Christian Kracht, Imperium
Es ist doch alles da, wenn Sie des Nachts erwachen. Was Sie im satten Schein der Nachttischlampe vom Bett aus sehen, zeugt von Ihrem Geschmack und (wozu dies beschweigen) von Ihrem Geld. Sie sind gesund und haben keine Schmerzen. Der Mensch, der neben Ihnen schläft, liebt Sie und sieht – bei aller Intelligenz – auch noch gut aus.
Wenn Sie an den nächsten Tag denken, spüren Sie weder Furcht noch Ärger. Doch denken Sie an das nächste Jahr, ach: an das nächste Jahrzehnt, so spüren Sie eine leichte, eine kaum wahrnehmbare Beklemmung, der Schatten eines Gefühls mehr als ein Gefühl selbst, und Sie schelten sich für dieses Missbehagen, für das es keinen Anlass gibt, denn voraussichtlich geht es Ihnen auch in zehn Jahren blendend.
Das Gefühl aber – das wissen Sie – wird nicht weichen. Sie werden erwachen, morgen früh, übermorgen, irgendwann in Ihrem Leben, und wissen, dass irgendwo in der Mitte Ihrer Welt ein schwarzes Loch klafft, der Eingang zu einem dunklen Kanal in die Mitte des Nichts, und alles, was Sie ausmacht, nur Girlande ist und sinnlose Verzierung, denn das Loch ist das Eigentliche und alles andere ist nichts.
Ein Geringerer als Sie würde nun verzweifeln und Erlösung suchen in Schönheit oder Kunst, würde sehr religiös oder ginge zumindest viermal die Woche zum Yoga und würde Anhänger der Eigenurintherapie. Sie aber sind klug. Sie wissen, dass nichts auf Erden uns rettet, und alles Streben nach Unsterblichkeit, nach Glück und Auflösung in einem höheren Sein scheitern wird, nur scheitern kann, und das Schicksal dem Scheiternden meistens nicht einmal Tragik und Würde bereitstellt, weil es kaum etwas gibt, was lustiger ist als jemand, der auf den Bananenschalen ausrutscht, die auf dem Weg ins Paradies auf den Wanderer warten.
Abgeklärt, wie Sie sind, lehnen Sie sich zurück in Ihre ganz sicher sehr bequemen Kissen und belächeln gern die Irrläufer der Suche nach dem Heiligen Gral. Herrn August Engelhardt etwa – dessen wohl teilweise wahre Geschichte Christian Kracht uns in seinem vierten Roman erzählt – erfreut Sie deshalb ganz und gar mit seinem Plan, ein Reich der Glückseligkeit auf einer Südseeinsel zu errichten, auf der seine Jünger und er nackt und friedlich sich ausschließlich von Kokosnüssen ernähren sollten, um so unsterblich zu werden.
Als ein Realist durch und durch wundern Sie sich nicht, dass aus dem Plan nichts wird. Engelhardt wird (natürlich, denken Sie und verziehen mokant das Gesicht) nicht glücklich und gesund, sondern verwandelt sich durch die jahrelange Mangelernährung in einen paranoiden, antisemitischen, leprakranken, regredierten Kannibalen. Auch aus der Schar von Jüngern, die Engelhardt sich vorstellt, wird nichts, denn die wenigen Anhänger, die es bis zu seiner Insel Kabakon schaffen, enttäuschen Engelhardt, und die Anhänger, die in der Kolonialhauptstadt hängen bleiben, führen schließlich dazu, dass der Gouverneur der Kolonie Engelhardt loswerden will und – wenn auch erfolglos – seine Ermordung beauftragt.
Auch der Erzähler selbst, so erscheint es Ihnen, teilt Ihre Ansicht über diejenigen, die wie Engelhardt versuchen, der Unerlösbarkeit der Welt mit ungeeigneten Mitteln zu entkommen. Elegant zurückgelehnt, gelassen plaudernd mit allen Mitteln des großen Romans des letzten Jahrhunderts, erzählt Kracht von diesem Kammerspiel des deutschen Welttheaters, als habe es die stilistischen Aufgeregtheiten des letzten halben Jahrhunderts nie gegeben. Heiter erscheint Ihnen dieser Erzähler, von einer sonnig-entspannten Ironie, die Sie sanft durch die rund 250 Seiten trägt, freundlich und bar jener Verzweiflung über die Unheilbarkeit der Welt, die die ersten Romane des Autors grundierte, und so ziehen Sie sich die Decke noch etwas höher in der besten aller Welten.
Später aber, ganz spät, schon haben Sie das Licht gelöscht und die Augen geschlossen, erschrecken Sie doch. Der Autor hat Sie verraten, erkennen Sie, auf dem trockenen Pfad Ihres Realismus. Nicht vorgeführt, so scheint es Ihnen nun, hat Kracht Ihnen den Irrweg aller Utopisten, die Vergeblichkeit der Erlösung und die Verzweiflung derer, die danach suchen, denn (anders als es in Wikipedia steht), stirbt Engelhardt bei Kracht gerade nicht 1919 vereinsamt und abgemagert an seiner Kokosnussdiät. Noch nach 1945 taucht Engelhardt auf, geheilt von der Lepra, abgemagert, aber lebendig, und auch wenn die Erlösung, auch wenn das Paradies, nicht unaussprechlich dionysische Genüsse bereithält, sondern nur Cola und Hot Dogs und sehr gesunde GI’s: Die Pforten dieses Paradieses immerhin öffnet Kracht seinem traurigen Helden, und mehr Erlösung von Übel und Tod, als Sie sie finden werden, bei Nacht, in Ihrem Bett, in Ihrem soliden Leben und mit Ihren beiden Beinen fest auf dem Boden.
Doch nächtliche Verzweiflung, auch das ist Ihnen klar, haben Sie morgen vergessen.
Das unterscheidet sich ja nun wohltuend von der dümmlichen und denunziatorischen „Spiegel“-Kritik. Wärmsten Dank. (Ich hab das Buch noch nicht gelesen, es liegt aber schon auf dem Wartestapel und nun freue ich mich richtig darauf.)
REPLY:
Ich habe die Rezension von Diez im Spiegel nicht gelesen, die Reaktionen anderer Kritiker deuteten aber schon auf einen eher ärgerlichen Text hin.
Ich hab es jetzt gelesen und finde Ihre Kritik wirklich treffend. Und außerdem weiß ich jetzt, warum Don Alphonso bei diesem Gegenstand derzeit etwas muffig ist. 😉