Des T. Großmutter

Zu den lässig gehüteten Geheimnissen einiger östlicher Bezirke Berlins gehört die Tatsache, dass der dem aufmerksamen Leser einflussreicher Presseorgane bekannte Generationenkrieg hier bereits mit einem totalen Sieg der unter Dreißigjährigen beendet wurde. Wer sein vierzigstes Lebensjahr überschreitet, hat guten Grund sich langsam nach einer Wohnung in anderen Bezirken der Stadt umzuschauen und beizeiten etwa ein Charlottenburger zu werden. Schreckliches dräut aber dem, dem diese Flucht nicht gelingen sollte. Von jugendlichen Häschern grausam gepackt, verendet der Senior in heruntergekommenen Hinterhäusern, um sich sodann den nachfolgenden Generationen beim U-Bahnhof Eberswalder Straße im Betrieb der Frau Waltraud Ziervogel ein letztes Mal nützlich zu erweisen.

Infolge dieser von mir schon oft gerügten Praxis sieht man hier so gut wie keine älteren Menschen auf der Straße. Seit dem Tod meiner eigenen Großeltern enthält mein Telephonbuch daher nunmehr auch keine einzige Nummer mehr, die einem Menschen über 70 gehört. Das Alter hat keinen Platz in meinem Leben, und es mag Tage geben, wo ich diese Entmischung als Ausdruck einer gewissen Monotonie bedaure.

Heute jedoch ist das anders. Wer heute an meiner Tür klingelt, um mich als zahlendes Mitglied der Antigerontischen Vereinigung Deutschlands e. V. zu gewinnen, stößt auf offene Ohren und wird ein freudig unterschriebenes Mitgliedschaftsantragsformular stolz der Zentrale übermitteln dürfen. Schuld an diesem Sinneswandel ist wie immer der T. – genauer gesagt:

T.´s Großmutter zu Besuch in Berlin.

Es ist ohnehin überhaupt nicht schön vom T., seinen Verwandten Geschenke zu machen, die seinen Freunden zur Last fallen. Entsprechend hatte mir der T. dann auch wochenlang verschwiegen, seine mir seit gemeinsamer Kindheit bekannte Großmutter nicht nur eingeladen, sondern auch meine Anwesenheit im Rahmen des Besuchsprogramms fest eingeplant zu haben.

„Wir sind gleich bei dir.“, kündigte der T. seine Ankunft mitsamt Großmutter in den Morgenstunden telephonisch an und reißt mich aus dem Schlaf. Mir bleiben von diesem Anruf an keine fünf Minuten, bis der T. die Tür aufreißt. Hoheitsvoll schreitet die Großmutter über meine schmutzige Dielen und versucht die Tatsache, dass ich Ihr um 11.00 Uhr vormittags im Bademantel entgegentrete, zu ignorieren. Es gelingt ihr mäßig.

Der T., ansonsten ortsüblich verschlampt, trägt sich zur Feier des Besuchs als ein Großmuttertraum aus Tweed, Cord und seidenen Tüchern und übt einen subtilen Druck aus, sich ebenfalls etwas anzuziehen, in dem ich ausschaue wie eine altjüngferliche Handarbeitslehrerin. Das Kostüm findet die Billigung der Großmutter, die Korallen um den Hals wünscht sie ausgetauscht zu sehen, und so macht der „Dienstmädchenflitter“ einer Perlenkette Platz. Und apropos Dienstmädchen – es gebe wohl ein Problem mit meiner Zugeherin? T.´s Großmutter betrachtet stirnrunzelnd den Fußboden und lässt mich an ihrem reichen Erfahrungsschatz bezüglich der perfekten Zugeherin teilhaben. Der großmütterliche Sermon endet in einem Seufzer über die Probleme, heute noch Mädchen zu finden, die in der Familie wohnen. Und das bei der Arbeitslosigkeit. – T., zu dessen wenigen Charakterfehlern einer ausgeprägter Neoliberalismus gehört, murmelt zustimmend irgend etwas Garstiges über die ehemals arbeitenden Klassen.

Dass es T. angesichts der großmütterlichen Suada über Kreuzfahrten und die gräßlichen Enkel anderer Leute unmöglich ist, der alten Dame allein gegenüberzutreten, ist vollkommen nachvollziehbar. Sein atypisches und geradezu aufreizendes Schweigen mag das Ergebnis einer annähernd dreißigjährigen Erfahrung mit dem Wesen der Großmutter sein. Indes wälzt mir der freundlich lächelnde und bis ins Restaurant kein Wort sprechende T. auf diese Weise die ganze Last der großmütterlichen Unterhaltung auf die Schultern.

Immerhin ist es völlig egal, was ich der alten Dame erzähle. Nach wenigen Worten werde ich unterbrochen. Mein Friseur sei wohl nicht gut. Ob ich eine Handcreme verwende? Französische Seifen kauft die Großmutter ja gar nicht mehr. Ob ich reite? Die Enkelin der Nachbarin von gegenüber habe ja Turniere geritten. Auch schon verheiratet, das gute Kind, und dabei jünger als ich. Zu frühe Hochzeiten nähmen kein gutes Ende. Aber zu lange solle man auch nicht warten. Nicht zu wählerisch sein. Die Wochenmärkte in Berlin? Wenn eine Kanne angelaufen, Silberkannen stets mit Backpulver – aber auf keinen Fall Sprühstärke, das verdirbt die Wäsche – weißes Fleisch macht keine Gicht, und ist eigentlich mein Vater schon pensioniert?

T. schaut durch die Fenster auf die Charlottenstraße und schneidet sein Fleisch in schmale Streifen, die er exakt parallel nebeneinander anordnet. Gräßlich wallt die Springflut des großmütterlichen Redeschwalls. Ich schaue der Großmutter fest in die Augen und denke an die Antigerontische Vereinigung. Ob die da schon ein Justitiariat haben? – Ab und zu nicke ich, sage „Nein, wirklich!“ oder „Ach was!“. Dann kommt der Kellner, räumt ab, und ich täusche dringende berufliche Verpflichtungen vor und springe davon.

Weidwund schaut mir der T. nach.

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