Woanders

Erst von den weißen Polstern am Wriezener Bahnhof in die Sophienstraße, noch jemanden abholen, und dann hoch, 12 Stockwerke über dem Alex tanzen. Großartig ist es hier. Als es schon fast hell ist, aber eben noch nicht ganz, im Taxi weiter nach Friedrichshain. Meine Freundin auf der Fahrerseite lacht hin und wieder anlasslos ein wenig, und singt ein Lied an, das ich nicht erkenne. Uns fährt ein bärtiger Türke, der sein Taxi mit goldfarbenen Plastikblumen dekoriert hat, und kein Wort mit uns spricht. Der französische Dokumentarfilmer neben mir auf der Rückbank legt mir seine fette Hand auf den Oberschenkel und lallt, in fünfzig Jahren seien wir alle tot. Nach der allgemeinen Lebenserwartung männlicher Westeuropäer dürfte es meinen schwitzenden Nachbarn allerdings schon in gut zwanzig Jahren dahinraffen. Bei meiner Freundin ist er schon vor Stunden abgeblitzt, nun schiebe ich die fremde Hand zurück auf den dazugehörigen Bauch, und den Rest der Fahrt schaut er stumm aus dem Fenster die Stalinbauten entlang.

Die Wohnung, deren Tür sich einige Minuten später öffnet, wird ganz offensichtlich nicht zum Wohnen genutzt. An einem riesigen, wilhelminischen Tisch mit Knorpelkrebs sitzen ein paar Gestalten, meine beiden Begleiter begrüßen den einen, der ihnen mit offenen Armen entgegenkommt. Der Raum ist dunstig vor Qualm. Die Musik ist dafür angenehm, leise und geschmackvoll, langsam werden die Bässe in meinem Kopf leiser, und mit meiner Freundin setze ich mich zu einem bunt geschminkten Mädchen auf die Couch, die sich einige Minuten später als polnische Filmstudentin vorstellt. Einer der Männer am Tisch, ein hagerer Riese mit schwarzen langen Haaren, ist ihr Freund. Ein großer Künstler, sagt sie, wir nicken und fragen nicht nach.

Eine Art Kellner gibt es auch, wir bestellen Gin Tonic, und bekommen ein Tischchen herangezogen mit einem schweren Marmoraschenbecher drauf. Am Tisch fliegen die Karten, die Fremde, meine Freundin und ich trinken noch einen Gin Tonic, und als selbst durch die schweren blauen Vorhänge das Licht dringt, erinnere ich an meinen Zug ein paar Stunden später und gehe. Die Straßen sind ganz leer.

„Hey,“, flüstere ich ins Telephon auf der Fehrbelliner Straße, als der T. abnimmt. „Bist du schon zu Bett?“, frage ich, aber T. klingt ausgesprochen munter. Ich könne vorbeikommen, sagt T., Herzchen und Röschen, die neue Liebste, sei allerdings da und schliefe schon. „Macht nichts.“, sage ich, und klingele ein paar Minuten später. T. steht in der Tür.

Weil die Freundin einen robusten Schlaf hat, machen wir Musik an, Billy Idol singt, T. brüht einen Kanne Tee auf, und liest mir auf dem Balkon aus der Zeitung von gestern ein paar Nachrichten vor. Hinter den Vorhängen liegt die Freundin mit weit offenem Mund und grunzt ab und zu leise. „Macht sie immer,“, sagt T., und schenkt nach. „Hast du Kekse?“, frage ich, aber T. hat weder Gebäck noch sonst irgend etwas Essbares im Haus, und so ziehen wir uns an, und gehen frühstücken, sprechen über die Anschaffung türkisfarbener Pedro Garcia´s, sieben Zentimeter hoher Knöchelbrecher mit Seidenüberzug, und T. rät ganz entschieden zu. Ich puste mir die Haare aus der Stirn, beruhige meinen Magen mit frischem Pfefferminztee, und T. schaut ab und zu auf die Uhr.

„Du musst los.“, sagt er schließlich, und so lasse ich mein Frühstück stehen, und wir gehen langsam zur U-Bahn. Am Ostbahnhof fällt mir ein, meine Tasche vergessen zu haben, aber es wird auch ohne gehen, für ein paar Notfallkäufe am Zielort bin ich früh genug da, und als der Zug einfährt, steige ich ein, ein bißchen Geld und eine Karte in der Hosentasche, Zigaretten und Telephon in der Hand. T. winkt und geht langsam Richtung Ausgang.

Wenn ich nicht wiederkäme nach Berlin, denke ich, und schaue aus dem Fenster, würde meine Wohnung kündigen oder meiner neuen Mitbewohnerin einfach dalassen, und allen Freunden eine E-Mail schreiben, dass ich weggezogen bin, dann könnte ich morgen schon ein neues Leben beginnen. Nicht zu jener Freundin fahren, die auf dem Hauptbahnhof stehen und mich abholen wird, sondern irgendwohin, wo ich niemanden kenne. In einer anderen Stadt würde ich mit anderen Menschen leben, einmal schauen, ob es woanders vielleicht noch ein schöneres Leben ist als hier, ob das volle Glück vielleicht zwischen anderen Häusern wohnt, und dort jemand auf mich wartet, dessen Hände besser zu mir sind.

8 Gedanken zu „Woanders

  1. <dreistmodus>Vielleicht sollte ich Dir meine Hände anbieten</dreistmodus>
    <normalmodus>In Mauerzeiten war es verständlich, dass alle aus Berlin weg wollten.
    Aber dieses Phänomen hat sich gehalten. Ich glaube, kaum eine Stadt brütet so viel
    Fernweh aus wie diese.

  2. was hier nicht ist, ist nirgendwo

    Ach bleib doch hier – woanders – das sind alles nur Anfänge, ein paar Tage Schillern
    und Aufgeregtsein. Aber hier hast du Endlosigkeit. Das ist keine Stadt, das ist eine
    Ansammlung, ein Riesenplunderhaufen. Berlin macht mit den Jahren jeden ein wenig
    kirre, aber na und. Woanders – das ist nur was für Besuche.
    Und die Hände, die du suchst, sind gewiss hier, oder auf dem Weg hierher, warte noch
    eine kleine Weile.

    „… und was meine Hände fassen, kann auch hartes Eisen sein. Das tut nicht so weh,
    wie Seifenblasen. Meine Hände sind nicht fein…“ (Gundermann)

  3. REPLY:
    durchgestrichen

    ganz einfach. Vor dem durchzustreichenden Wort setzt man ein „s“ in spitze Klammern. Also mathematisch gesprochen: „Kleiner-Zeichen“, „s“, „Größer-Zeichen“. Und am Ende des Wortes dann dasselbe noch einmal, wobei vor dem „s“ ein Schrägstrich gesetzt wird. Also /s so.

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