Ich bin ja leider ein wenig grobmotorisch veranlagt, und so nimmt es nicht wunder, dass das, was anderen Menschen vermutlich selten oder sogar nie passiert, am Montagmorgen tatsächlich eintrat: Mit dem rechten Zeigefinger tauchte ich ein in den Napf, in dem ich acht Stunden vorher meine formstabile rechte Kontaktlinse versenkt hatte, stocherte ein wenig herum, und hielt sodann nur noch das Fragment einer Kontaktlinse in der Hand. Ein sauber herausgebrochenes Stück lag nach wie vor auf dem Grund des Aufbewahrungsbehälters, und ein wenig fassungslos rang ich vor meinem Badezimmerspiegel nach Luft. Sehen konnte ich mich dabei nicht: Bei – 8,25 Dioptrien ist die durch ein Waschbecken erzwungene Distanz zwischen mir und meinem Abbild nahezu unüberbrückbar.
In einem Nebel aus bunten, verschwommenen Flecken fand ich schließlich meine Brille. Mit der Brille auf der Nase stand ich meinem Spiegelbild gegenüber. Ausgesprochen unansehnlich schaute mein Spiegelbild zurück, und ich riss das Gestell wieder von meiner Nase, um Abhilfe zu schaffen. Mit zusammengekniffenen Augen identifizierte ich die Nummer meiner Augenärztin und rief an. Mittwoch, so sagte mir die Schwester, sei mit einer neuen Kontaktlinse zu rechnen.
„Aber was soll ich denn bis dahin machen?“, versuchte ich, die Fassung zu bewahren und überlegte, welche Verabredungen und sonstige Auswärtstermine gegebenenfalls abgesagt werden müssten. Mit Brille, soviel war klar, sollte mich keine lebende Seele zu Gesicht bekommen. „Sie können sich eine Tageslinse holen.“, riet die Schwester und legte auf. Ich stieg in die Dusche, kleidete mich an und verließ das Haus.
Außer Haus, auch soviel war klar, war indes mit Passanten zu rechnen, und so tappte ich annähernd blind die Schwedter Straße aufwärts zum nächsten Optiker. Bis dahin, so hatte ich mir ausgerechnet, würden meine Orientierungsfähigkeiten auch ohne ausreichende Sehschärfe reichen, und ich betrat also das Geschäft auf der Ecke zur Kastanienallee in der sicheren Zuversicht, in wenigen Minuten daheim die Tageslinse einsetzen zu können. Das isolierte Tragen nur einer Kontaktlinse hatte sich in einem nur wenige Minuten währenden Versuch nicht bewährt, und von einem Pflaster auf dem rechten Auge nahm ich schon aus Angst um meine Augenbrauen auf der Stelle Abstand.
„Wir verkaufen keine einzelnen Tageslinsen.“, beschied mich indes die Angestellte des Optikerfachgeschäfts. „Sie müssen schon die ganze Packung nehmen, wir können die Packung sonst nicht mehr verkaufen.“ – Entsetzt stand ich vor den in unscharfen Umrissen der Verkäuferin. „Dann geben sie mir eben eine ganze Packung.“, resignierte ich, und die Verkäuferin kramte ein wenig in Regalen herum, die ich nicht sehen konnte. „Ihre Stärke haben wir gar nicht. Sie müssen bis morgen warten.“ – Ohne Bestellung taumelte ich aus dem Laden, die Kastanienallee aufwärts, unüberfahren über mehrere Ampeln und ins nächste Optikergeschäft auf der Schönhauser Allee, ein Stück nördlich von der U-Bahnhaltestelle Eberswalder Straße.
Die Verkaufsbereitschaft bestand hier durchaus, allein, meine Stärke war auch hier nicht zu haben. „Sie sind aber auch besonders kurzsichtig.“, merkte die Verkäuferin an, und bot mir an, statt dessen eine Linse mit ungefähr zwei Dioptrien weniger zu erwerben. „Ich versuch’s nochmal woanders.“, verließ ich auch dieses Geschäft und wanderte die Schönhauser Allee immer weiter, bis ich vor einer Filiale der Optikerkette Fielmann stand.
„Ich schau mal nach.“, versprach die Verkäuferin, verschwand und kehrte Minuten später mit zwei Linsen zurück. Bezahlen, so die Frau, müsste ich die Linsen auch nicht. „Dankeschön!“, rief ich euphorisch und hätte die Verkäuferin um ein Haar umarmt, jedoch wäre auch dies angesichts des totalen Verlusts der Fähigkeit, die räumliche Distanz zwischen mir und Personen wie Gegenständen in meiner Umgebung halbwegs abzuschätzen, vermutlich fehlgegangen, und überdies wäre ein derartiges Verhalten wohl auch nicht angemessen gewesen, und so verließ ich das Geschäft mit den Linsen in der Tasche.
Daheim stellte ich mir wieder vor den Spiegel, zog die Packung auf, und erschrak: Eine riesengroße Linse, doppelt so groß wie alles, was ich mir bisher jemals ins Auge gesetzt hatte, schwamm in der klaren Flüssigkeit. Erst eine knappe Dreiviertelstunde später war es mir gelungen, die Linse einzusetzen.
„Sie müssen die Linsen abends auf jeden Fall wieder herausnehmen!“, hatte mich die nette Optikerfachverkäuferin ermahnt, und ein wenig mulmig wurde mir bei dem Gedanken, dass dies nicht so einfach werden würde, wie das Entfernen der harten Linsen, die ich mir allabendlich mit einer Art Saugnapf, nicht unähnlich jenen Geräten, mit denen man sperrige Gegenstände aus verstopften Toiletten entfernt, aus den Augen hole. Weiche Linsen, dies hatte man mir mitgeteilt, seien einem derartigen Verfahren nicht zugänglich.
Viele Stunden später sollten sich meine Bedenken fürchterlich bewahrheiten. Mit dem Zeigefinger kratzte ich ein wenig über das Auge, versuchte vergeblich, den Rand der Linse zu ertasten und schob die Fingerkuppe auf der Oberfläche meines Sehorgans hin und her. Nichts bewegte sich. Auch eine Google-Anfrage „Weiche Kontaktlinse entfernen“ löste das Problem nicht. Ratlos und rauchend saß ich auf dem Rand der Badewanne und dachte angestrengt nach. Schlafen, soviel war mir bewusst, durfte ich mit der Linse auf keinen Fall. Zwei Stunden später, so etwa kurz nach sieben, rief ich die J. an und appellierte an ihre Fachkompetenz.
„Also,“, kommandierte die unsanft aus dem Schlaf gerissene Freundin. „Du drückst ein bißchen aufs Auge und schiebst den Zeigefinger nach oben.“ – Ich tat wie mir geheißen. „Jetzt müsste sich die Kontaktlinse eigentlich ein bißchen wölben, und dann nimmst du sie einfach heraus.“ Nichts wölbte sich. „Dann versuch’s einfach nochmal, ja? Und lass mich bitte noch ein bißchen weiterschlafen, ich bin hundemüde. Und ruf an, wenn du sie um neun immer noch im Auge hast, dann komme ich vorbei.“
Um 8.38 Uhr warf ich die Tageslinse in den Abfalleimer und legte mich schlafen.
…taumelte ich aus dem Laden, die Kastanienallee aufwärts, unüberfahren über mehrere Ampeln
so mancher text löst ja so mancherlei gefühle aus. aber bei diesem hier mache ich mir erstmalig ernstliche sorgen. was ist eigentlich aus der schönen sitte des ärztlichen hausbesuches geworden? liegt hier kein schweres krankheitsbild vor? meine ich doch. für’s erste: striktes ausgehverbot und einen lakaien, der den krempel holt. das ist ja wohl das allermindeste.
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Für sowas hat man gewöhnlich einen Lebenspartner oder eine Lebenspartnerin. Gerade Frauen schicken ja dann ihre Freunde mit ungewöhnlichen Einkaufzettel in Drogerien und Apotheken. Und dann fühlt man sich etwas merkwürdig mit diesen Frauensachen.
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Das geht so: Bekannten anrufen, mit weicher Stimme sagen: Klaus-Dieter?
Ja?
Ich brauche Dich.., ah, als Mann…
Schlucken auf der anderen Seite
Weil, als Mann kannst Du doch sicher dies und jenes für mich tun, ich bräuchte nämlich, und wenn Du es hast, kommst Du bei mir vorbei und…
Von hier an blind… Wo man nichts sehen kann, ist Fühlen bekanntlich keine Schande. Tasten Sie sich an einen Passanten heran, klammern Sie sich fest, verlangen Sie Halt und Unterstützung. So kurz vor dem Fest sind doch (fast) alle milde gestimmt. (Ansonsten hätte ich eine blonde Perücke, die ich Ihnen anbieten könnte. So erkennt Sie bestimmt niemand.)
Ein sauber herausgebrochenes Stück lag nach wie vor auf dem Grund des Aufbewahrungsbehälters, und ein wenig fassungslos rang ich vor meinem Badezimmerspiegel nach Luft.
Ah, ein Fall von Kontaktlinsen-Voodoo. Erlebe ich derzeit auch andauernd. Ich habe in den vergangenen vier Wochen drei weiche Kontaktlinsen verloren, gerade erst gestern wieder eine – so viel wie in den vergangenen 13 Jahren nicht. Immer nur die rechte, und natürlich gibt es diese Kontaktlinsen nicht mehr zu kaufen, ganz plötzlich werden sie nicht mehr hergestellt, habe ich am Dienstag erfahren. Jetzt besitze ich drei verwaiste linke Kontaktlinsen, die wegen unterschiedlicher Dioptrinzahl fürs rechte Auge nicht zu gebrauchen sind. Wenn ich jetzt noch die letzte rechte verliere, muss ich entweder zum Zyklopen mutieren oder auch daheim bleiben.
Freundin J. verwendet eine interessante Technik. Ich halte einfach mit der einen Hand die Augenlider des Auges auf und greife mit Daumen und Zeigefinger der anderen vorsichtig ins Auge an die Ränder der Kontaktlinse und schiebe die ein ganz klein bisschen zusammen, schwupps ist sie draußen.
Das ist jetzt wohl das erste Mal, dass ich froh bin, mich für eine Brille entschieden zu haben.
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Der geschätzte ehemalige Gefährte…
…ist sozusagen schuld, und dieser Text eine einzige Anklage gegen diesen Herrn, der es vorgezogen hat, am Montag Staatsexamen zu schreiben. Andere Herren wären erst abends greifbar gewesen, und solange wollte ich nicht warten. Ich kenne zuviele Berufstätige, ich brauche wieder mehr beschäftigungslosen Müßiggang um mich.
Wundervoller Text – viel geschmunzelt. Ich hätte übrigens Rat gewußt: man kann kleine, saugnapfähnliche Stöpsel erwerben, mit denen sich die Linsen entfernen lassen. Ich glaube, ich muß Ihnen mal meine neue Telefonnummer geben.
Und Bandini streut da mit seinem Seitenhieb auf den fehlenden Lebenspartner natürlich mächtig Salz in unser aller Wunden – sollte ich in meinen neuen Stadt krank werden, muß ich den katholischen Besuchsdienst anrufen.
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Ohne Sehhilfe…wie stellen Sie sich das vor? Nachher klammert man sich an ganz sonderbare Leute, die helfen einem dann, man sieht sie das erste Mal so richtig und bekommt einen Riesenschreck.
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Frau Arboretum, bei Ihnen auch die rechte? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, da bin ich mir ziemlich sicher, hier spielt jemand ein ganz linkes Spiel mit uns. – Wenn ich das nächste Mal eine meiner Linsen einbüße, werde ich mich ihres Tipps erinnern, und dann ausprobieren, ob Ihre Strategie oder die der J. schneller um Erfolg führen.
Ach ich, Frau Kirschrot, würde mich für eine Brille entschiede haben, würde ich damit halbwegs sozialkompatibel aussehen. Dies ist indes, ohne jede Übertreibung, nicht der Fall.
Was die kleinen Saugnäpfe angeht, Frau Fragmente, geht das leider nur mit harten Linsen, die Tageslinsen sind aber weich, aus Gummi, und müssen deswegen irgendwe so aus dem Auge geprokelt werden. Und was den Lebenspartner angeht – so ein Lebenspartner wäre doch vermutlich auch erst abends greifbar gewesen, es sind ja so entsetzlich viele Männer berufstätig, und bis dann hätten auch lebenspartnerlose Personen Menschen aufgetan, die sich zu Optikergeschäften schicken lassen. Und den katholischen Besuchsdienst (gibt es sowas in Berlin?) stelle ich mir ja ganz unterhaltsam vor.
so wie ich
manchmal morgens aussehe, wäre es schön, wenn diejenige, die neben mir erwacht, solch eine Sehschwäche hätte.
grinsenden Gruß
Mukono
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Exakt so ist auch mein seit Jahren erprobtes Vorgehen.
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Frau Modeste, den Verdacht habe ich auch. Darum drücke ich dem geschätzten ehemaligen Gefährten auch ganz doll die Daumen, dass er das Staatsexamen mit Bravour besteht, denn nur dann kann er den Übeltäter, wenn wir seiner habhaft werden, ordentlich verklagen.
Diese unheimlichen Saugnäpfe, Frau Fragmente, bei denen man immer fürchten muss, bei schlechtem Zielen gleich auch noch das ganze Auge herauszusaugen, sind für weiche Kontaktlinsen wirklich denkbar ungeeignet. Da müsste man hinterher wahrscheinlich nicht nur den katholischen Besuchsdienst anrufen.
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Die müsste dann aber besser weitsichtig sein, Kurzsichtige sehen auf die Entfernung noch sehr gut. 😉
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Ich habe einmal zugesehen, wie ein Mann, in den ich einmal sehr verliebt war, auf einem windigen Platz vor der TU im Dunkeln und bei Schneefall einhändig und ohne Spiegel sich seine weichen Kontaktlinsen einsetzte. Was habe ich ihn dafür bewundert! Ich brauche auch zum Einsetzen immer zwei Hände und einen Spiegel.
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Die besten Wünsche an den Examinierten. Ich drück ihm die Augen, äh die Daumen.
herjehmineh…ich habe 1,5 und fühle mich ohne Linsen oder Brille verdammt blind…ich mag mir gar nicht vorstellen wie Sie tapsend die Schwedter Straße (die ich übrigens sehr gut kenne, aber trotzdem nicht mit geschlossenen Augen betreten würde) lang geschlichen sind. Und wie die Fußgänger wohl auf Sie reagiert haben…
Herrlich! Endlich jemand, der die morgendlichen Leiden verstehen kann, wenn man die eigenen Füße nur in einer verschwommenen Entfernung erahnen kann.
… seltsam … bei mir zerreißt es auch immer nur die rechte linse … ich habe auch das problem, dass ich auf beiden augen unterschiedlich gut bzw. schlecht sehe – und deshalb lagern in meinem kühlschrank mehr linke als rechte linsen und warten auf den tag ihres einsatzes … ich befürchte nur, dass der nie kommen wird … ersatzlinsen habe ich überall deponiert – zu hause im kühlschrank, im büro im kühlschrank und ein paar habe ich immer noch in der handtasche … bin seit kurzem zu den „24 stunden am tag, 31 tage im monat“-linsen übergegangen – und es ist herrlich, morgens die augen aufzuschlagen und die uhrzeit auf dem wecker lesen zu können, ohne ihn an die nase zerren zu müssen 😉
Kontaktlinsen könnten so schön sein…
Ich hab´s auch vor Jahren mal mit Kontaktlinsen probiert, und es war der blanke Horror. An manchen Tagen merkte ich erst sehr spät abends, das ich sie gar nicht drin hatte. Lag sie doch seit der Früh im Waschbecken und ohne Haarsieb wär sie bestimmt in die Kläranlage geschwommen… *ggg* Meine Brille is noch nie im Waschbecken liegengeblieben…
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So ganz früh am Morgen, Herr Mukono, sind wir ja alle nicht die Schönsten. Kurz- oder weitsichtig hin oder her, Frau Arboretum hat aber natürlich recht – zum Glück muss man ja selten wählen.
Frau Caliente, von -1,5 träume ich ja höchstens. Ich bin ja faktisch blind. Geht aber auch so. Irgendwie. Und wie die Fußgänger reagiert haben, weiß ich ja nicht.
Frau Wortschnittchen schlägt mich natürlich auch in dieser Hinsicht um Längen.
Frau Blanca, an slche Linsen habe ich auch schon gedacht. Vielleicht mache ich das nochmal.
Herr oder Frau Namenlos, bei meinen Stärken könnte mir gar nicht entgehen, dass ich die Linsen nicht auf den Augen habe. In den Ausguss sind mir trotzdem schon Linsen gerutscht, die mein geschätzter ehemaliger Gefährte dann wieder herausprokeln musste. Ich händeringend daneben.
frau modeste, ich kann diese linsen nur empfehlen – selbst mein augenarzt tut dies ohne wenn und aber 😉 … beziehen kann man die recht günstig unter http://www.linsensuppe.de
viele grüße