Verdammt. Eine Demonstration. Langsam schiebt sich eine graue, bedrohliche Masse mit finsterem Blick und gereckten Fäusten durch eine Allee. Erste Steine fliegen. In der ersten Reihe plärren Marktweiber Unverständliches. Spruchbänder flattern. Ich verstecke mich hinter einem Baum. Dass die mich nur nicht finden.
Langsam kommt die Demonstration näher und näher. Ein Alter mit knolliger Nase, ein mageres Mädchen in Lumpen mit halb entblößter Brust. Man kreischt, Stimmen werden lauter, und ich verstehe endlich, was die Massen fordern. „Eier! Würstchen! Joghurt!“, gellt es aus der entmenschten Menge, und ich schlage mich ächzend und keuchend in den nahen Wald. Doch auch da hallt es mir entgegen: „Früh-stück! Rührei! Käse!“, und ich falle, falle, falle und schlage die Augen auf. Ich liege im Bett. In Usedom. Und vor mir steht der F.
Der F. liebt Hotels. Er liebt Hotelzimmer, er liebt Pools. Ganz besonders aber liebt er das Frühstücken im Hotel.
Im Strandhotel Ostseeblick ist das Frühstück auch wirklich gut. Es gibt französischen Rohmilchkäse, es gibt hausgemachte Wurst, und die Eier sind wirklich Eier und nicht eine wässrig zusammengerührte Pampe. Der Himbeerquark ist hausgemacht, sogar die Semmeln schmecken, und so sitzen wir da, vorm Wind geschützt auf der Terrasse, schauen aufs Meer und essen. Irgendwo seitlich spielen der F., die A. und deren kleine Schwester S. etwas Dubioses mit Stöcken und Steinen. Vielleicht, sinniere ich, sind die Träume des F. aus irgendeinem Grunde noch mit den meinen gekoppelt? Vielleicht hat der F. letzte Nacht fremde Leute mit Mistgabeln und Gebrüll gepackt und zur Guillotine geschleift? Er ist ohnehin zumindest verbal recht gewalttätig in letzter Zeit und freut sich immer schrecklich über verbrannte Hexen und aufgeschnittene Wölfe. Praktisch und privat – aber das soll ja auch für Lenin oder so gegolten haben – ist er so friedlich wie immer und bleibt es auch am Pool und am Strand.
Da sitzen wir also, schaue ich in die Runde. Die I. und der S. sind inzwischen angekommen. Der M. samt Familie, alle auf und unter Decken vor den Strandmuscheln im noch immer warmen Sand. Wir reden, wir lesen Zeitung, wir essen zuviel und trinken Mineralwasser aus Flaschen. Ein paar Meter entfernt sitzen der F. und die A. – zwei- und dreijährig – im Sand und lauern einer Maus auf, die sie niemals bekommen, egal, wie lange sie singen und rufen.
„Was machst du mit der Maus, wenn du sie hast?“, frage ich den F., dessen Augen blitzen. „Fell ab, dann wegschmeißen.“, antwortet er friedlich und macht furchterregende Bewegungen mit den Händen. „Oje. Arme Maus.“, sage ich, und der F. nickt. „Maus weint. Braucht neue Kleider.“, antwortet er, und träumt vielleicht von der nackten Maus in Kleidern, als er mit roten, runden Wangen im Auto auf der Rückbank sitzt und nach Berlin fährt, abends um acht.
Hexen und Wölfe? Sind das die Bilder aus Märchen, die er vorgelesen bekommt oder was gibt’s da so für Literatur in seiner Kita? Ich bin gegen Märchen, die haben mich in meiner eigenen Kindheit schon in Angst und Schrecken versetzt.
Der F. liebt sein Märchenbuch und erzählt mit Inbrunst und Freude von Prinzessinnen, Fröschen, Feen, faulen und fleißigen Mädchen und nicht zuletzt von Hexen, welche – wie die Welt weiß – mit den Händen fuchteln und dabei „Haps!“ machen.