Meine Freundin erzählt von ihrem langsam in den Wahnsinn abgleitenden Bruder und tut mir leid dabei mit ihrem Schwanken zwischen Ekel und Mitleid und der feinen Prise von Selbstvorwürfen, die wohl immer dabei ist, wenn denen, die wir lieben, etwas geschieht. Hinter den großen Fenstern ist es kalt und dunkel, und das gedimmte Licht über der Bar wirft weiche Schatten, in denen die Gesichter verschwinden.
Wir sind alle tot, denke ich. Am Nachbartisch greift ein Mann seiner Begleiterin an die Wange, als wolle er sich vergewissern, dass da Fleisch ist unter seiner Hand. Die Kruste der Crème Brûlée bricht noch, noch kommt der Kellner, wenn ich winke und im Spiegel über dem viereckigen Waschbecken lacht noch eine Frau, die einmal mehr ihren Friseur wechseln sollte.
„Bist du auch wieder einmal daheim,“ begrüßt mich mein Vater, als ich noch in meiner Jacke das Telephon abnehme. Er ist heiterster Stimmung, plaudert und lästert, liest mir Rätselgedichte vor, und lässt mich ein Geschenk erraten, das er mir von einer kurzen Reise mitgebracht hat.
Kurz denke ich an jenes ausnahmslos geltende Tabu, eine Stimmung zu durchbrechen, aber dann frage ich ihn doch nach dem Tod. Und ob Berlin schon die Unterwelt sei, der Totenfluß irgendwann gleichgültig über eine Autobahnbrücke überschritten. „Ach, geh,“, lacht mein Vater, und malt mir in braunen und pastellenen Kreiden jenen Moment aus, ein Absinken in leuchtenden Schlamm, Schmerz und Verwandlung. Dann kündigt er ein Paket in den nächsten Tagen an und wünscht gute Nacht.
Als ich im Bett liege, klingelt es, aber ich mache nicht auf. Im Dunkeln stehe ich am Wohnzimmerfenster und sehe einen Wagen auf der anderen Straßenseite lange stehen und schließlich davon fahren.
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