Überhaupt schon immer war ich bekannt für meine ungewöhnliche Unfähigkeit, naturwissenschaftliche Zusammenhänge nachzuvollziehen, und irgendwann, so ungefähr in Quarta, gab der naturwissenschaftliche Lehrkörper mich auf. Ich begriff es nicht, ich würde es nicht begreifen, ich würde es überhaupt nie begreifen, soviel war klar, und dann ließ man es eben, schickte Briefe, denen zu entnehmen war, ich sei versetzungsgefährdet, und überließ mich ansonsten den alten Sprachen, Deutsch, Geschichte und Religion. Einmal, ein einziges Mal nur, packte mich ein Fünkchen Begeisterung, und vielleicht ist Dr. C. schuld, dass es nichts wurde mit mir und den Naturwissenschaften.
Dr. C., ein spitzbärtiger, kreidebestäubter Herr kurz vor der Pensionsgrenze, der alle möglichen Quälfächer unterrichtete, mochte Filmvorführungen, diese Filme, die ein besonders vertrauenswürdiger Schüler auf Rollen in der Kreisbildstelle abholen musste, und an deren Beginn jeweils eine Eule zu sehen war, die dem Institut für Wissenschaft und Unterricht oder so ähnlich als Logo diente. Es wurde also dunkel, Dr. C. lehnte sich bequem zurück, und man sah einen Film, in dem man Abbildungen der ersten Menschen sehen konnte, ihre ausgemalten Höhlen oder auch einfach nur Fledermäuse, vierzig Minuten lang Fledermäuse, die an Höhlendecken hingen oder Kleintiere fraßen. An diesem Tag, am großen Tag meines naturwissenschaftlichen Interesses jedoch, wurde das Weltall gezeigt, also erst die Erde, dann das Sonnensystem, die Milchstraße, und dann die nächstgrößere Einheit, deren Namen ich vergessen habe. Grün und blau, rötlich und irgendwie organisch sah das aus, nicht unähnlich den Darstellungen aus dem Biologiebuch, wie es im Inneren des Verdauungstraktes aussieht, und auch die schematische Darstellung des Weltalls ähnelte stark dem Inneren der menschlichen Zelle. Ich war beeindruckt.
Da saß ich also, ganz hinten am Fenster, 13 Jahre alt, und auf einmal war mir alles klar. In meinem Magen nämlich, vielleicht auch in meiner Milz, in meinem ganzen Körper, kreisten weitere Universen umeinander. Jene Universen bestanden aus wiederum unzähligen einzelnen Einheiten, Sonnensystemen sozusagen, die nur das grobe Forscherauge der phantasie- und inspirationslosen Naturwissenschaftler als bloße Zellen betrachtete, in denen nicht viel los war. In Wirklichkeit jedoch drängten sich ganze Welten aneinander, in den Mitochondrien tobten Sternenkriege, auf den einzelnen, winzigen Partikeln, aus denen wiederum die Zellen zusammengesetzt waren, krochen winzige Lebewesen herum, vierbeinige und zweibeinige, Miniaturkatzen und Großfamilien, Versicherungsvertreter und Unterabteilungsleiter, Zoologen und Physiklehrer, die in Großstädten und ländlichen Oberzentren ein behagliches Leben führten.
Natürlich wussten jene nichts über die größere Einheit, die ihrer Vereinzelung erst Sinn und planvolles Zusammenwirken verlieh. Eine dunkle Ahnung beschlich ab und zu die Intuitiveren unter den Minimenschen, und sie stammelten etwas von einem allmächtigen, allumfassenden Wesen, welchem sie phantasievolle Namen gaben. Die Klügeren weigerten sich überhaupt, einen Namen für jenes Wesen zu verwenden, von dem sie schließlich nicht wussten noch wissen konnten, dass es einfach „Modeste“ hieß.
Ich meldete mich. Mein Lehrer jedoch schenkte mir keinen Glauben. Die Minimenschen, die Universen im Zellkern, die winzigen Metropolen, weidende Kühe tief im Innern unseres Körpers – Dr. C. wollte nichts davon hören. „Nun lassen sie mich doch mal ausreden!“, versuchte ich, mir Gehör zu verschaffen, aber Dr. C. hatte nicht viel über für derlei Dinge, und so kam ich gar nicht erst dazu, die Theorie in ihrer ganzen erschreckenden Großartigkeit vor ihm auszubreiten und ihm zu erläutern , dass selbstverständlich auch wir alle im Innern einer riesigen Einheit wohnen, die wiederum Teil eines größeren Selbst, einer harmonischen Größe, eines beseelten Unversums sei, und dass größer als wir, unseren Blicken entzogen, vielleicht ein kleines Mädchen über eine Riesenwiese läuft, oder ein altes Weib in einem unvorstellbar großen Edeka-Markt mit einem exorbitanten Stück Käse in der Hand an der Kasse steht.
Dr. C. jedoch schnitt mir einfach das Wort ab und diktierte die Hausaufgaben, und ich legte die Naturwissenschaften endgültig zu den Akten.
so ähnlich wird es Houellebecq in der schule wohl auch gegangen sein. du hingegen hast schreiben gelernt!
Herr Humboldt haette es Ihnen geglaubt und mit Sicherheit in seine Kosmos Reihe mit ausdruecklicher Danksagung an Mme. Modeste aufgenommen. Ihr Name waere also schon 1827 in der Singakademie ausgerufen worden. Hausaufgaben ist eines dieser Horrorworte, die Pavlov-artig des Gruseln lehren und die eigentlich glueckende Verdraengung zerstoeren.
Klasse!
Das ist wieder ein hervorragender Beitrag: man sollte mal ein paar zusammenstellen und sie in einem Bändchen zusammenstellen. Könnte man dann immer verschenken, ohne die web-Adresse zu verraten. Axel Hacke macht ja auch nichts anderes.
Heute morgen beim Frühstückmachen fiel mir ein, was ich an Ihrem weblog mag: es ist nicht so ein Durcheinander. Es ist – auf die einzelnen Beiträge hin gesehen – umfassend, man muss nicht ständig überlegen: was will sie uns damit sagen? Es wertet nicht, es berichtet.
Das ist wirklich gut!
Ich bin – allerdings etwas später als Sie, vielleicht mit 16 – zu der gleichen Einsicht gelangt. Besonders fasziniert mich, daß sich Elektronen um Atome auf ähnliche Weise zu bewegen scheinen wie Monde um Planeten. Klingt es da nicht wahrscheinlich, daß auch die Atome in irgendeiner Form bewohnt sind? Und wir, wir können dies einfach nicht sichtbar machen, weil unsere Mikroskope nicht gut genug sind. Oder ist es unsere Vorstellungskraft, der es an Auflösungsvermögen fehlt? Vielleicht sind es Lebewesen, die einer anderen Physik unterliegen, oder einer, die wir noch nicht verstehen. Welle – Teilchen – Dualismus, Welten aus Energie und Schwingung.
Mir hat damals jemand zugehört. Meine Chemielehrerin (die vor ihrer Lehrtätigkeit übrigens als Krankenschwester in der Psychatrie gearbeitet hat).
Welchen Weg ich sonst genommen hätte, und welcher nun besser für mich ist – das bleibt ein Rätsel.
Ich wäre jedenfalls froh,
liebe Frau Modeste, wenn die Studierenden in meinen Seminaren mal ein wenig auf die von Ihnen angedeutete Weise Kreativität zeigten und Verbindungen phantasierten zwischen den verschiedenen Wissenschaften – und vielleicht sogar ein wenig Literatur einbezögen; allzu oft sind die meisten mir einfach zu ruhig, nur zuhörend, zu wenig kreativ; – im übrigen ging es mir ähnlich wie Ihnen, allerdings im Deutschunterricht; der oft noch vom Vorabend merklich alkoholisierte OStR U. erklärte mich pauschal für zu jung und zu unreif, um Literatur, zumal Lyrik, überhaupt zu „verstehen“; heute wage ich mich ganz schüchtern wieder daran, nasche ein bißchen und spüre: manches schmeckt mir ja doch sehr gut; vielleicht weil ich inzwischen viel älter (und reifer ?) bin und der Herr OStR U. endgültig im Delirium versackt ist?
So ca. mit 14 tat ich endlos lange nichts anderes, als mit mir die von Ihnen aufgeworfenen Fragen und Phantasien zu diskutieren und unglaubliche Welten im Geiste enstehen zu lassen, oftmals begleitet von einem wehmütigen, nächtlichen Starren hinauf zu den Sternen. Indes meine schulischen Leistungen insbesondere in den Naturwissenschaften einem desaströsen Tiefpunkt entgegeglitten und sich meine Teilnahme am Familienleben auf die Anwesenheit zur Nahrungsaufnahme beschränkte. Wunderbar 🙂
Das Universum ist in uns
Schön geschrieben. Kreative Phantasie, wäre in den Naturwissenschaften auch deutlicher angebracht. Jeder von uns ein Universum, eine Singularität. Klasse.
Du solltest kein understatement hinsichtlich deines Verständnisses für die Wissenschaften machen.
REPLY:
wir sollten vielleicht mal eine verschwörungs-theorie darau basteln. sowas läßt sich dann im nachhinein auch gut verfilmen … (o;
nachdem ich die grundsätzliche atomphysik ziemlich gut kapiert hatte kamen mir in dem alter ähnliche gedanken. das russische puppenprinzip. wenn es keine begrenzung des raumes im sinne von „weite“ gibt – warum sollte es eine im sinne von „enge“ geben?
Erinnerung an M. M. (frei nach B.B.)
für Sie und den Herrn Sokrates
…
Und auch die Story hätt‘ ich längst vergessen
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär‘
Die weiß ich noch und werd‘ ich immer wissen
Sie war sehr weiß und sah aus, wie ein „Sumoringerheer…“
Einmal, Frau Saoirse, schreiben wie der Houellebeqc. Da würde ich vielleicht nicht meine Seele für verkaufen, aber meinen linken, kleinen Zeh – das bestimmt. So schreiben können, das diejenigen, die’s lesen für ein paar Minuten die Welt durch meine Augen sehen – das muss großartig sein. Große Kunst. Würde ich auch gern können. Dann, Herr Gheist, würde ich mich auch in der Singakademie ausrufen lassen. Und für die Herren Humboldt habe ich sowieso eine Schwäche.
Nicht so ein Durcheinander, Herr Reuter? Da fühle ich mich aber geschmeichelt. Ich bin bekannt für mein heilloses Durcheinander. Jeden Morgen wache ich auf und murmele „Wir ordnen. Es zerfällt…“ – Dann murmele ich nicht weiter, um mich nicht schon vor dem Frühstück zu frustrieren.
Dass Sie als eine ausgewiesen kompetente Naturwissenschaftlerin meine jugendlichen Ideen nicht für vollkommen absurd halten, Frau Fragmente, freut mich natürlich besonders. Was aus mir geworden wäre, wenn Dr. C. damals nicht…aber ich kann nicht klagen, insofern alles bestens, und Dr. C. hat vielleicht doch kein schlechtes Werk getan, nur eine Verschwörungstheoretikerin ist nicht aus mir geworden, Herr Timanfaya, und die Atomphysik habe ich auch nicht verstanden.
Zusammengenommen wären wir vielleicht ein guter Schüler. Den Deutschunterricht nämlich, Herr Sokrates, den habe ich ja gemocht, und meine Deutschlehrerin Frau B. war ein Schatz, von deren Unterricht ich lange gezehrt habe und es vielleicht immer noch tue.
Und mit 14, Herr Mayer, ist das doch ganz normal. Es sind die mit 14 ganz normalen Leute, vor denen man sich in acht nehmen muss. ich bin mir sicher, diejenigen Klassenkameraden, die mit 14 ganz normal waren, sind heute ganz, ganz seltsam.
Und ich betreibe, Herr Nickpol, kein Understatement. Ich wäre jahrelang fast sitzengeblieben wegen der leidigen Naturwissenschaften. Bitterer Ernst und null Koketterie.
Und Wolken wie ein Sumoringerheer, Herr Wallhalladada, da erinnert man sich doch gern, auch wenn nicht geküsst, und zudem zu wenig geschrieben wird. Den nächsten Text gibt es aber nicht erst im September.
Dass Ihre Versetzung wegen den Naturwissenschaften gefährdet war, kann gar nicht an Ihrem mangelnden Verständnis der Materie gelegen haben. Um diese Theorie zu entwickeln – die ich selber übrigens im ungefähr selben Alter auch erwog – braucht es doch zumindest einen einigermassen soliden Überblick über den Stoff. Nein, vielmehr muss es an mangelnder Phantasie und zu geringem Humor der Lehrpersonen gelegen haben, die – nebenbei bemerkt – in ihren Fächern noch lange nicht brilliant sein müssen, nur weil sie diese unterrichten. (Dass ich eher das Gegenteil vermute, tut vielleicht manch einem Unrecht, deshalb schreibe ich es hier nur in Klammer.)
In Wirklichkeit waren Sie Ihrer Zeit weit voraus, Frau Modeste; erst jetzt, wo Quantenphysik und Esoterik muntere Verbindungen eingehen, stellt man sich die Fragen, mit denen Sie sich schon als Teen konfrontiert sahen. Da kommen dann auch so skurril-verspielte Filme wie „What the #$*! Do We Know?“ heraus. (Eine sehr amüsante Kritik hierzu findet sich bei Roger Ebert.)
REPLY:
Meine Versetzung, Frau Aqua, war jedes Jahr eine höchst spannende Sache. Vielleicht beichte ich ja mal meine nicht so besonders spektakuläre Schulkarriere. Dass ich überhaupt Abitur habe, wundert mich angesichts meiner alten Zeugnisse noch immer.
Und dass ich, Schlüsselkind, meiner Zeit weit voraus war, fand Dr. C. anscheinend auch, allerdings kleidete er diese Erkenntnis in die nicht besonders freundlichen Worte, ich sei ein wenig vorlaut und frühreif.