CGN ist knallvoll. Seit Air Berlin pleite ist, ist die Lufthansa gar nicht mehr auszuhalten, und war schon früher an einem Freitagnachmittag ein Flughafen die Hölle, ist das nun vollends der Fall. Missgestimmt sitze ich also am Gate, jeder Platz ist besetzt, und starre in mein Handy.
In Berlin ist derweil die Hölle los. Mann 1 ist nämlich davon überzeugt, Frau 1 habe ein Verhältnis mit Mann 2. Zwar ist Frau 1 nicht seine Frau, sondern die Frau von Mann 3, aber das hindert ihn nicht daran, sich gnadenlos aufzuregen. Vordergründig macht er sich Sorgen um ihren guten Ruf und ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden. In Wirklichkeit ist er einfach obsessiv eifersüchtig und seine eigene Frau gibt ihm zu wenig Anlass, diese Persönlichkeitsseite auszuleben.
Frau 1 regt sich schrecklich auf. Sie hat nämlich keineswegs ein Verhältnis mit Mann 2, aber um Mann 1 zu zeigen, dass es sie nicht im geringsten schert, was er von ihren Verabredungen denkt, verabredet sie sich schnell mit Mann 2 und schickt Mann 1 einen Screenshot des Schriftwechsels auf WA. Mann 1 tobt. Alle Beteiligten schreiben einander Nachrichten auf den unterschiedlichsten Kanälen und beraten sich mit ihren Freunden.
Leider füllt sich das Gate mit immer mehr Menschen. Vermutlich sitzen jetzt schon doppelt so viele Leute mit dreimal so vielen Koffern am Gate wie in das Flugzeug passen, das hoffentlich gleich kommt. Hektisch versuchen die Stewardessen Reisende dazu zu bewegen, freiwillig ihr Handgepäck doch imFrachtraum zu verstauen, aber nun wollen wirklich alle schnell nach Hause, Leute sehen sich scheel von der Seite an und versuchen abzuschätzen, ob die Koffer der anderen nicht doch viel größer sind als die eigenen, und hauen hektisch auf ihren Handys herum, vermutlich um ihr Wochenende zu planen. Vielleicht haben sie aber auch nur ähnlich verwickelte Verhältnisse wie manche Leute, die ich so kenne, und müssen Nachrichten schreiben wie etwa Frau 1 und ihre lieben Freundinnen, deren Ratschläge jedoch betrüblich uneinheitlich ausfallen. Dass auch die lieben Freundinnen von ihren eigene Kalamitäten berichten, bleibt nicht aus. Ich zum Beispiel vermute, an einem chronischen Erschöpfungssyndrom erkrankt zu sein und bekomme beim Googlen die beunruhigendsten Hinweise auf die dahinter stehende Grunderkrankung, aber das will natürlich niemand wissen.
Als der Flug aufgerufen wird, schleppe ich mich mit mehr oder weniger letzter Energie auf meinen Platz. Ich sitze immer auf 8 C. Neben mir sitzt in dem bis auf den letzten Platz besetzten Flugzeug ein älterer Mann mit einem Oberlippenbart und liest eine Zeitschrift über Gartenbau, und kurz, ganz kurz, überkommt mich der Wunsch, auch einmal scheintot auf dem Lande zu leben, unanstrengende, gleichförmige Tage, wunschlose Monotonie mit prächtigen Hortensien, aber dann fällt mir wieder ein, dass es ja nicht an den Kulissen liegt, sondern vermutlich an uns.
Jaja, ist schon zutreffend: An den Kulissen liegt es nicht, es liegt aber auch nicht an uns. Es liegt noch nicht einmal an dem Stück, das aufgeführt wird. Man ist halt bloß nicht immer die richtige Besetzung, egal wie gut man auch sein mag. Macht aber eigentlich auch nichts, denn es gibt ja unzählige Theaterstücke.
Gibt es die wirklich? Manchmal glaube ich, die Stücke, zwischen denen wir zu wählen haben, sind sehr, sehr begrenzt, und unsere Rollen weitgehend festgeschrieben, aber vielleicht ist das auch nur ein Novemberpessimismus, und im nächsten März sieht alles wieder anders aus. Wir werden sehen
Vielleicht böte ein beruflicher Rollenwechsel ( Sie haben an Ihrem derzeitigen Spielort ja so alles erreicht) mehr Spielraum als Sie derzeit erahnen.
Ich, 15 Jahre älter als Sie, kann zwar die Reißverschlüsse an meinen dunklen Kleidern noch selber schließen, bedauere aber keine Kurskorrektur vorgenommen zu haben…
Das ist ja ohnehin so ein Ding: All das ungelebte Leben.