Bücher des Jahres (2)
Posdnychev, erzählt uns Tolstoj, hat sich nach oberflächlicher Bekanntschaft unglücklich verheiratet. Ständig streitet sich Herr Posdnychev mit seiner Frau, die er kaum mehr liebt, gleichwohl aber begehrt, und zeugt mit ihr ein Kind nach dem anderen. Schließlich übersiedelt die ganze Familie vom Land in die Stadt.
Dort – der einundsechzigjährige Tolstoj ist kein Freund des Stadtlebens – ist es dann ganz aus mit dem Eheleben der Posdnychevs, wie es sich der erzählende Eheherr vorstellt. Frau Posdnychev soll nach ärztlichem Rat keine Kinder mehr bekommen, und blüht, endlich und nach Jahren ohne Säugling an der Brust, wieder auf. Eine reife, üppige, nach wie vor schöne Frau führt uns Tolstoj vor, eine besorgte, wohl gute Mutter, eine den Attacken ihres Mannes hilflos ausgesetzte Frau, deren Zorn letztlich wohl nichts als eine Reaktion auf die auch für den Leser kaum nachvollziehbaren Launen ihres Mannes darstellt.
Als ein Herr Truchatschevskij auftaucht, ist eigentlich schon alles vorbei. Als habe Posdnychev nur auf einen Anlass gewartet, zieht er den neuen Bekannten förmlich an den Haaren zu seiner Frau, lässt beide allein, schafft Gelegenheit, wartet, umkreist seine Frau wie ein Greif seine Beute, und stößt schließlich zu. Mit der ganzen erzählerischen Meisterschaft des 19. Jahrhunderts legt Tolstoj uns die Hand um den Griff eines Dolchs, führt uns in die Wohnung der Eheleute, und lässt uns schließlich zustechen, links unter den Rippen, den Widerstand des Korsetts überwinden, und ihr das Fleisch zerschneiden, bis sie sinkt, blutet und stirbt. Mit blauen Schatten unter den Augen zeigt Tolstoj am Ende die tote Frau, am Bett ihr Mann und Mörder.
Einen widerlichen Kerl führt uns Tolstoj mit diesem Posdnychev vor, und lässt ihn zudem allein erzählen, unangenehm nah, gefiltert nur durch die dürftige Rahmenhandlung einer Zugfahrt. Schwer auszuhalten ist die Suada, in die er seine Geschichte einbettet, und auf die es Tolstoj ankam, wie es scheint, denn immer wieder führt er uns, führt er Posdnychev zurück zu seiner Lesart der Dinge.
Dabei ist es nicht die Eifersucht des Mannes, die uns anwidert. Kaum ist es die Raserei. Abstoßend ist vielmehr die Selbstgerechtigkeit, mit der Tolstoj seinen Posdnychev ausstattet, der – so will es der Erzähler – am Ende herausgefunden haben will, dass es die körperliche Liebe sei, die seine Ehe ruiniert und seine Frau umgebracht habe. Etwas reichlich Selbstgefälliges, Fettiges, hat Tolstoj seinem Geschöpf mitgegeben, wie es da sitzt, im Eisenbahnabteil und schwadroniert, etwas Rechthaberisches und gleichzeitig Heuchlerisches, denn wenn die Gesellschaft mit ihrer Akzeptanz der Leidenschaft schuld am Tod der armen Frau gewesen sein soll, so sinkt wohl die Verantwortung des Posdnychev im gleichen Maße nach dem Gesetz der kommunizierenden Röhren.
Dass der von Posdnychev vertretene Erklärungsansatz, die hohe gesellschaftliche Akzeptanz genossener Geschlechtlichkeit habe den Tod seiner Frau verursacht, nicht überzeugt, versteht sich fast von selbst. Dass abseits moralischer Fragen die fehlende Logik im Verhältnis von Ursache und Wirkung an dieser These nicht bereits 1889 aufgefallen sein soll, ist an sich unvorstellbar. Dass der Schöpfer von Posdnychev und seiner Frau dies nicht bemerkt haben will, wie aus einem 1890 verfassten Nachwort Tolstojs hervorgeht, streift das Unfassbare, und nur die Verblendung, die mit starken Überzeugungen stets einherzugehen pflegt, erklärt, dass Tolstoj offenbar tatsächlich der Überzeugung war, ein wirksames Plaidoyer für die Keuschheit verfasst zu haben, für die es gute Argument gibt, nicht zuletzt die Bequemlichkeit, kaum aber jene, von denen Tolstoj spricht.
Zudem kaum zu erklären und eine – sicherlich existierende – eigene Notiz wert ist der immense Eindruck, den der schmale Band bei Zeitgenossen hinterlassen haben soll. Mit der psychologischen Disposition, die diesen Erfolg verursacht hat, möchte man nicht gefrühstückt haben, und den Einfluss der Erzählung kann man sich zudem kaum als wohltuend vorstellen. Sollte allerdings neben diesem erzieherischen Effekt ein ästhetisches Vergnügen den Erfolg der Novelle mitbegründet haben, so wäre auch dies nicht absolut, aber relativ zu den anderen Werken des Autors nur bedingt nachvollziehbar, gleichwohl nicht völlig abwegig, denn gelangweilt habe ich mich tatsächlich keine Zeile dieses ansonsten – sofern dies auszusprechen verstattet ist – etwas ärgerlichen Buches.
warum nur bloggen in letzter zeit so viele über dieses schlimme buch? ich habe es unlängst gelesen, ich hatte es mit 19 schon gelesen, und ich fand es beide male erbärmlich zynisch. und so un-tolstoiesk.
Als mir vor 20 Jahren gebildete Russen erzählt haben, dass sie eine Aversion gegen Tolstoi verspüren, konnte ich ihr Sentiment nicht richtig nachvollziehen.
Als ich vor einigen Jahren las, was Tolstoi mit seinen musik-feindlichen Bemerkungen bei Rachmaninov angerichtet hat, war mir schon eher klar, dass ich ihn auch aus Schriftsteller nicht ernst nehmen möchte.
(Manchmal kommt mir Tolstoi als das Gegenstück zu Hemingway vor. Rein persönlich. Schreiben können sie, aber ihre Grundeinstellung ist mir mittlerweile zutiefst zuwider.)
Aber bei den Russen gibt es genügend andere Schriftsteller und Dichter, an denen man genug zu lesen hat.
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Das Interesse ist momentan vermutlich durch die Neuverfilmung von Krieg und Frieden geschürt.
REPLY:
Tatsächlich gehört Tolstoj zu denjenigen Autoren, deren Persönlichkeit mich abstößt, und deren Kunstfertigkeit einen nicht kalt lassen kann. Hemingway dagegen, Herr Steppenwolf, hätte ich gern kennengelernt, obwohl seine Bücher mich nie so berührt haben, wie etwa Anna Karenina.
Dass das aktuelle Interesse durch eine Fernsehverfilmung hervorgerufen sein soll, kann ich mir kaum vorstellen. Ich habe Plakate über dieses Ereignis gesehen, kann mir aber kaum vorstellen, dass so etwas wirklich zur Kenntnis genommen wird.
REPLY:
Zynisch? Eigentlich weniger. Man bedauert, dass Tolstoj sich nicht mehr zurückgenommen hat, und die Wirkung der an sich interessanten Geschichte durch die sich stetig wiederholenden Thesen schwächt.
Krieg und Frieden. Anna Karenina.
Man muss Tolstoi lesen, bevor er zum Moralisten und Volkserzieher wurde. Er hat immer mit sich gehadert. Wollte sich und andere bessern. Mit Hemingway hat er nichts gemeinsam.
Den Nobelpreis hat er abgelehnt. Er sollte ihn als Erster bekommen.
REPLY:
Damit kein Missverständnis aufkommt: ich will nicht Hemingway mit Tolstoi vergleichen. Die beiden befinden sich nur in der gleichen Menge von Personen, die ich absolut nicht schätze – obwohl ich ihre technische Fertigkeit anerkenne.
Statt Tolstoi lese ich viel lieber Dostojewski, statt Hemingway viel lieber John Steinbeck.
Aber bekanntlich lässt sich über Geschmäcker ja nicht streiten;)
REPLY:
Wenn mir auf Erden etwas fremd und zutiefst unsympathisch ist, dann der Drang, andere Leute zu bessern. Die Anmaßung, die darin liegt, dass Bessere erkannt haben zu wollen, und die damit stets verbundene Taktlosigkeit gehören zu den unverzeihlichsten Handlungen überhaupt.
REPLY:
Wenn es sich über irgendetwas zu streiten lohnt, dann doch wohl über Geschmack.
REPLY:
Tatsächlich? 🙂
@Steppenhund
Sieht aus als hätte ich es falsch verstanden oder nicht richtig gelesen.
Tschechov hatte, glaube ich, ähnliche Intentionen. Zumindest ist er teilweise an den Leuten, denen er helfen wollte verzweifelt.
@Modeste
Es kann schnell diktatorisch werden. Selbst, wenn die besten Absichten dahinter stehen.
REPLY:
Russen bedauern im Allgemeinen, dass Deutsche Gogol, Puschkin und Gorki zu wenig
lesen und wundern sich über den Stellenwert, den sie Tolstoi und Doszojewski
zuerkennen.
REPLY:
Diktatorisch war der christlich-pazifistische Anarchist Tolstoi nun wirklich nicht.
Eher ein Moralist, der das, was er vertrat, selber vorzuleben bemüht war, charakterlich
vielleicht einem Gandhi ähnlich. Er warnte schon Jahrzehnte vor der russischen
Revolution vor einem diktatorischen Sozialismus, der keine Alternative zum
Kapitalismus sein könne und lehnte beides ab. Mit ist dieser Mensch zutiefst sympathisch,
und in Werken wie „Kosaken“ oder den Nikita-Erzählungen schimmert eine tiefe
Menschlichkeit und Seelenwärme durch.
REPLY:
Entstand die Kreutzersonate nicht, weil Ludwig van Beethoven von Piraten auf einer
einsamen Insel ausgesetzt wurde und er daraufhin eine Sonate komponierte, die er
auf Kokosnussschalen von der höchsten Palme in alle Winde trommelte, bis ein Kreutzer
kam und ihn aufnahm?
@Che
Ich habe Tolstoi auch immer so gesehen.