„PISA“, so T., sei der Sieg der Sozialdemokratie über den Geist: Dieser Glaube, Bildung diene der ökonomischen Verwertung, sichere Industriearbeitsplätze und habe etwas mit Ganztagsschulen und Kindertagesstätten zu tun.
„Ja,“, sage ich achselzuckend und winke dem Kellner. Das möchte wohl so sein. Aber was der durchschnittliche Fünfzehnjährige weiß, kann oder denkt, bewegt sich außerhalb meiner Sphäre. Die PISA-Debatte ist mir vollkommen egal.
T. wirkt leicht verstimmt.
Ich habe T. im Verdacht, seine Reden an die Nation und andere Völkerschaften sorgfältig vorzubereiten. Und so ist mir klar, dass ich der Rede nicht entgehen werde über Bildung, PISA und die Sozialdemokratie, die zu T.´s Privatobsessionen gehört.
Als mit einiger Verspätung R. erscheint, ist es dann soweit. Während ich in den erkaltenden Resten meiner Tagliolini stochere, erledigt T. den funktionalistischen Bildungsbegriff, die Bundesbildungsministerin und jene Lehrer, die das Heil der Ausbildung darin sehen, die Erstellung von Präsentationen zu vermitteln und die Fähigkeit, Inhalte aus dem Internet zu laden als eine wesentliche Kulturtechnik ansehen.
Nach einer effektvollen Pause, die ich zur Bestellung des Desserts nutze, fährt T. fort. Nostalgie senkt sich über die karierte Tischdecke, während T. eine Vergangenheit beschwört, die niemand von uns durch Erfahrung kennt. Damals, als die Großväter noch fließend Latein sprechen konnten. Als der Student in Goethe das Gute, Wahre und Schöne suchte und fand.
„Die Sozialdemokratie,“ dekretiert T., „hat Kritik und Rezeption zu Unrecht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis vermutet.“ Ich ächze ein bißchen. Allerdings ist T. erfahrungsgemäß gegen den Vorwurf der Weltfremdheit ebenso immun wie gegen unzureichende Faktenbasis, und so schweige ich und schaue den träge durch den Raum ziehenden Rauchschwaden meiner Zigarette hinterher.
Mit R., die ich nicht sehr gut kenne, hat T. offenbar ein dankbareres Publikum gefunden. Begeistert breitet die ruhige, etwas unscheinbare Frau die Arme aus. T. habe artikuliert, was sie schon immer gedacht habe. Ich denke kurz an die befristete halbe Assistentenstelle, mit der die kluge R. nicht ein Fünftel soviel verdient, wie ihre Klassenkameraden. Dann schaue ich aus dem Fenster, sehe Mütter mit Kind die Kollwitzstraße herunter schlendern, und ordere noch einen Espresso.
R. befindet sich nun im Zustand gehobener Erregung. Auf ihren Wangen bilden sich zwei erdbeerrote Flecken, sie atmet hörbar und trompetet:
„Und dann ist auch noch Manfred Fuhrmann gestorben!“
Wenn einem der Gäste des Delizie d´Italia dieses Faktum noch unbekannt gewesen sein sollte, so ist es R.´s Verdient, für Aufklärung gesorgt zu haben. Ein dicker, etwas pickliger Mann schaut sich auch prompt nach uns um. Besonders traurig wirkt er allerdings nicht, höchstens etwas besorgt, wobei die Sorge mehr dem Zustand der R. als dem Heil Fuhrmanns gelten dürfte.
Nun sind alle Dämme gebrochen, T. verlässt das Drehbuch und geht zur Improvisation über und zitiert aus Fuhrmanns großartiger Cicero-Übersetzung. Gegen Verres. Pro Sexto Roscio Amerino.
Wer im Angesicht Ciceros einen Digestif zu trinken vermag, hat keine Seele, sagt der T.; so zahlen wir und laufen die Straße herab. Die Straßenzüge rechts und links täuschen eine bürgerliche Vergangenheit vor, die es so nie gegeben hat, zumindest nicht hier. R.´s Schritte schlagen hart auf die Gehsteigplatten, und T., der die Häßlichkeit der Welt mit eleganten Gesten beklagt, beschwört eine arkadische Vergangenheit aus ehrwürdigem Papier.
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