Sträuße, doch die Blätter fehlen

Er kam nicht. Vergeblich wartete ich auf ihn vorm Kino, sah den Paaren hinterher, die stetig weniger wurden, und schließlich blieben auch die Nachzügler aus. Das Mädchen hinter der Kasse schaute mich an, zuckte fragend mit den Schultern, packte zusammen und verschwand. Ich schloss mein Rad vom Fahrradständer und fuhr die drei Kilometer bergan bis zu seiner Wohnung.

„Bist du da?“, rief ich in die dunkle Türöffnung. Die Wohnung blieb still. Das große Zimmer schien leer. Ich würde hier auf ihn warten, beschloss ich, setzte mich aufs Sofa, blätterte ein wenig in den Zeitungen, und ging eine kleine Weile später in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen, damals, als ich den Kaffee noch vertrug. Er saß unterm Tisch.

„Was tust du da?“, fragte ich. „Geh weg.“, sagte er, schluchzte auf, und drehte mir den Rücken zu. In Krämpfen zuckten seine Schultern, ich kniete mich neben ihn und streichelte ihm vorsichtig über die Arme. „Alles in Ordnung?“, fragte ich, obwohl sichtbar, spürbar alles ganz und gar nicht in Ordnung war. Als hätte ich mit meiner Berührung einen Hebel umgelegt, wurde sein Weinen lauter, den Kopf zog er zwischen die Beine und schrie etwas in den Jeansstoff, das ich nicht verstehen konnte. „Komm da raus!“, schrie ich ich an. „Mach das Licht aus.“, sagte er, und taumelte unter dem Tisch hervor. In der dunklen Küche standen wir uns gegenüber, mit einer Hand hielt er sich an der Kante der Küchenplatte fest, und die dunklen Haare fielen ihm glatt und ein wenig zu lang in die Stirn. Er sah an mir vorbei durch die Küchentür und fixierte irgendetwas, was ich nicht sehen konnte. Minutenlang standen wir uns gegenüber.

Vielleicht hätte ich ihn umarmen sollen an diesem Julitag vor fast zehn Jahren. Vielleicht hätte ich einfach gehen sollen, seinen Schlüssel auf den Tisch legen, und drei Treppen abwärts auf jeder Stufe ein Gramm Liebe liegenlassen sollen. Statt dessen schrie ich ihn an. „Nimm dich zusammen!“, brüllte ich, oder so. Vielleicht auch: „Ich will nicht, dass du so bist.“, was eine glatte Lüge war, aber auch das würde ich erst Jahre später wissen. An den lose an seine Seiten baumelnden Armen zog ich ihn ins Bad, schrie immer lauter, ich weiß nicht, was, und drängte ihn, der 1,90 Meter groß war und athletisch dazu, in die Dusche. Er sah mich nicht einmal an, als der Wasserstrahl kalt seinen Körper herauf und herunter fuhr. Nass und schwer hing sein Polo-Shirt an ihm, und von seinen Schuhen zogen braune Schlieren Richtung Ausguss. Er sprach kein Wort und sah den Schlieren nach, die heller wurden und schließlich aufhörten, das Wasser zu verfärben.

Irgendwann ging ich.

„Gestern ging´s mir nicht so gut.“, sagte er am nächsten Morgen, scherzte wieder, lachte mich ein bißchen aus, zog mich an den Haaren, die damals so lang waren, dass ich sie ihm einmal um den Hals wickeln konnte, und las mir vor. Am Abend machten wir Pläne, überlegten, wieder nach Sylt zu fahren, wo wir uns getroffen hatten ein paar Wochen zuvor, oder nach Rom oder überhaupt irgendwohin. Am nächsten Tag aber blieb sein Anruf aus, auch am übernächsten Abend hatte ich nichts von ihm gehört, und als ich eine Woche später vor der Tür stand, forderte er seinen Schlüssel zurück.

„Du saugst mir die Seele aus.“, sagte er, und schloss die Tür von innen. Viel später, Stunden später, stieg ich langsam die Treppen herab, lauschend, ob er mich nicht doch zurückrufen würde.

Die Tür aber blieb geschlossen.

24 Gedanken zu „Sträuße, doch die Blätter fehlen

  1. REPLY:

    Die Auswahl der Texte ist, Herr Booldog und Herr Bandini, gar nicht einfach. Ich habe wenig wirklich Lustiges in letzter Zeit geschrieben, fällt mir auf, und auch diese Sache gehört nicht zu den amüsantesten Kapiteln meiner Existenz. Und ja, Herr Burnston, da haben Sie recht. Wie man mit solchen Stimmungsschwankungen aber richtig umgeht, wusste ich damals nicht, und wüsste es heute ebenso wenig.

  2. REPLY:

    Gerade bei diesem Thema muß lustig nicht immer sein.
    Und im Zweifelsfall umarmen ist, glaube ich, nie verkehrt.
    (Ich war aber nicht dabei. Deswegen mag ich das im konkreten Fall nicht beurteilen.)

  3. REPLY:

    Liebe Frau Modeste, ich bin ja so ein Vorleser eher witziger Texte. Das ist kein notwendiges Kriterium für eine Lesung. Gar glaube ich, dass ihre Texte weit mehr nachhallen als die Meinen. An diesen Text werde ich mich lange erinnern und das ist viel wert. Ich wünsche mir den Text statt dem mit dem Hamster (obwohl der auch sehr gut ist!)

  4. Ich fühle mich an einen Eintrag erinnert, der nicht mehr online ist. Darin schreiben Sie, daß jemand zu Ihnen die gleichen Worte sagt: „nimm dich zusammen!“.
    Was das bedeutet, weiß ich allerdings nicht.

  5. REPLY:

    Ich mag den Hamster, aber der Text ist stilistisch vielleicht wirklich nicht besonders gut gelungen. Die Frau Engl hat aber – wie meistens – recht: Beide Texte handeln von Situationen, in denen das Abgründige der eigenen Umwelt einmal kurz den Rachen aufreisst, und ich vor dem klaffenden Schlund versage.

  6. REPLY:

    An diesen Beitrag habe ich gar nicht mehr gedacht. Aber Sie haben recht, zumindest diese Parallele besteht sicherlich, und in diesen (wie wohl den meisten) Fällen, bringt der Appell an die Disziplin im Umgang mit sich selbst, natürlich gar nichts. Man verkennt, wie groß der Bereich dessen ist, das zu uns gehört, ohne dass wir es behrrschen.

  7. Auf der einen Seite kann ich nur schwer verstehen, warum Frauen sich auf Typen mit offensichtlich außergewöhnlichen Stimmungsschwankungen – gerne mit Hang zu Depressionen – einlassen, sie vergöttern und auch nach schlimmsten Zwischenfällen immer noch zu Ihnen halten.

    Auf der anderen Seite ist das aber auch gut so.

  8. REPLY:

    Ich habe keinen Retterkomplex, und bis zu den Pforten der Hölle bin ich immer gern dabei. Ich habe mein halbes Erwachsenenleben mit Grenzgängern verbracht, mir jeden einzelnen auszureden versucht, und gleichfalls versucht, mir jeden ausreden zu lassen. Warum man doch immer wieder den Abgründen hinterherläuft, ist weniger eine Art Samariterkomplex, als die Suche nach etwas, was eben diese Menschen auch einem selber zutreibt: Die Sucht nach Intensität, nach einem Zustand, in dem man sich selber mehr spürt, als dies generell der Fall ist.

  9. … der Zustand, in dem man sich selber mehr spürt, als das generell der Fall ist.

    Und möglicherweise das Wissen oder zumindest ein Gefühl dafür, dass es nur besondere Menschen sein können, die einen dorthin bringen. Abgrund hin oder her.

  10. REPLY:

    Ich weiß es nicht. Die ganze Geschichte hat nur ein paar Wochen gedauert, und von diesen paar Wochen sind wir die Hälfte der Zeit unterwegs gewesen. Ich habe ihn nach diesem Ende völlig aus den Augen verloren, war erst im Urlaub, und habe ihn dann so gründlich vergessen, dass ich letzte Woche, als ich plötzlich ohne ersichtlichen Anlass an ihn gedacht habe, ein bißchen gebraucht habe, bis mir sein Nachname wieder eingefallen ist. Ich hoffe, es geht ihm gut. Google weiß nichts von ihm, das finde ich ein bißchen merkwürdig.

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