Jaja, denke ich. Work-Life-Balance. Du arbeitest, um zu leben, sagst du, und nicht umgekehrt. Aber seien wir doch mal ehrlich:
Du sagst, du erlebst lieber was, als im Büro zu sitzen. Aber vielleicht hast du einfach nur den falschen Job. 35% der deutschen Arbeitnehmer empfinden ihre Tätigkeit als sinnlos. Rundheraus: Dann würde ich auch lieber auf dem Sofa Serien schauen, dann müsste ich wenigstens nicht raus und mir was anziehen. Aber abseits der Frage, ob du die Welt besser machst, wenn du arbeiten gehst: Ist dein Leben wirklich aufregender, wenn du frei hast?
Erlebst du, gesetzt der Fall, du bist ein Justitiar oder sonst so ein Büromann, auch auf deinem Sofa Königsdramen, weil Abteilungsleiter A. in den Vorstand aufrücken will, aber auch Abteilungsleiterin B.? Konspirative Treffen mit A.s Getreuen am Samstagnachmittag. Ein Wochenende lang überlegen, auf wessen Seite du dich jetzt schlägst, und immer hoffen, dass dein Einsatz sich auch lohnt, weil A. wirklich Chef wird und deinen Einsatz dann auch noch honoriert. Mehr Shakespeare gibt es in deinem Leben doch gar nicht. Oh, und dann der Schwerterkampf, wenn A. und B. – salomonisch beide befördert – in einem großen Meeting aufeinandertreffen und sich unterschwellige Agression langsam steigert und sich schließlich spektakulär entlädt.
Oder du, Anwältin, nachts um eins. Du hast noch 23 Stunden bis Fristablauf. Du bist weit, sehr weit, deine Argumentation ist eigentlich fertig, und du bist zufrieden mit der Schneise, die du in das Gestrüpp des Sachverhalts geschlagen hast. Du bist so konzentriert, wie es andere Leute nach jahrelangen Meditiationscoachings nicht schaffen. Du hast seit Stunden an nichts anderes mehr gedacht, als an diesen Fall. Du hast sogar vergessen, dass du Hunger hast und Halsschmerzen. Den Geburtstag von Tante C., den du abgesagt hast, gibt es gar nicht, du wüsstest gerade gar nicht, dass du Tanten hast. Du bist ein aufs Äußerste gespannter Bogen. Du schreibst und löschst und schreibst wieder, schreibst dich heran an den Kern der Sache, tastest jeden Satz der Gesetze ab, bis ihr Geist unter deinen Fingerkuppen sanft pulsiert.
Fährst du noch nach Hause? Vielleicht schreibst du durch, vielleicht begegnest du morgens um sechs den ersten, die ins Büro kommen, um sauberzumachen. Dann fährst du heim. Nie sieht die Stadt so sauber aus wie um diese Stunde. Der Horizont flimmert vor Licht und Müdigkeit, und in den Augenwinkeln schimmert die Stadt in Farben, die sie sonst keinem zeigt. Langsam lässt die Spannung nach. Es hat geregnet, bemerkst du. Und es ist kühl. Daheim ist alles dunkel: Wirst du jemals wieder so gut schlafen?
Die Liebe, sagst du. Aber wann sind Leute besser angezogen als im Büro? Und wo zeigen sie, was sie alles können. Wie klug sie sind, wie schnell, wie gerissen, wie freundlich. Wie hinreißend Klugheit sein kann oder Mut. Die langen Blicke über den Verhandlungstisch hinweg: So schöne Augen. Sich extra etwas Schönes anziehen, weil sich heute nachmittag die Arbeitsgruppe trifft. Späte Drinks nach Verhandlungen, und beiläufige Berührungen, denen weniger beiläufige folgen oder eben auch nicht. Oder nur manchmal. Sich über Jahre annähern zu können, statt die üblichen paar Dates, nach denen sich dann einer überwinden muss oder es wird eben nichts draus.
Wer im Büro nicht lebt, sage ich, der sollte mal darüber nachdenken, ob es wirklich reicht, morgens und abends ein paar Stunden zu machen, was er will. Und ob das, was er dann macht, wirklich das ist, was er am Ende eines Jahres auf die Habenliste schreibt. Ob man nicht etwas Besseres als den Tod an Langeweile vielleicht nicht überall, aber vielerorts findet. Und ob das Work-Life-Balance-Modell wirklich noch überzeugt, vergegenwärtigt man sich, dass die Zeit, die man sich in öden Jobs langweilt, am Ende des Lebens nicht nachgeliefert wird.