Man sagt, sie seien unglaublich verliebt gewesen in den B. Sie war so circa 20, die andere wohl etwa gleich alt, und als die andere die ganzen Briefe von ihr in einer Schublade in seinem Schreibtisch fand und ihr – schließlich stand ihre Adresse auf jedem Umschlag hinten drauf – einen unglaublichen Brief voller Beleidigungen insbesondere in Hinblick auf ihr Aussehen, ihren Charakter und ihre Sexualmoral schrieb, wäre sie für einige Stunden am liebsten gestorben.
Hätte sie den ersten Brief, den sie der Absenderin schreiben wollte, abgesandt, hätten sie sich wohl niemals getroffen. Weil sie aber nicht einmal den zweiten, sondern erst den dritten Brief zum Postamt trug, weil man ja damals noch ernsthaft Postämter aufzusuchen pflegte, saßen sie sich dann doch ein paar Tage später in einem Café in der Nähe der Uni auf ein paar knirschende Korbstühlen gegenüber und mochten sich sofort. Die andere war Georgiern mit einem tollen Akzent, unglaublich hohen Absätzen in einer Welt, in der quasi jeder Chucks und Ballerinas trug, einem Ausschnitt bis knapp über den Brustwarzen, und sah trotz dieser Aufmachung aus wie die Königin von Saba an einem besonders guten Tag.
Sie erzählten dem B. niemals, dass sie sich kannten. Sie trafen sich in dem Café in der Nähe der Uni oder in der Mensa, schrieben sich kurze E-Mails oder SMS, und tauschten sich über den B. aus. Über seine Angewohnheiten, seine Ankündigungen, deckten kleine oder große Lügen auf, und manchmal spekulierten sie darüber, ob er wohl noch andere hätte, also eine Dritte oder Vierte oder so, aber das bekamen sie niemals heraus. Nach einigen Monaten hatten beide, wie sie sich gestanden, ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich ausmalten, der B. gehöre einer von ihnen ganz. Als sie sich wieder mit ihrem Exfreund vertrug und die andere sich unsterblich in einen Tenor verliebte, waren beide ganz erleichtert.
Die andere heiratete vier Jahre später einen Russen und brach sofort ihr Studium ab. Mit dem Russen zog sie ziemlich oft um, weil er irgendwas mit Immobilien zu tun hatte, und die stehen nun einmal immer woanders. Heute lebt sie in Nikolassee, sie hat zwei Söhne und eine Tochter, sie sammelt Abendmode der Zwanziger und träumt davon, einmal ein Museum für diese Roben einzurichten, und wenn sich beide treffen, lachen sie manchmal über kleine Mädchen, die sich aus Liebe dazu hinreißen lassen, sich vor Fremden lächerlich zu machen, und bemerken nur manchmal, sehr selten, in kurzen unbewachten Momenten, dass es viel trauriger ist, für keinen Schmerz mehr erreichbar zu sein und über die Leiche seiner selbst nur zu lachen.
Sehr ansprechende Darstellung!
Erinnert mich aber an zwei Aussprüche.
Chinesisch: wenn das EKG keine Rhythmus schwanken mehr aufweist – als Zeichen reduzierter Emotionen – stehst man kurz vor dem Tod.
Österreichisch: wenn einem nichts mehr wehtut, ist man so gut wie tot, oder auch schon tot.
(Ich liege gerade im Spital mit ziemlich großer Schmerzmedikation und habe trotzdem ziemliche Schmerzen. Ich beklage mich aber nicht 🙂
Dann wünsche ich Ihnen gute Besserung und genau so viel Schwerelosigkeit, wie es braucht, um einerseits gut, andererseits aber überhaupt zu leben