Am Abend, wenn in allen Apfelblüten schon der Mond hing, saß mein Vater in dem Sessel neben meinem Bett und las vor. „Weit draußen im Meer,“, las er, „ist das Wasser so blau wie die Blätter der schönsten Kornblume, und so klar wie das reinste Glas….“, und ich zog mir die Decke bis unters Kinn und schlief ein, bevor die Meerjungfrau zur Meerhexe kam, und lange bevor sie den glatten, glitschigen, nassen Fischleib eintauschte gegen zwei Beine, die bei jedem Schritt schmerzten in ihrer schlanken Eleganz. Am Ende, dass wusste ich, würde der Prinz eine andere heiraten, die ein Mensch war von Anbeginn, aus einem Guß, und die Meerjungfrau würde ganz vergeblich das Wasserwesen von sich geworfen haben, und erst stumm, und dann zu Schaum werden und schließlich vergehen als ein dienender Geist der Luft.
Weinen hätte ich können über die Vergeblichkeit der Opfer, die Sprachlosigkeit der Meerjungfrau mit der zerschnittenen Zunge, und die Blindheit des Prinzen, der die Liebe nicht bemerkte, die da neben ihm schritt. Mag sein, dachte ich vielleicht, bemerkte der Prinz die Liebe der Nixe sogar, aber roch die erzauberte Natur der Beine, ekelte sich vor der Mühsal und der dunklen Magie, die es gekostet hatte, den schillernden Unterleib der Meerjungfrau zu verwandeln, und so kehrte die Meerjungfrau Abend für Abend ins Meer zurück, nicht mehr Meerjungfrau, nie Prinzessin geworden, körper- wie stimmloser Geist. Am Deck des Schiffes stand der Prinz und sah ihr nach, seine Braut im Arm. Der Prinz, wusste ich, würde sie vergessen.
Die Prinzessinnen verschwanden aus den Büchern, die im Nachttisch lagen und auf die abendliche Lesestunden warteten. Die Tiermenschen blieben, wuchsen, verloren die stumme Ergebenheit der Meerjungfrau mit der Sehnsucht nach den roten Blumen, und rasten als Zentauren durch die Wälder meiner Nächte. Als mächtige Ärzte, Erzieher, Giftmischer flüsterten die Zentauren von menschlicher Klugheit gepaart mit tierhafter Energie, von Wildheit, vom rohen Fleisch, das sie nährte. Der Geruch der nassen Pferde nach einem Ritt durch den Sommerregen den Waldrand entlang musste ihrer sein, aber auch die Zentauren verblassten, und in den Büchern, die sich nunmehr neben dem Bett stapelten, wurden die Tiermenschen weniger, keine wilden Schwäne kreuzten den Abendhimmel und warfen bei Nacht ihre Federn ab, kein Gott verwandelte sich in einen schwarzen Stier, die Welt verlor ihre Verzauberung, und nur selten wurde unter den Füßen unter den gedrechselten Tischen im Kerzenschein ein Bocksfuß sichtbar.
Irgendwo aber, weitab von dieser Stadt aus geborstenen Steinen und dem Staub der Baustellen, irgendwo in den Wäldern kämpfen nach wie vor die Zentauren. Ein Stier mit goldenen Hörnern teilt das Wasser. Und der Schaum, in dem die Meerjungfrau vergehen muss, gebiert ein neues Wasserwesen, unverletzlich, ganz, unteilbar und gepriesen von den Stürmen, die nachts übers Meer kommen.
Schön,
einfach nur schön.
Ein starkes Posting, ein Stück Wiederverzauberung der Welt,
ohne im Mindesten kitschig zu sein. Und mir fällt ein Interview mit
einem früheren Präsidenten von Island ein, der auf die Frage, ob der
„Aberglaube“ an Elben nicht ein Problem sei, erwiderte: „Ich komme aus den
Westfjorden, wo Elben nie ein Problem waren.
Worum ich mir ernste Sorgen mache, das sind die Trolle.“
Sie sind da, sie sind alle da. Im Wald, an der See, in den Bergen, man muss nur gut hinsehen. Also, ich spreche da natürlich für mich, ich habe Ihren schönen Text als so lebendig empfunden und ihn so interpretiert. Was heute noch dazukommt, sind die Figuren aus der Literatur, die ich jetzt lese… kein Fantasy, aber man sieht sie auch plötzlich, in der Strassenbahn, am Postschalter, auf der Arbeit.
REPLY:
Ja, ganz verschwinden die Tiermenschen nie, das Meer wird immer voller Nixen sein im richtigen Moment, die Wälder voller Elfen, in den Bergen graben die Zwerge, und sogar in Berlin sieht man ab und zu Feen und Zauberer um die Häuser schleichen.
REPLY:
Danke, Frau Croco. Und, Herr Che – die Trolle beunruhigen mich auch manchmal.