Kunst und Frohsinn

Subjektiv stehe ich jeden Morgen kurz vorm Magendurchbruch. Objektiv scheint indes keine solche Gefahr zu drohen, und so schicke ich meinen Begleiter auf den weiten Weg um ein weiteres Glas Wein. Es ist in diesem an sich intimen und angenehmen Laden lauter und voller als an irgendeinem anderen Abend: Eine Frau in einer Art Vintage-Dirndl läuft mit einem Kuchen auf dem Kopf durch den Raum, Leute singen und das Lachen einiger Frauen, die gläserschwenkend zwischen den Tischen stehen, wird immer durchdringender und schriller.

Als weiter hinten im Raum eine Tischecke frei wird, versuche ich den Durchmarsch. An der ersten Ecke werde ich festgehalten. „Hey,“, begrüßt mich eine lockige Fremde, „Bist du Schauspielerin?“ Ich schüttele mittelmäßig irritiert den Kopf. Die Frage ist nachts während der Berlinale zwar nicht so abwegig, wie dies an anderen Orten oder zu anderen Zeiten anmuten mag. Allerdings ist die Vermutung individuell schon eher fernliegend, und so frage ich die Fremde nach der Ursache der Frage.

Die Frau, so stellt sich heraus, ist Regisseurin und plant einen Kurzfilm, der am kommenden Wochenende gedreht werden soll. Die Finanzierung steht, ein Kameramann ist aufgetrieben und das Drehbuch fertig, da verschwindet die mir optisch nicht unähnliche Schauspielerin und ward nicht mehr gesehen.

Das Drehbuch umfasst exakt zwei nicht ganz volle Seiten und könnte in seiner ganzen gespreizten Banalität von Judith Hermann stammen, so etwas mit melancholischem, einsamen Mädchen in Berlin, einem Kerl, emotionalen Ausbrüchen, Entfremdung trotz Gemeinsamkeit. „Das klingt ja total interessant!“, sage ich deswegen, und dass ich leider gar nicht schauspielern kann. „Macht nichts!“, sagt die Frau, und zieht mich um den Tisch. Auf einer Kiste sitzend probe ich den emotionalen Ausbruch. In der vollbesetzten Bar fällt mein Ausbruch gerade einmal nicht für fünf Pfennig auf, da außer meiner gespielten Szene noch mindestens zehn weitere Gefühlsausbrüche parallel stattfinden. „Fassungsloser!“, sagt die Frau. Auf der anderen Seite des Tisches grinst mein Begleiter und kippt weiteren Wein in mein Glas.

„Du machst das gut.“, sagt die Fremde dann, und fragt, ob ich mitmachen würde. „Klar,“ sage ich, und versuche mich zu erinnern, ob, wieviele und welche Termine ich am Wochenende verschieben müsste, und ob es sehr peinlich sein wird.

Die emotionale Siedestufe in der Bar erreicht unterdessen geradezu vulkanische Höhepunkte, die gläserschwenkenden Frauen quietschen und kreischen, und wir fliehen ins 103, wo fast alle guten Nächte enden.

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