Die kleine Freiheit

So ungefähr mit 82 fing mein Großvater an zu husten, und mit circa 84 wurde sein Husten der ganze Familie so widerlich, dass einzelne Mitglieder ernsthaft erwogen haben sollen, Weihnachten 1985 woanders zu verbringen als in seinem Hause. Mit 86 fiel er einfach um, und kam ins Krankenhaus. Die Ärzte sprachen von Lungenkrebs und ermahnten ihn, mit dem Rauchen aufzuhören, aber ein paar Wochen später war er tot, und so kam es nicht mehr zu einer späten Entwöhnung vom Nikotin. Es hätte wohl auch nichts mehr genützt.

Die bedeutenderen Besitztümer meines Großvaters erbte meine Großmutter. Mit souveräner Ungerechtigkeit allerdings vererbte er diejenigen Kleinigkeiten seinen Kindern und Enkeln, um die niemand ernsthaft prozessieren würde, über deren Verteilung sich die Zukurzgekommen aber trotzdem ärgerten: Ich bekam den Globus und Morgensterns gelbes Inselbändchen „Palmström“, aus dem er mir gelegentlich vorgelesen hatte. Mein Cousin L. erbte den großen Gibbon und eine bronzene Perikles-Büste. Schwesterchen allerdings bekam nichts, denn die war schlecht in Latein und spielte bei Tisch zudem ab und zu mit den Haaren.

Der Wagen natürlich blieb in der Garage, die nun meiner Großmutter gehörte. Mein Vater bot an, beim Verkauf zu helfen, mein Onkel A. bot an, selber mit dem Wagen herumzufahren, aber meine Großmutter lehnte ab, und strafte diejenigen, die an einen Akt purer Sentimentalität geglaubt hatten, Lügen: Noch im selben Jahr begab sie sich zur örtlichen Fahrschule, und was ihrer Enkelin nicht gelingen sollte, gelang der damals über siebzigjährigen Dame: Der Führerschein wurde ihr ausgehändigt, und meine Großmutter setzte sich hinter das Steuer.

„Dann kannst du die Kinder ja mal mitnehmen.“, hatte meine Mutter vorgeschlagen, die – wie eigentlich jedermann – nicht an die reale Möglichkeit geglaubt hatte, dass meine Großmutter jemals wirklich fahren würde. Meine Großmutter jedoch verpackte Käsebrote in Butterbrotpapier, befüllte eine Thermoskanne mit Kaffee und eine mit Früchtetee und fuhr sehr, sehr vorsichtig vor.

In der Kindheit meiner Großmutter, hatte man mir erzählt, pflegte man bisweilen noch mich Pferdekutschen zu reisen, und das Tempo, mit dem ein Pferd die Lande durchquert, schien meiner Großmutter die angemessene Reisegeschwindigkeit darzustellen. Mit ungefähr 50 Stundenkilometern, auf der Autobahn auch gerne einmal mit 70, fuhr meine Großmutter über Land. Langsamer als wir hatte seit dem 19. Jahrhundert niemand mehr den Wolfgangssee erreicht. Mit der Gemächlichkeit wandernder Handwerksburschen bereisten wir die Mosel, meine Großmutter erzählte mir alles, was sie über die Porta Nigra wusste, wir fuhren zum Loreleyfelsen und nach Altötting, und nachts schliefen wir in Familienpensionen, die die Dame des jeweiligen Hauses mit geschmackvollen Souvenirs der Region und fröhlich-bunten Kunstdrucken dekoriert hatte.

Weil meine Großmutter dem Glauben meiner Eltern nicht anhing, Zucker sei schlecht für Kinder, und ich sei ohnehin schon hyperaktiv genug, gab es immerzu Kuchen und Limonaden. Morgens schmierte sie mir Semmeln dick mit Butter, und ich durfte Eier essen, so viel ich wollte. Wenn es irgendwo einen Aussichtspunkt gab, dann gab es auch eine Bank, und meine Großmutter setzte sich hin und bewunderte die Aussicht. Am Abend saßen wir auf den Terrassen der Familienpensionen unter farbigen Markisen und schrieben Karten an die ganze Familie. „Liebe Mama, lieber Papa!“, schrieb ich etwa „hier ist es sehr schön, und mit dem Wetter haben wir viel Glück gehabt. Gestern waren wir in … und haben den … besucht.“ – und nach einigen Tagen fuhren wir zurück. Es war großartig.

Ab und zu kam meine Schwester mit, aber der wurde im Auto ab und an schlecht. Einmal fuhr auch Cousin S. mit, aber der konnte nicht stillsitzen, und zappelte auf den Bänken an Aussichtspunkten immer solange herum, dass meine Großmutter die Aussicht nicht genießen konnte, und deswegen blieb er zukünftig daheim.

Ab und zu hupten Leute, wenn wir vor ihnen fuhren, und manchmal überholten sie uns sogar da, wo das gar nicht erlaubt war. „Die haben ja gar nichts vom Fahren!“, sagte meine Großmutter dann und fuhr noch langsamer. „Ich weiß nicht, warum ich das nicht schon vor zehn Jahren gemacht habe!“, rief meine Großmutter ab und an aus.

Eines Tages aber fuhr ihr jemand auf einem Parkplatz in den Wagen, und sie brauchte einen Neuen, der ihr nicht so gut gefiel wie der alte. Und eines Tages sagte ihr ihr Arzt, sie solle auch mit dem neuen Wagen besser nur noch kurze Strecken fahren. Und eines bösen Tages wurde sie krank, und als sie aus dem Krankenhaus ein letztes Mal für ein paar Wochen herauskam, fuhr sie nicht mehr gern. Sie fühle sich zitterig, sagte sie, und mein Vater solle das Auto verkaufen.

Dann war sie tot. Aber wenn jene recht haben, nach deren Glauben noch mehr als nur nichts auf uns wartet, wenn wir gestorben sind, dann fährt sie in jenen ewigen Gefilden herum, schreibt Karten, übernachtet in Familienpensionen, und bewegt ganz langsam den Wagen, der ihr wohl so etwas wie Freiheit bedeutet haben muss, über jenseitige Autobahnen überallhin, wo es ihr gefällt, zur Blumeninsel Mainau etwa oder bis nach Bayreuth.

12 Gedanken zu „Die kleine Freiheit

  1. Wie schön!
    (Und mir wird klar, wie anders als meine fitnessverrückten Eltern ich bin: Auch ich schätze die Aussicht von Aussichtsbänken, an denen ich im Schlepptau der („Bewegung! Frische Luft!“) Eltern immer vorbeihetzen musste.)

  2. Hier offenbart sich eine neue Bedeutungsebene des Wortes Geisterfahrer 😉
    Ich finde es besonders erbaulich wenn ältere Menschen in Bewegung bleiben.Hab durch meinen Job jede Woche ca. 50 Rentner zu beliefern und leider hat nur jeder zweite eine positive Einstellung zum letzten Lebensabschnitt.Manchmal macht mich das sehr traurig.

  3. zum einen fällt mir da die großmutter ‚mausi‘ meines mitbewohners ein, die mit ihren 94 jahren und dem 30-jährigen bestens gepflegten bmw immer noch durch ganz deutschland fährt, um sich ausstellungen anzuschauen (wenn auch deutlich schnittiger als deine), und die dieses jahr mit kieser-training angefangen hat. Zum andern inspirierst du mich zu einem Beitrag über meine oma anna. danke!

  4. Die kleine Freiheit,

    langsamer als andere zu fahren (auch zu essen, zu arbeiten, zu wandern und vor allem zu denken und zu sprechen), nehm ich mir auch ganz gerne ab und zu. Dies führt zwar oft zu Spott in meiner – vor allem weiblichen – Mitwelt. Manchmal aber ganz offensichtlich auch zu ein bißchen Neid.

  5. REPLY:

    Eine wunderbare Geschichte! Ich ziehe es ja vor, des Öfteren Dinge
    langsam zutun, bei denen Andere sich beeilen, und Dinge sehr schnell
    zu machen, die üblicherweise langsam angegangen werden. Ein gutes
    Training, um den Blick für unsere Shifting Reality zu schärfen.

  6. Wirklich eine schöne Geschichte, und eine wunderbare Oma.
    Ich mag das auch, Dinge in meiner Geschwindigkeit zu erledigen.Ich rede schnell,schreibe schnell,fahre schnell, dafür brauche ich aber für Vieles einfach meine Zeit, ganz viel Zeit sogar. So braucht’s lange für Freundschaften, für einen neuen Baum im Garten oder für Entscheidungen, die andere viel schneller treffen.

  7. Mir fällt bei der zauberhaften Geschichte der Film „Immer noch ein verrücktes Paar“ ein, eine der letzten gemeinsamen Produktionen des grandiosen Komikerpaares Walter Matthau und Jack Lemmon. Durch gewisse Umstände sind sie zum Trampen gezwungen und geraten an einen Seelenverwandten von Modestes Oma. Unterwegs werden sie natürlich von anderen Autos überholt, irgendwann auch von Radfahrern und schließlich sogar von Joggern. Höhepunkt: Der Fahrer verstirbt friedlich, während der Wagen steht. Sollte man sich noch mal anschauen, den Film – wie auch alle anderen von Lemmon/Matthau.

  8. Für schöne Aussichten bin ich ja nur manchmal zu haben, und habe für die reine Natur, Frau Kaltmamsell, irgendwie wenig Sinn. Ab und an gern, am liebsten am Meer.

    Leider, Reh, haben ja auch nur ziemlich wenig ältere Menschen das Glück, in Umständen zu leben, die eine positive Weltsicht fördern – Wohlbefinden, etwas anfangen zu können mit sich, und umgeben von Menschen zu sein, die man liebt.

    Auf Deine Geschichte zu Deiner Oma, Lucky, bin ich ja sehr gespannt. Ich mag Oma-Geschichten. Und ein eigenes Tempo, Herr Sokrates, Che und Frau Croco, ist sowieso das Beste. Und Umstäne, die einem ein eigenes Tempo erlauben.

    Lemmon/Matthau, Herr Wagner, ist ja wirklich oft sehr super. Und Komplimente, Dr. Dean, hört man überhaupt ja immer gern.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Sie möchten einen Kommentar hinterlassen, wissen aber nicht, was sie schreiben sollen? Dann nutzen Sie den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken