10.00 Uhr
Ganz kurz spiele ich mit dem Gedanken, einfach den ganzen Tag in meinem sogenannten Alpenzimmer (einer Art Laura-Ashley-Imitat im Chalet-Stil, überraschend geschmackvoll ausgefallen) im Bett zu bleiben. Wie es die Hotels bewerkstelligen, diese komplette Reinheit raschelnd weißer Bettwäsche zu schaffen, frage ich mich und taste nach meiner Brille, die ich brauche, weil ich sonst auf dem Weg zu meinen Kontaktlinsen verunglücke oder etwas zerstöre.
Weil ich nichts zu lesen habe, verwerfe ich den Gedanken an einen Tag im Bett dann doch und stelle mich nackt vor den Spiegel. Die Frauenzeitschrift Brigitte, habe ich gehört, werde künftig keine Models mehr ablichten, aber selbst diese Anhängerinnen normal dicker Frauen würden mich – würde ich dort vorstellig – vermutlich nach kurzer Ansicht heimschicken: Meine Körpermitte wirkt irgendwie breiig. Meine Körperspannung tendiert in den negativen Bereich. Mein Rücken tut weh.
An sich bin ich noch von gestern abend komplett gesättigt. Wirklich sehr schlanke Personen würden nun auch eingedenk des unerfreulichen Anblicks des eigenen Körpers auf dem Weg zum Bad einfach nichts essen, aber ich schleppe mich ungeduscht ins Erdgeschoss, lese in der Süddeutschen etwas über den Untergang der Welt wegen schlechten Wetters und stopfe mir zwei Weißwürste, eine Brezel, Rührei und Tee in den ohnehin vollen Magen.
Dann lege ich mich wieder ins Bett.
12.00 Uhr
Mein Nacken ist neunzig. Den ganzen Tag drücke und presse ich an meinen Halswirbeln herum und versuche, den archimedischen Punkt meiner Rückenmuskulatur zu finden, an dem selbiger aus den Angeln gehoben werden kann, um sich fortan wieder normal anzufühlen. Leider suche ich völlig vergeblich. Als ich vor den Spiegeln in der ersten, zweiten, dritten Boutique stehe, sehe ich mich eigentlich mangels Bewegungsfähigkeit nur frontal von vorn.
Auch eine Massage wirkt sich nur kurzzeitig wohltuend aus. Es fühlt sich gut an, das schon, man sollte viel öfter massiert werden, aber das merkwürdige Gefühl völliger Versteifung lässt nur für etwa eine halbe Stunde nach. „Sie sind verspannt.“, teilt mir die Physiotherapeutin mit, eine kleine, lebhafte Ungarin, und zieht kräftig an meinem Rücken und meinen Wirbeln. Das Mädchen wiegt maximal 50 Kilo, schätze ich und frage mich, was sie eigentlich über Leute denkt, die so teigig wirken wie ich. Kein Wunder, dass mich keiner umsonst massiert, ziehe ich den Bauch ein, aber das nützt natürlich gar nichts.
14.00 Uhr
Rund um mich herum sind alle Frauen blond, sogar die M. ist erblondet. Gelangweilte Männer sitzen auf niedrigen Hockern und warten auf ihre Freundinnen, die in immer neuen Kleidern aus den Kabinen kommen, sich drehen, in den Spiegel schauen und dann in die Kabine zurückkehren. Die meisten sind fabelhaft schlank.
„Ist der okay oder brauche ich den größer?“, frage ich eine der ebenfalls blonden Verkäuferinnen, die zur 38 rät. Tatsächlich geht es eine Größe größer besser, und mit einem Kleid, einem Pullover und einem Shirt verlasse ich das Geschäft. 5 Kg, schätze ich, müsste ich abnehmen, um akzeptabel schlank zu werden, aber das mache ich nächstes Jahr. Die M. will auch abnehmen, sagt sie, und wir verabreden eine München-Berlin-Diät mit montagmorgendlichem Contest.
16.00 Uhr
Ich trinke heiße Schokolade. Ich glaube, der Laden heißt Vianne und erinnert ein bißchen an das kakao am Helmholtzplatz, das ich mochte und das nicht mehr da ist, leider. Die heiße Schokolade im Mokkatässchen mit Orange und die halbe, kandierte Orangescheibe dazu, erinnere ich mich mit einem Löffel Wehmut und blättere ein wenig zerstreut in Marguerite Duras Liebhaber, den ich aus irgendwelchen Gründen nie gelesen habe.
Hier gibt es Schokolade und Milch getrennt mit einem Mini-Schneebesen zum Selberrühren, angenehme Musik im Stil der Dreißiger und ich werde etwas müde. Ich würde gern ein paars Stunden einfach auf einem Sofa liegen und mir etwas erzählen lassen und dabei vielleicht eine Katze kraulen, die leise schnurrt.
18.30 Uhr
Eigentlich bin ich schon hungrig. Neidisch schaue ich meinem Begleiter auf das Haloumi und den anderen Leuten im Café Puck auf das gebratene Fleisch. Demnächst gibt es etwas, sage ich mir und trinke heiße Zitrone.
Träge fließt der Abend durch den langgestreckten Raum, ich höre zu, antworte, beobachte meinen Begleiter, der seine Worte ab und zu mit den Hände unterstreicht. Nett ist es hier, überlege ich mir und schaue mich um. In Städten bin ich immer daheim, da geht es immer, egal wo, nur am Land fühle ich mich stets fremd, wie ein Alien, im besten Fall wie ein Besucher im Zoo.
20.00 Uhr
Sie sitzt schon an der Bar. Sie ist schlank geworden, so schlank, dass ich sie fast nicht erkenne, aber lacht dann doch wie in Berlin und ist so klug und schnell und witzig, wie Leute sind, die ich mag. Den Laden mag ich auch, der Schmock heißt, in der Augustenburger Straße, und der gut und etwas zu reichlich kocht.
Die Maronensuppe mit Jacobsmuschel ist sehr kompakt, an sich eine ganze Mahlzeit, und mir fällt die Maronensuppe in Wien vor zwei Jahren ein, die ein Weihnachtsmenu eröffnen sollte, und danach hätte ich eigentlich aufhören können zu essen. Statt dessen erschien der Kellner mit einer Scheibe Gänsestopfleber, die wiederum zur Speisung eines Hungrigen auch ganz allein gereicht hätte.
Hier erscheint ein Kalbfilet, butterweich, rosa und mit einer sehr schaumigen, zartweißen Emulsion. Wir trinken einen schweren, sehr dichten israelischen Cabernet Sauvignon und ich erzähle von der Weinprobe in Israel auf einem Weingut das Carmelwein oder so hieß, zu der mein Vater mich mitnehmen musste, weil meine Mutter krank war, und ich war elf und saß drei geschlagene Stunden traubensafttrinkend zwischen meinen Onkeln und langweilte mich so vor mich hin.
Nach dem Kalb bin ich unglaublich satt. Ein Dessert kann ich unmöglich essen. Noch vor drei Jahre hätte ich die Nachspeise trotzdem einfach bestellt, aber zu den Nachteilen des Alters gehört offenbar auch eine Art natürlicher Mäßigkeit, die noch viel Langeweile verursachen wird in den nächsten fünfzig Jahren. Immerhin geht es mir gut: Ich lache fürchterlich viel, rauche vor der Tür und laufe schließlich zu Fuß zurück zum Hotel.
Es ist nicht spät, aber ich bin müde.
Ratschlag
Verehrte Frau Modeste,
Spiegelglas ist auch nicht mehr das, was es mal war. Immer diese Verzerrungen und die Tendenz, scharfe Konturen mit der Zeit „blind“ zu spiegeln.
Ich rate Ihnen, Ihre Gewohnheit zu ändern, den grossen Spiegel beim nächsten Gang ohne Brille/Kontaktlinsen einem Kollateralschaden zuzuführen und stattdessen vor der Rückkehr ins Bett Ihrem Konterfei in einem Tischspiegelchen ein seelig sattsames Lächeln zu schenken.
Das hilft auch garantiert bei der Verdauung. Ich habe gehört, die wäre irgendwie auch kopfgesteuert.
Hierfür wären dann für Zuhause ähnliche Voraussetzungen zu schaffen.
REPLY:
Was hilft’s, wenn man nicht dem Rest der Welt auch die Brillen entwenden kann —