Die Welt dieses wohl berühmtesten Romans der Colette ist 1914 untergegangen. Es gibt die Belle Epoque nicht mehr mit ihrem geschliffenen Kristall, ihren gefältelten Vorhängen, den Fauteuils aus gelber, grüner, granatroter Seide, ihren üppigen Kissen und Chinoiserien und den verschlungenen, haarfeinen Rissen in ihrer Robustheit, die wir bisweilen besichtigen, ohne sie doch ganz zu verstehen.
Zu den Eigenheiten, die wir nur erinnern, nicht mehr nachfühlen, gehört die Heuchelei in der Liebe. Gewiss, wir heucheln, wenn es um Geld geht oder um Macht. In der Liebe indes heucheln wir selten, weil niemand es uns verbietet, unsere Tage und Nächte zu verbringen, mit wem wir wollen. Entsprechend gibt es für junge Männer genügend junge Frauen für einige Nächte, ein paar Wochen oder Monate, und so bedarf es keiner Kameliendamen, keiner Kurtisanen, wenn ein Mann nicht allein schlafen mag, bis er ein junges Mädchen frisch aus dem Kloster heiratet. Die Geschichte der Kurtisane Lea, die mit 49 Jahren von ihrem letzten Liebhaber, Chéri verlassen wird, ist daher heute kaum mehr denkbar: Ein schöner, berückender junger Mann, ein gedankenloser und vor Jugend grausamer Adonis mit frauenhaft langen Wimpern und dem fast unwirklichen Glanz der Makellosigkeit mancher sehr, sehr junger Männer würde heute selten oder nie seine erste Liebe mit einer alternden Frau erleben, die es sich am Ende eines langen Lebens von und mit der Liebe wechselnder Männer erlauben kann, zu lieben, wen sie will, wenn sie nicht erwartet, dass diese Liebe ewig währt. Es wird wohl selten heute eine Liebe sterben, weil die geliebte Frau (und auch Chéri liebt Lea) eines Morgens – gerade als ihr junger Liebhaber zurückkehrt zu ihr – als alte Frau erwacht.
Unsere Ängste sind in diesem schmalen, kaum einen Sommertag füllenden Roman also nicht versammelt: Wenn ich 49 bin, werde ich nicht von einem Mann verlassen werden, der gerade 25 wird. Wenn ich 49 sein werde, kann ich, wie die Dinge liegen, kaum mehr erwarten, von jungen Männern überhaupt noch geliebt und begehrt zu werden, höchstens vielleicht ein wenig gefürchtet und mit Glück geschätzt. Und doch rührt mich die Empfindung, die Trauer um die Fähigkeit, Liebe und Begehren zu erregen, nicht nur wegen der eindringlichen Farbigkeit der Schilderung, der Sensitivität der Colette, die die Farben, die Textur und den Duft jedes Raums, jeder Landschaft mit feinem Pastell verzeichnet, die leisen, oft bösen Akkorde der Gespräche zwischen Personen nicht vergisst, deren keine ihr für das Portrait zu minder erschien, und auch nicht, weil es schwer ist, sich der charmanten und brutalen Attraktivität des Chéri zu entziehen, den man, stelle ich mir vor, im Museum auf den Bildern Caravaggios wiederfindet. Die Rührung beim Wiederlesen dieses Romans rührt vielleicht eher daher, dass der Kern meiner Angst vor dem Alter derselben geblieben sein mag: Diese Kinderangst, zu verschwinden, sich aufzulösen in Luft, unsichtbar zu werden, und sei es auch nur für die Augen der Liebe, der Begierde, der Lust, und zu fürchten, dass dann nichts bleibt als eine alte, faltige Frau, einsam am Fenster mit knotigen Händen und einem Strauß gelber Rosen auf dem Tisch, die sie sich selber kaufen muss, weil der Kredit unseres Lebens so wenig für ein bißchen Nachsicht und ein paar freundliche Illusionen ausreichen wird wie für die verlassene Lea de Lonval.
Colette
Chéri
1920
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