07. Juli 2022

Die Erzieherin weiß noch, sagt sie, wie der F. das erste Mal zur Schule kam. Tag der Offenen Tür, 2011. Nun ist der letzte Tag gekommen, er umarmt sie sehr herzlich, strahlt, verpackt alle seine Pullover aus dem Schulspind in zwei Tüten und dann gehen wir los. Die Grundschulzeit ist vorbei.

Auf dem Heimweg feiern wir ein bisschen sein Zeugnis mit einem Schokoladencrepe bei Ni Cho in der Hufelandstraße, sprechen darüber, dass er seine Lieblingslehrerin und die Freunde, die nicht mit ihm wechseln werden, vermissen wird, und dass er sich einen Schulrucksack wünscht. Und welchen. Bist du groß, denke ich, als er spricht, so halb sarkastisch und halb sehr ernst, und rede mit ihm über Boris Johnson und die Pandemie, über Paris und wie schade es ist, keinen Hund zu haben.

Was ich alles nicht gehabt haben werde, denke ich, als er gefleckt vom Sonnenlicht durch das Blattwerk der Platanen nach Hause läuft, aber was nützt all das und wo wäre es anders.

3. Juli 2022

Ist man klein, stellt man sich die Erwachsenen wie ganz andere, nur so halbwegs menschliche Menschen vor und ist dann sehr verlegen, wenn eine Lehrerin rote Augen vom Weinen hat. Oder eine ältere Frau am Küchentisch sitzt und der eigenen Mutter erzählt, wie verliebt sie ist. Dann wird man älter, stellt fest, dass Erwachsene in vielfacher Hinsicht Leute sind wie andere Leute auch, na, sieht man mal von ihrer verbeulten Physis ab, und geht davon aus, dass sie funktionieren wie alle. Also so inklusive „keine Lust aufzustehen“, Verlieben, Schüchtern sein, all das.

Dann auf einmal ist man so gut wie alt. Schüchtern ist man nur noch selten. Aber immerhin: Es kommt vor. Kann man noch, dieses schüchtern sein. Geweint habe ich aber inzwischen sehr lange nicht mehr, und eigentlich auch nicht mehr wegen irgendwas, was mich betrifft, sondern höchstens nochmal so wegen Bildern von sehr süßen Kindern, denen etwas Schreckliches zugestoßen ist. Und verliebt sein, verliebt sein kann ich gar nicht mehr. So ein vages Anfassenwollen, so eine leise Neugierde, wie dieser oder jener sich wohl anfühlt, dazu reicht es noch. Aber das hatte ja nicht mal vor vielen Jahren, als man sich noch verliebte, viel mit Verlieben zu tun. Und nun habe ich mich schon so viele Monate, ach: Jahre, nicht mehr verliebt. Vielleicht verliebe ich mich nie wieder.

In Limbo: 2021

Kaum etwas Zeitgenössisches gelesen im letzten Jahr, ich glaube, nur Adorján am Meer, Ciao hieß das Buch, den neuen Kracht und nun Stanišić, aber ach: Das war ja auch schon 2019. Wie die Tage, Wochen, Jahre, ineinanderfallen, als wären sie eins. Ansonsten viel Zwanziger, viel 19. Jahrhundert, viele Geschichtswerke, so etwas.

Gar keine Musik gehört, nur einmal in der Oper gewesen, nur einmal getanzt, als ich mit einem Hamburger Freund im Joseph essen war und die Köche und Kellner und Gäste auf einmal angefangen haben, auf Töpfen zu schlagen, auf Tischen zu tanzen und sich Arrak in den Mund zu gießen, als wäre es 2007, 2012, 2019, irgendein Jahr, in dem Nächte fließen, steigen, Wellen schlagen, um uns am anderen Ufer erschöpft und nass auf den Sand zu werfen.

Gegessen gut, kaum Sport getrieben, gearbeitet und Erfolg gehabt dabei, den Sohn sehr unmäßig geliebt und ihn trotzdem hoffentlich auch ein bisschen erzogen, an der Adria gewesen und Delphine gesehen, leuchtenden Himmel und Fels. Am Atlantik gewesen, an die Ostsee gefahren, die engen Freunde zu selten gesehen und die weiteren Freunde, die losen Bekannten gar nicht oder kaum. Ob wir uns neu kennenlernen werden, wenn das alles vorbei ist? Oder andere Menschen? Oder niemanden mehr?

Zweimal auf dem Sofa Kleider gekauft und an einem hängt noch an das Etikett. Ich glaube, ich weiß nicht mehr genau, wie ich aussehe. Rund um mich herum sterben Eltern, Leute kaufen sich Häuser am Ende der Welt, aber nur selten am Meer, und es wäre gut, wenn das alles mal endet, bevor dieser trübe Zustand unser neues Normal wird und wir zu Zwischenmenschen in einer Zwischenzeit, nach der wird kommen nichts Nennenswertes.

Normandie

Einen Tag vorm Urlaub schaue ich nach und erstarre. Oh mein Gott. Blonville sur Mer: 16° C und Regen für die nächsten zwei Wochen.

Wir haben zwar stornierbar gebucht, aber nicht so stornierbar. Also bis vor ca. einer Woche, nicht mehr jetzt. Außerdem haben wir keinerlei Alternativen. Traurig starre ich Regenkarten im Internet an, werfe alle Sommerkleider geistig aus den noch ungepackten Koffern, überlege, ob ich noch einen schnell einen Friesennerz kaufe und fange an, ausführlich zu nörgeln. Wieso Normandie, wieso nicht Südfrankreich, wieso fliegen offenbar alle anderen Eltern der Schulklasse furchtlos, nur wir fahren 1.000 km quer durch Europa.

(Ach, ich weiß nur zu gut, wieso)

Dann aber fahren wir los. Hannover, Vanciennes: Ach, wie gut schläft es sich in fremden Betten. Rechts und links wird Landschaft an uns vorbeigezogen wie grüne, schwarze, graue Kulissen, und dann sind wir da. Salzig ist Luft und schwer von Feuchtigkeit und Kühle.

Hallo, du Apfelgarten, spreche ich und die Apfelfee winkt mir zu. Du grüne Triften. Misteln im Baum, grauer, bewegter Himmel, unruhiges Meer. Irgendwo, weit hinter dem hellen Streifen Sand, schlafen Nereiden zwischen den Wracks und zucken im Traum. Da bist du da ja wieder, flüstern die Wellen mir zu und in meiner Hand atmen mir uralte Steine.

Wasserstand

Wenn eins nach einem Jahr Pandemie mal feststeht, dann das: Unter bedrängteren Umständen als meinem alles in allem verhältnismäßig komfortablen Leben wäre ich keine besonders angenehme Frau. Ich neige nicht nur dazu, selbst die maunzende Katze anzuschnauzen, weil ich schlecht schlafe und mir für Unmengen Arbeit der Ausgleich fehlt. Ich werde auch fürchterlich monothematisch und muss mir dann selbst sehr energisch ins Gedächtnis rufen, dass es wirklich schlimmere Schicksale als ausgefallene Urlaubsreisen, ein genereller Mangel an Ortsveränderung und bestelltes Essen gibt.

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Apropos bestelltes Essen: Mir schmeckt nichts mehr aus Schaumstoff und Alu und ich habe kürzlich eine Pizza nicht bestellt, weil ich die Vorstellung nicht ertragen habe, dass dann diese Pappschachtel tagelang in der Küche steht, weil der Müllraum voll war. Wenn ich irgendwo Essen kaufe, kann ich die – jüngst erstandenen – Glasschalen mitnehmen. Aber wenn ich bestelle, türmt es sich. Lieferando, Wolt, manchmal kommt auch ein Bote des Lokals selbst, und auch wenn ich das Essen umfülle, den Tisch decke: Nichts fühlt sich richtig an.

Ach, es fühlt sich überhaupt nichts richtig an.

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Dabei und alles in allem kann ich mich nicht einmal beschweren. Vermutlich können sich neun von zehn Bürgern dieser Welt gerade mehr beschweren als ich, aber, Teufel, was gäbe ich gerade für eine Nacht in der Stadt, einen dieser gläsernen Morgen auf einem Kreuzberger Dach, Gin und Gelächter, Aufbrüche, so eine raschelnde Geschäftigkeit am Flughafen, Hotelbettwäsche und das Meer.

Tagebloggen 14.02.2021

Mit der J. zehn Kilometer durch den gesamten Prenzlberg und Mitte spaziert, strahlender Schnee, Sonne, und sich über unser Gewicht und unsere Berufe und unsere Eltern und Katzen und überhaupt alles unterhalten und daran gedacht, dass ich die J. kennengelernt habe, als sie wenig später 30 wurde. Zu ihrem ersten Geburtstag, den wir gemeinsam gefeiert haben, habe ich ihr mit Freunden Weingläser geschenkt, und mindestens ein Faß oder mehrere in den 20 Jahren seitdem gemeinsam getrunken. Zu meinem 30. sich gemeinsam vor der Welt in Budapest versteckt, Geheimnisse erzählt, als wir noch welche hatten, und nun wird sie 50 und ich hoffe, wir können uns im November irgendwo vor der Welt verstecken und Kuchen essen und Champagner trinken und über Nichts lachen, weil wir mehr sind als die Zeit.

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Nach zwei Wochen ist der Sohn wieder in Berlin, der – frisch getestet und isoliert – die Großeltern besucht hat. Groß sieht er aus, mit einem ab und an schon so ganz leicht mokanten Zug um den Mund. Jetzt kann ich ihn auch nicht mehr für ganz kurze Momente hochheben und bin mir sicher, er läuft schneller als ich.

Tagebloggen 13.02.21

Wie ab irgendeinem Zeitpunkt im Leben alles auf etwas Vergangenes zurückweist. Wie das Transit nie ein Asia Restaurant in Mitte ist, immer nur der neue Laden, wo einmal der Eimer war. Die Ecke des 103, wo wir Hunderte von Abenden saßen, alles war orange, die Vase mit Schwertlilien, meine schönen Freundinnen und Verabredungen, die mir mal wichtig waren und heute fällt mir manchmal nicht mehr ein, dass es sie einmal gab.

Der Schnee aller Schnee meines Lebens.

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Die C. getroffen, 30 Minuten auf dem Bürgersteig gestanden, sehr gefroren, erzählt, sich gewünscht, einfach für einen schnellen Kaffee irgendwo einzukehren, den Nachmittag fließen zu lassen, aber dann doch weiter mit kalten Füßen.

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Im Internet schreibt eine Frau, wie sie sich ans Flirten mit Maske gewöhnen würde, und einmal mehr bedauert, dass ich gar nicht Flirten kann, so wie manche Kleinstlebewesen, die sich nicht bewegen, sondern nur bewegt werden, mit der Strömung schwimmen, und jede Flußbiegung, jeder Wasserfall geschieht ihnen und wird sie mal freudig, mal nur irritiert, zutiefst überraschen.

Tagebloggen, 8.2.21

Mit Freundin M. im frischen Schnee 9 km spazierengegangen, erzählt und an den Ohren gefroren und kurz traurig gewesen und viel gelacht und über ihren Geburtstag am Freitag gesprochen, und zuhause fällt mein Blick auf den Tisch und da liegt da wirklich die Geburtstagskarte, ich habe sie nicht verschickt und war für einen Moment tief beschämt. Ich habe ihr dann am Telefon geschrieben.

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Vielleicht aus Anlass des Kälteeinbruchs einen ungeheuren Suppenhunger entwickelt, drei Suppen in zwei Tagen, literweise Linsen-, Ramen-, Kartoffelsuppe, und ausführliche Phantasien von dampfender Mulligatawny Soup und Muschelsuppe mit Anis. Aber wie satt ich es habe, so etwas selbst kochen zu müssen.

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Den nächsten Urlaub geplant, bzw. nicht geplant, denn vielleicht mutiert das Virus ja noch paarmal und dann wird 2020 nur der Vorspann für eine Horrorserie 2021 gewesen sein, die sich gewaschen hat. Oder es schleppt sich einfach nur alles so fürchterlich vor sich hin, aber im Herbst sind die ganzen Hotels, die ich jetzt buchen würde, nicht mehr da.

Tagebloggen, 7.2.21

Tatsächlich etwas zugenommen und tatsächlich ist es mir zum ersten Mal in meinem Leben egal: Die Kleider, die spannen, wenn ich zunehme, trage ich gerade sowieso nicht. Anlässe, bei denen ich irgendwen treffe, dem nicht gleichgültig ist, wie ich aussehe, gibt es auch keine, und auf meinen einzigen Wegen ins Büro und durch die Stadt habe ich meine Daunenjacke an, in der jedes menschliche Wesen unabhängig von seiner Beschaffenheit aussieht wie ein Schlafsack.

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Eine E-Mail von einem Mann erhalten, mit dem ich wohl irgendwann einmal (zweimal, viele Mal?) ausgegangen bin und sich nun fragt, ob die ganze Sache nicht auch anders hätte ausgehen können, und zu schwanken, ob man nun ehrlicherweise antworten sollte, dass das vermutlich abhängig von Jahr und genauem Verlauf des Abends bei Betrachtung gleichgearteter Ereignisse durchaus der Fall gewesen sei, aber man trotzdem keine Ahnung habe, wer er eigentlich sei.

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Am Freitagabend ein Restaurantmenü aus dem Rutz Zollhaus bestellt, aufgebraten, erwärmt, angerichtet, und es einerseits sehr genossen, es zu essen, andererseits schmerzhaft vermisst, in einem Raum voller Menschen an einem gedeckten Tisch zu sitzen und andere Leute bringen einem dieses Essen, erklären, was man eigentlich isst, man bestellt Weine, beobachtet gemeinsam die anderen Gäste, lächelt Leute an auf dem Weg durch den Raum.

(Und trägt die Kleider, die gerade nicht passen)

Mach’s gut.

Sich zu verabschieden, zwei Schritte voneinander entfernt, und sich einen Moment in die Augen zu schauen. Es ist spät und ich ein bisschen zu angetrunken, um halbwegs souverän auszusehen. Unten wartet mein Taxi.

Es auf einmal zu bedauern, dass man sich nicht mehr einfach küsst, wenn man so erwachsen ist wie wir. Sich zu erinnern, wie einfach, wie bedeutungs- und schwerelos das mal war, kurz die Augen zu schließen, fremder Atem, der Moment, wenn die Lippen sich treffen, und es manchmal ein Stromschlag war und manchmal einfach nur warme Haut. Einen Lidschlag lang, eine kurze, beiläufige Berührung, oder ein langer Kuss, als wäre es der Beginn von irgendwas und nicht nur das Ende irgendeines Abends.

„Mach es gut.“, zu sagen, zum Taxi zu gehen und die Jahre zu zählen, die zwischen mir und der Leichtigkeit von irgendwann liegen wie schwarze Geröll und Schlacken.