Bernsteintage, Samstag (5)

Es ist halb sieben. Im Schlafanzug, aber mit Schuhen und einem Pappkoffer in der Hand steht der F. vor meinem Bett und zieht an meinem Arm. Ich soll aufstehen, höre ich. Wir müssten los. Zwei Stunden später sind wir auf der Autobahn. Müde bin ich und maximal mittelmäßig gelaunt. Gähnend sitzt der J. am Steuer. Nur der F. lächelt selig auf der Rückbank, lässt die Lider sinken und schläft noch vor Prenzlau ein. Erst in Heringsdorf wird er wieder wach.

Leicht skeptisch beäuge ich das Hotel. Als wir Ende der Neunziger nach Berlin kamen, war die Ostseeküste nämlich eine gastronomisch überraschend unerschlossene Zone, in der die muffigsten Menschen der Welt inmitten grell beleuchteter schriller Dekorationen Fertigsuppen in überschwappenden Tellern servierten. Unter Menschen, die unser Befremden teilten, kursierten skurrile Anekdoten über die Beschaffenheit der feilgebotenen Speisen, und die schönen, alten Villen wurden zu alledem durchweg so geschmacklos wie möglich in Buchenfurnier und Glas neu möbliert und mit Raufaser ausgekleidet. Diverse Jahre fuhren wir nach diesem Schock nur nach Heiligendamm und hielten uns ansonsten ans Ausland.

Von außen widerlegt das Strandhotel Ostseeblick meinen Argwohn jedenfalls nicht. Im Foyer wird es aber schnell deutlich besser. Die Ausstattung ist beruhigend, beige, nude und braun dominieren, nichts stört das Auge, und die Dame an der Rezeption ist freundlich. Überhaupt – so fällt es mir auf – sind alle Mitarbeiter ausgesprochen nett, viel, viel netter als an der eher rauen Ostseeküste als normal gelten darf, und so entspanne ich mich schnell. Der F. bekommt einen roten Luftballon, wir nach Jahren wieder einmal einen richtigen Schlüssel mit einer hübsch gedrehten Kordel und sitzen stracks in unserem Zimmer. Klein ist es, aber die größeren, sicher schönen Zimmer haben bestimmt diejenigen bekommen, die vor uns angerufen haben. Inzwischen überwiegt die Dankbarkeit: Wir haben mit drei Tagen Vorlauf in Usedom noch etwas bekommen, das mehr ist als nur passabel. Und der M. und die M. mit ihren Kindern auch.

Wo aber stecken …? Ans Telefon gehen sie jedenfalls nicht. Auch als wir – leider nicht weit entfernt – an der grässlichen Kurmuschel Fischbrötchen essen, erreichen wir sie nicht.  Erst Stunden später brummt das Handy, da fahren sie erst herum, checken dann ein, und als wir im kleinen, aber hübschen Pool mit dem Plastikkrokodil des F. kämpfen, sitzen sie am Strand. Wir packen also alles zusammen und folgen nach. Dann sitzen wir im warmen Sand, verabschieden den Sommer und sehen den Kindern zu, die rennen, graben, springen und jubilieren, als sei der Strand selbst ein Fest. Fanfaren aus Sand.

An der Kurmuschel füttern wir die Kinder einige Stunden später mit Flammkuchen und Sprudel. Rund um uns herum sitzen Leute, die man zum Glück sonst nie sieht, trinken Bier, reden fürchterlich laut das skurrilste Zeug auf Erden und klatschen im Takt zu den Schlagern, die eine magere Sängerin mit schlecht gefärbten Haaren auf der Bühne zum Besten gibt. „Mein Herz ist wie ein Bumerang“, höre ich und pruste fast los vor so viel Trostlosigkeit und Tristesse.

Endlich sind auch die Kinder satt. Noch ein letzter Moment am Meer, die Füße im Sand. Eine Gutenachtgeschichte, ein Lied, dann die langen, regelmäßigen Atemzüge des F., und dann schleichen wir uns leise, leise ins Erdgeschoss. Negroni und Bier. Als wir komplett sind, bestellen wir im hoteleigenen Restaurant Bernstein und sind überrascht.

Der Gruß aus der Küche besteht aus einer Gurkensuppe mit Karottenschaum und ist lecker, das schon, aber nicht besonders originell. Die Vorspeise dagegen ist schon ein Knaller. Es gibt Hummer, sauber ausgelöst, ein frisches, schmelzendes Gelee, das sich beim Blick auf die Karte als Bergamotte-Gelee herausstellt, und eine diffus asiatisch wirkende Sauce, die – einziger Kritikpunkt – eine Spur zu sauer ausfällt. Ich atme schneller.  Mir gegenüber zelebriert der J. einen Thunfisch, um den ich ihn heftig beneide. Die Klekse rund um den Thunfisch wirken auch so, als müsste man auf der Stelle von allem das Dreifache essen. Das machen wir zum Glück aber nicht. Denn jetzt kommt das Hauptgericht, bei uns allen ein Dry Aged Rinderfilet von so unfassbarer Zartheit, dass ich sofort im Grill Royal anrufen will, damit die ganz viel davon bestellen, auf dass ich dieses Zeug künftig in Reichweite habe. Drei, vier Gnocchi liegen noch herum, und ein Erbspüree, anlässlich dessen ich allen Vorbehalten gegenüber einer norddeutsch regionalen Küche auf der Stelle abschwöre. Da sitze ich also, schaue durch das halbrunde Glaspanorama auf die schwarze See und bin einfach nur glücklich, trinke einen ordentlichen Rosé, warte auf meinen Käse und danke meinen Göttern für alles. Essen und Trinken. Freunde. Das schlafende Kind. Das Kind, auch wenn es nicht schläft. Den J., die Nacht, den Himmel und hätte einer auch nur vage gefragt, ob ich auf den Dessertwein zum Käse noch ein Glas Champagner gehoben hätte: Ich hätte die ganze Flasche bestellt. Zum Glück kam keiner. Denn am nächsten Morgen …

Aber dazu morgen mehr.

2 Gedanken zu „Bernsteintage, Samstag (5)

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