und für die ich nur eine fremde Frau wäre, die von ihrer Katze angeknabbert worden ist.
Und dann?
Wenn sich einer die Mühe machen würde, mein Leben zusammenzusetzen, die Dateien meines Rechners ein letztes Mal zu öffnen, die Nummern auf dem Mobile nochmal anzurufen, die Bücher und die Musik abzuschreiten – wie würde mich dieser posthume Besucher sehen? Stimmt das Spiegelbild? Bin ich identisch mit meinen Vorlieben, Beschäftigungen und Bekanntschaften? Ist „Ich“ die Summe meines sichtbaren Verhaltens, meiner Schuhe, der Texte auf dem Rechner, der gekauften und ungekauften Literatur, versehen mit einem Bewusstsein, dass „ich“ sagen kann ohne zu lügen?
Mein Glaube an die Existenz einer Seele als einer Art unveräußerlichem Mehrwert hat sich spätestens in dem Moment verflüchtigt, in dem ich nach einer unvermeidlichen Medikamenteinnahme ungefähr vier Wochen jemand anders war, und zwar jemand, den ich nicht gern kennen möchte. Zu einem undokumentierten Doppelleben bin ich zu schlecht organisiert, im übrigen ist Geheimniskrämerei ohne Not eine ziemlich ridiküle Sache. So sehr ich überlege, da ist wohl nichts. Die Summe aller Taten und Gedanken, dazu ein bißchen Blut, Haut und Haare. Ja, und die Katze natürlich.
Die Wohnung stand über Wochen leer. Ich hatte die Altmieter nicht ausziehen sehen, sie hatten sich auch nicht verabschiedet, nur an der Abwesenheit ihrer Fahrräder und der Stille über mir war der Wechsel zu bemerken.
Schließlich kamen die Möbelpacker, Sofas und Tische wurden durchs Treppenhaus getragen, und neue Fahrräder standen im Hinterhof. Der neue Mieter stellte sich vor. Traf ich ihn im Treppenhaus, lächelte er und grüßte, und manchmal hörte ich seine Schritte. Er zog Möbel über die Dielen, ihm fielen Gegenstände auf den Boden und manchmal schlugen nachts die Türen. Einmal traf ich ein älteres Ehepaar vor der Tür, der Mann mit Freizeithemd und senffarbenem Sakko, die Frau sorgfältig onduliert und mit einer schwarzen knautschigen Handtasche. Elternbesuch.
Dann wurde es kalt, mein Nachbar klingelte an der Tür und bat mich, seine Pflanzen zu gießen und den Briefkasten zu leeren.
„Wo fährst du hin?“, fragte ich.
Er wollte nach Indien, nicht zum erstenmal. Er erzählte mit weitausholenden Gesten vom Ganges, von der Grazie der Inder, halbverfallenen, urwaldzerfressenen Tempeln und lief die Treppe hoch, um Photos zu holen. Ich zog Wein auf, mein Nachbar sang indische Schlager und versuchte mit einer Müslischale vor meinem Gewürzregal die Gerüche Indiens zu mischen. Dann ging er und versprach ein Souvenir.
Lange Wochen wurde es still. Ich goss die Pflanzen, leerte den Briefkasten und las die NZZ. War ich auch nicht da, goss der nette Österreicher aus dem Erdgeschoss die Blumen im Dachgeschoss und meine dazu und konnte den ganzen Tag Zeitung lesen.
Dann hörte ich wieder Schritte. Etwas schepperte, ich hörte die Balkontür zuschlagen und wartete auf den Nachbarn, dessen Briefkastenschlüssel in meiner Schlüsselschale lag. Der Nachbar kam nicht.
Am dritten Tag ging ich hoch. Ein Fremder öffnete die Tür. Mein Nachbar, sagte er, wolle erst einmal in Indien bleiben. Er sei solange Untermieter. Ob ich wüsste, wo der Briefkastenschlüssel sei?
Ich habe ihm den Schlüssel gegeben. Ich höre ihn manchmal, er liest die NZZ und er fährt mit dem Fahrrad des Nachbarn, das ihm die Kinder aus dem Hinterhof zeigen mussten. Er grüßt nicht und er öffnet nicht die Tür, wenn ich klingele. Niemand von den anderen Nachbarn war seit seinem Einzug in der Wohnung.
„Das ist doch komisch.“, sage ich zum netten Österreicher und nehme mir ein neues Bier aus seinem Kühlschrank.
„Herzl,“ sagt der Österreicher in diesem fiesen Dialekt, der mit jedem Jahr in Berlin schlimmer wird. „Der Kerl hat den oidn Nachbarn in Indien derschlagt und sei Schlüssl mitgnomma.“, und öffnet das Bier mit seinen Schneidezähnen.
„Was du alles kannst“, sage ich und wir stoßen an und trinken.
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