Als wir ankommen, schaut das Geburtstagskind uns an, als hätte es uns noch nie gesehen. Ich vermute einen Zuckerschock und jubele noch etwas lauter, damit der Kleine mich inmitten seiner Glucosewolke überhaupt bemerkt, der J. allerdings schnappt, unhörbar für Dritte, mehrmals nach Luft. Neben uns steht der F., streckt dem Geburtstagskind sein Geschenk entgegen und hält ihm stolz die selbstgeschriebene Karte unter die Nase. Sekunden später landen Geschenk und Karte auf dem Boden, das Geburtstagskind rennt weg und nimmt den F. mit. Den Rest des Tages sehe ich vom F. so gut wie nichts.
Möglicherweise waren frühere Kindergeburtstage schon genauso anstrengend, aber nach einer gewissen Zeit der Abstinenz habe ich das verdrängt. Normalerweise finden fünfte Geburtstage nämlich ohne Eltern statt. Heute soll aber ein Frühlingsfest unter Beteiligung der Eltern stattfinden, und deswegen sitzen wir auf der wirklich schönen Terrasse der Gastgeber, trinken Sekt und sprechen mit den anderen Eltern.
An und für sich mag ich die anderen Eltern tatsächlich recht gern. Die meisten haben interessante Berufe, sagen interessante Sachen und sehen gut aus. Gemessen an den Leuten, über die man in Zeitungen lesen kann, sind sie vermutlich auch ziemlich gute Eltern, die vom Babyschwimmen über PEKiP bis zum Kinderyoga nichts auslassen und jeden Abend vorlesen. Auch die Kinder sind zum größten Teil nette Kinder. Wenn man den Eltern aber glauben möchte: Zur Hälfte hochintelligent. Zur anderen Hälfte hochsensibel.
Die eine Mutter ist jedenfalls schon heute, 18 Monate vor der Einschulung davon überzeugt, dass die Schule um die Ecke nie im Leben geeignet wäre, ihrer Tochter gerecht zu werden. Die sei nämlich so unglaublich weit und so sagenhaft ehrgeizig, das könne gar nichts werden. Normale Schulen seien nämlich nur auf normale Kinder vorbereitet, und wenn ein Kind schon mit vier so viel könne wie andere drei Jahre später noch nicht, wären Langeweile und eine einsame Außenseiterposition die natürliche Folge. Die Mutter hat sich deswegen schon quasi alle Schulen Ostberlins angesehen und kennt alle Konzepte, von denen ich noch nie gehört habe.
Von den reformpädagogischen Schulen ist sie nicht so angetan. Ihre Tochter sei für so einen Kuschelkurs viel zu ehrgeizig, sagt sie, und streichelt der Tochter, die alle zwanzig Minuten angelaufen kommt, weil die anderen Kinder sie nicht mitspielen lassen würden, ermutigend über den Rücken. Ich kenne das sehr hübsche Mädchen in erster Linie als ein Kind, das fast jeden Morgen in Tränen ausbricht, wenn es im Kindergarten abgegeben werden soll, und sich überaus schnell langweilt. Besondere Fähigkeiten habe ich noch nicht bemerkt, aber gut, ich bin auch nicht immer dabei. Ich muss auch abwesend gewesen sein, als die Mutter des Geburtstagskindes die Führungspersönlichkeit ihres Sohns entdeckt haben will, der im Kindergarten oft, egal, wann ich komme, allein am Zaun steht und sehnlichst darauf wartet, abgeholt zu werden.
Eine andere Mutter dagegen hat panische Angst vor Leistungsdruck. Überhaupt sind sich alle einig, dass die Schule mit ihren verständnislosen Konformitätsanforderungen ein fürchterlicher Schock werden wird, zumal Lehrer ja oft nichts von Pädagogik verstehen und deswegen nicht begreifen, dass sie in erster Linie als Coach der Kinder zu fungieren haben. Zudem sei es die Aufgabe der Lehrer, vernehme ich, die Kinder zu motivieren. Wenn die Kinder nicht richtig mitgerissen würden, sei es kein Wunder, wenn die nicht mitmachen. Kurz öffne ich den Mund, um zu bedenken zu geben, dass es meines Wissens noch nicht erlaubt ist, die Abiturprüfung mit der Aussage zu bestreiten, zum Erwerb des abgefragten Wissens habe der jeweilige Fachlehrer den Prüfling leider nicht motivieren können, aber dann halte ich den Mund und fülle mein Glas nach.
Irgendwo im Hintergrund wickeln die Kinder in zwei Mannschaften andere Kinder um die Wette in Toilettenpapier. Angeblich haben danach beide Mannschaften gewonnen, was mich daran erinnert, dass nach dem letzten Sportfest in der Kita sich tatsächlich Eltern beschwert haben, weil nicht alle Kinder Medaillen bekommen haben. Vermutlich waren das dieselben Eltern, die gefordert haben, dass die Gruppensprecher nicht gewählt, sondern einfach abwechselnd bestimmt werden.
Die Kinder rennen inzwischen seit mehreren Stunden durch den Garten. Es gibt Kartoffelsalat und Würstchen, die mein Sohn peinlicherweise als „verbrannt“ geißelt, die Eltern erzählen sich gegenseitig, wohin sie verreisen, und die Kinder nehmen ihre Mitgebseltüten in Empfang. Mein F. hat sehr rote Backen und schwitzt wie nichts Gutes, springt von einem Bein aufs andere Bein, und hüpft den ganzen Weg bis nach Hause. Sehr ruhig und sehr klein sieht er aus, als eine halbe Stunde später im Bett liegt und schläft. „Mein Süßer!“, flüstere ich ihm zu, als ich ihn wieder zudecke und ihn auf sein rechtes Ohr küsse. Mein kleiner, hübscher, freundlicher und ganz normaler F.
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Normcore Parenting:
Der Trend 2017?
(Nido-Aufmacher)
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Oh, das trifft sich gut. Unsere Tochter ist auch ganz normal begabt und sensibel. Lassen Sie uns eine Selbsthilfegruppe für betroffene Eltern gründen. 😉
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„Ich heiße Modeste und mein Kind ist ganz normal“ – „Hallo, Modeste!“
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Ich gratuliere allerherzlichst zum ganz normalen Kind!
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Es muss ja ganz schönlaut gewesen sein bei so vielen Helikoptern über den Kindern.
Das wird bestimmt super, wenn diese hochintelligenten und hochsensiblen Kinder erst einmal in die Pubertät kommen.
Glückwunsch zum fröhlichen und normalen F.!
Danke fuer den schoenen Beitrag.
Mir gefaellt die unaufgeregte Art, wie Sie Ihren F. erziehen. Kaum zu glauben, dass es in Berlin noch „normale“ Eltern gibt.
Es ging meiner Frau und mir auch immer auf den Zeiger, wenn andere Eltern immer von Ihren hochbegabten und hochsensiblen Kindern geschwaermt haben. Unser S. wuchs als ganz normales Kind auf, dem Klavierspielen hat er sich zum Leidwesen meiner Frau stets verweigert – sie hat dann selbst Klavierunterricht genommen – das Klavier war ja schon gekauft. Heute 14 Jahre spaeter ist sie eine passable Spielerin und unser Sohn hat von 3 Jahren mit 16 angefangen Klavier zu spielen – auch er jetzt ein ordentlicher Spieler.
Als Kind waren ihm Fussball und Basteln, spaeter Elektronik wichtiger.
Wir haben ihm den Freiraum gelassen – schade wahrscheinlich haben wir seine Hochbegabung nicht erkannt und gefoerdert, sonst ….
Aber uns ist viel wichtiger, dass er ein ganz normaler junger Mann geworden ist, der mit Leuten fuersorglich umgeht, selbststaendig denkt und handelt und auch sonst sehr lebenstuechtig ist und offen fuer Neues.
Wenn ich Ihre Schilderungen ueber den F. lese, kann ich nur sagen, Sie haben da einen veritablen Burschen an Ihrer Seite.
Geniessen Sie es und lassen Sie ihn wachsen – in jedem Aspekt.