Der Urgroßvater, der Rechtsanwalt, die Großmutter und wir

Meine Tante M. – eigentlich meine Großtante – log bekanntlich wie gedruckt, und wer ihr glaubte, sagte meine Großmutter, sei selber schuld. Tatsächlich sei so gut wie alles, was diese Tante zu erzählen pflegte, unwahr, und was nicht unwahr sei, sei wenigstens gehörig übertrieben, und so wäre die gemeinsame Mutter niemals mit aufgelöstem Haar, die Hände ringend und kleine, spitze Schreie ausstoßend auf die Straße gelaufen. Niemals hätte die sehr reservierte Mutter dies getan, erst recht nicht auf dem Weg zum Rechtsanwalt der Familie, einem Herrn Dr. G., der, und immerhin dies sei wahr, sich späterhin allerdings als ein rechter Lump entpuppt habe.

Der Charakter des Rechtsanwalts allerdings interessiert uns eher wenig. Ob es denn tatsächlich unzutreffend sei, bohrte mein Cousin L. nach, dass jener Herr von der Urgroßmutter beauftragt worden sei, gegen ihren eigenen Mann, den Urgroßvater nämlich, ein Entmündigungsverfahren einzuleiten? Ein Verfahren, an dessen Ende die vollständige und allumfassende Geschäftsunfähigkeit stehen sollte? Ein gerichtliches Verfahren, über das die ganze Stadt gesprochen habe, wie Tante M. uns verraten hatte, die – im Gegensatz zu meiner Großmutter – sehr gern und mit erschreckender Ausführlichkeit, auch vor einem recht minderjährigen Publikum diejenigen Geschichten zum Besten zu geben pflegte, über die der Rest der Familie niemals sprach.

„Da gibt es auch nichts zu erzählen!“, rief meine Großmutter mit für ihre Verhältnisse entschieden erhobene Stimme aus und brach eine Tafel Blockschokolade derart bracchial entzwei, dass mein Cousin mir bedeutungsvoll zuzwinkerte. „Es gab also kein Verfahren?“, setzte der L. nach und steckte sich schnell ein paar Krümel der Schokolade in den Mund.

„Die ist nicht zum Essen.“, zog meine Großmutter das Päckchen vom Tisch und rührte in dem Milch-und-Sahne-Gemisch auf dem Herd. „Kein Verfahren?“, blieb mein Cousin fest und sah meine Großmutter durchdringend an. Es habe kein Verfahren gegeben? Die Tante M. sei nicht aus dem Radfahrverein gestoßen worden? Der Onkel F. nicht heulend aus der Schule gekommen, weil keiner mehr mit ihm schnipsen gewollt habe als Mitglied einer Sippe, deren Angehörigen das Spiel nicht bekam?

„Kinder sollen nicht soviel fragen.“, behauptete meine Großmutter und ließ die Schokolade vorsichtig vom Löffel in die Milch gleiten. „Also doch.“, nickte mein Cousin und bohrte weiter nach: „Tante M. sagt, er hätte Haus und Hof verspielt, wenn man ihn gelassen hätte, und am Ende war schon kaum mehr was da?“ – „Über Kranke macht man keine Witze.“, tadelt meine Großmutter und rührte entschieden die sich langsam schokoladenbraun verfärbende Milch.

„Ich mach‘ doch gar keine Witze.“, wehrte sich der L. und klapperte ein bißchen mit der Tasse. „Lass das!“, rügte meine Großmutter und nahm ihm die Tasse aus der Hand. Schwere Zeiten seien das gewesen, merkt sie an, und wir könnten froh sein, dergleichen nie erlebt zu haben. Wie man angeschaut worden sei, auf der Bank, und sogar die Zugehfrau habe ihr Geld ab sofort immer vor Vollzug bar auf die Hand haben gewollt.

„Und was er nicht verspielt hat, hat der Anwalt zur Seite gebracht?“, heischte der L. nach weiterer Bestätigung. Ingrimmig nickte meine Großmutter und kniff die Lippen aufeinander. Ein Schurke sei das gewesen, ein arglistiger Betrüger, der die geschäftliche Unerfahrenheit der Urgroßmutter ausgenutzt habe, sich schamlos zu bereichern mit der Vollmacht, die man ihm gutgläubig erteilt.

„Fertig!“, goß meine Großmutter die heiße Schokolade so heftig in beide Tassen, als könne sie den betrügerischen Anwalt darin ertränken, und drückte jedem von uns den Kakao in die Hand. – „Geht spielen.“, schickte sie uns, in der Hand die vollen Tassen, aus der Küche und war für weitere Auskünfte über den präzisen Geschehensverlauf nicht mehr zu haben, und so ist dies so gut wie alles, was ich weiß.

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