Die kleine Schwester der H. sieht richtig gut aus. Wie die H. ist sie bestimmt 1,80 groß, sehr, sehr schlank, aber anders als die H. investiert sie dermaßen viel Zeit in ihr Aussehen, dass sie nicht nur ganz gut, sondern so phantastisch schön aussieht, dass allein ihr Herumgehen in Friedrichshain letzte Woche ausgereicht haben soll, einen jungen Mann ins Verderben zu reißen.
Man muss sich also die kleine Schwester vorstellen, wie sie irgendwo am Boxhagener Platz von der Bahn zu einer Verabredung geht. Rundherum ist alles so ein bißchen räudig, lauter Bars mit billigen, bunten Getränken zu Absturzpreisen, und die Jugend aller fünf Kontinente feiert den Sommer, die Ferien und die Sorglosigkeit vor dem 20. Geburtstag mit viel, viel Alkohol und noch mehr Lärm. Die meisten jungen Mädchen dort rund um die Simon-Dach-Straße herum kommen aus England oder Australien und sind ein bißchen zu dick und ein wenig zu ausgezogen, als dass man diesen Umstand übersehen könnte, und es mag sein, dass es der Kontrast zwischen jenen und der kleinen Schwester war, der das gute Aussehen der Schwester noch ein wenig vorteilhafter herausgestellt hat. Vielleicht war es auch die einbrechende Dunkelheit, die sinnenverwirrende Hitze zwischen den Häusern, mag auch sein, es habe der junge Mann auch schon ein wenig getrunken, jedenfalls kam er auf dem Fahrrad angefahren, starrte die kleine Schwester an und verlangsamte sogar ein bißchen. Ein wenig geniert (sagt sie) sah die kleine Schwester weg.
Für einen Moment verdeckte die Straßenbahn die kleine Schwester der H. Möglicherweise hielt der junge Mann in diesem Moment an, das weiß man nicht genau. Jedenfalls war er, dabei ist die Berliner Tram nicht schnell, noch auf gleicher Höhe, als die Straßenbahn vorüberfuhr und den Blick wieder freigab auf die andere Seite der Straße, die kleine Schwester und ihr gutes Aussehen. Noch immer, oder vielmehr erneut, starrte der junge Mann sie an. Immerhin kam er der kleinen Schwester nicht hinterher, sondern fuhr weiter, weiter, und schließlich vorbei.
Die kleine Schwester verlangsamte. Es ist nicht lustig auf zehn Zentimetern Absatz herumzugehen, nach einigen Minuten schmerzen die Ballen, die Riemchen schneiden ins Fleisch, und dann muss man sehr zurückhaltend auftreten, sonst tut man sich weh. Die kleine Schwester schlich also ein paar Meter vorsichtig die Straße entlang. Mit der einen Hand grub sie in ihrer Tasche nach ihrem Telephon, mit der anderen hielt sie die Tasche geöffnet, und weil sie auch in die Tasche schaute, denn vielleicht war das Telephon ja besser zu sehen als zu ertasten, sah sie nicht hin, als es plötzlich knallte. Der junge Mann war in die Straßenbahnschienen gefahren. Dann war er umgekippt.
Die kleine Schwester zögerte nur ganz kurz, bevor sie loslief. Zum einen kann man auf Sandaletten nicht richtig laufen, zum anderen meidet man möglicherweise Irrsinnige selbst dann lieber, wenn sie Unfälle haben und auf der Straße herumliegen. Die kleine Schwester aber ist gutmütig, überquerte die Straße und half erst dem jungen Mann und dann seinem Rad auf. Der junge Mann stand also neben ihr, klopfte seine Jeans ab, griff nach seinem leicht lädierten Rad, bedankte sich, stotterte ein bißchen und fuhr wieder los. Einige Meter später jedoch wurde er langsamer, kehrte um und hielt erst vor der kleinen Schwester wieder an. Ob sie …?, fragte er. Ob nicht. Oder ob? – Denn ein wenig peinlich war ihm das Ganze wohl schon.
Außerordentlich schön sei die kleine Schwester, erläuterte er seinen Vorstoß. Umgedreht habe er sich nach ihr, denn so schön seien regelmäßig keine Leute, die öffentlich auf Straßen herumgehen, und so sei er, das habe sie ja gesehen, beim Schauen des Weges verlustig gegangen, denn auf eins nur könne man achten, auf die Straße oder eine schöne Frau, und so hätten nun er und sein Rad jeder einen kleinen Schaden davongetragen. Kleine Schäden aber ziehe man sich nicht umsonst zu, mit kleinen Schäden bezwecke das Universum meist etwas, und in diesem konkreten Fall sei der kleine Schaden doch in offensichtlicher Weise zur Kontakaufnahme bestimmt gewesen, denn andernfalls wäre er längst jenseits der Frankfurter Allee und die schöne Schwester an einem ebenfalls anderen Ort. Dem Universum aber dürfe man sich nicht widersetzen, und so sei die Bekanntschaft fortzusetzen. Da aber schöne Frauen sich nicht auf der Straße mit wildfremden Leuten zu verabreden pflegen, sondern ein wenig Bedenkzeit benötigten, schreibe er seine Telephonnummer auf. Dann werde er warten.
„Und?“, frage ich die H. und bestelle noch ein Glas Ombrino. – Sie habe ihn wirklich angerufen, erfahre ich. Man sei verabredet auf Dienstag in der Mensa. „Dann hat er ja Glück gehabt.“, kommentiert der Dritte am Tisch den Bericht. „Kommt ganz darauf an.“, schüttelt die H. den Kopf und lacht. Ihre Schwester sei – mehr wolle sie dazu nicht sagen – ein wenig schwierig.
„Be my undoing, be my slow road to ruin …“
arboretum singt leise einen hübschen Songrefrain zur Nacht.
Es ist nicht lustig auf zehn Zentimetern Absatz herumzugehen, nach einigen Minuten schmerzen die Ballen, die Riemchen schneiden ins Fleisch, und dann muss man sehr zurückhaltend auftreten, sonst tut man sich weh.
Ein logisch denkender Mensch (also ein Mann) wird nie verstehen, wie sich jemand so etwas freiwillig antun kann und auch noch ein kleines Vermögen dafür ausgibt…
wirklich schöne frauen, die nicht schwierig sind, sind aber auch sehr selten. damit tröste ich mich auch ganz gern;-)
Ich würde mich mit niemandem verabreden, der was vom Universum faselt. Das finde ich ganz ganz übel. Aber die Geschichte ist trotzdem schön.
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Hierorts wird man oft und üppig vom Universum beliefert, wenngleich meist mit eher praktischen Dingen. Einen vom Universum gestifteten Kontakt sollte man daher nicht gleich ablehnen, denn mit der Einordnung als »Esoterik-Gefasel« wird man dem Phänomen m. E. nicht gerecht. Es geht doch im Grunde um »Open-Mindedness«, positive Weltsicht und situative Reaktionsschnelligkeit: Immerhin versuchte der Knabe mutig, der stattgehabten Malaise eine Wendung zum Guten zu geben. Das alleine scheint mir einer Belohnung würdig zu sein…
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Wobei manchem jungen Mann so ein richtiger Reinfall gelegentlich gar nicht schlecht zu Gesicht steht, aber wir wollen es ihm nicht wünschen.
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Logisch denkende Menschen – also Männer – gehen natürlich ohnehin nicht zu Fuß, sondern sitzen wohlbehalten in ihren riesigen Blechkisten, die (auch in Berlin Mitte) zumindest theoretisch in wenigen Sekunden von Null auf Hundert beschleunigen.
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Vieleicht wird aber auch umgekehrt ein Schuh daraus: Wäre man schön, man würde es sich auch leisten, ein wenig schwierig zu sein.
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Ich bin ja auch ein wenig misstrauisch, was dem Universum zugewandte Positiv-Denker angeht, aber in meinem Alter kommt mir eh keiner mehr mit dem Universum.
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Also ich sitze dann schon lieber auf meinem Stahlroß als in der Dose.