Schweigen

Wie die Götter vergehn
und die großen Caesaren,
von der Wange des Zeus
emporgefahren –
singe, wandert die Welt
schon im fremdesten Schwunge.
schmeckt uns das Charonsgeld
längst unter der Zunge.

Gottfried Benn

Im 3. nachchristlichen Jahrhundert verwirren sich die Fäden, die das Reich zusammenhalten, und es schweigen die Literaten, als gebe es nichts mehr zu erzählen. Doch ob nur kein Buch auf uns gekommen ist, ob gar nicht erst geschrieben wurde: Die wüsten Jahrzehnte vor Diokletian, die Jahre der Soldatenkaiser, sie stehen vor uns auf mit geschlossenen Lippen und leerer Miene. Kein Dichter spricht von dem Niedergang der civitas, dem Ruin der Freibauern und der Not der kleinen italischen Städte, durch die die Söldner ziehen, immer wieder, bis es keinen Unterschied mehr macht, ob Freund oder Feind die letzte Kuh davontreiben, die Schüsseln auf den Schwellen zerschlagen und mitnehmen, was sie nicht vor Ort verbrauchen, denn wüst sind die Zeiten, und die Schreiberschulen geschlossen wie die Schulen der Rhetoren.

Aber auch in jenen Tagen verliebt sich ein Hirte in ein Mädchen, das in einer Schenke die Teller spült. Eine Dame erwartet ein Kind von einem syrischen Sklaven und hängt sich in den Pflaumenbaum, als es aufkommt. Ein Soldat verspricht die Heimkehr, eine Frau wartet vergeblich, und fern, in den äußersten Reichsprovinzen, die nur lose noch, an ein paar letzten, zerschlissenen Fäden am Körper Roms hängen, zerfällt ein Leichnam, für dessen Rückkehr ein paar hunderte oder tausende Kilometer entfernt gebetet wird.

Ein Mann kauft sich ein Haus, die Bäume wachsen, ein Junge träumt von Ruhm, Glorie des Feldherrn, denn die Welt ist groß geworden für denjenigen, der nach den goldenen Äpfeln greift, die vormals nur denen gehörten, die unter ihren Zweigen geboren wurden. Aber die Zeit der Aristokratie ist vorbei, und was am Ende des 3. Jahrhunderts sich Adel nennen wird, in diesen Tagen wird er geboren, und fließt aus dem Blut der Toten auf allen Schlachtfeldern, auf denen Barbaren im Solde Roms gegen fremde Barbaren kämpfen. Noch ein paar Generationen, und halb Europa wird sich auf den Weg machen, irgendwohin, wo das Leben besser sein soll als daheim an den Ufern der Donau, des Rheins oder in den Steppen des Ostens.

Große Romane werden erlebt, die wir nicht kennen. Aufstieg und Niedergang, und vielleicht saß mancher alter Soldat zernarbt über mühsamen Aufzeichnungen, die die Zeit verschlungen hat. Vielleicht waren die Seiten voll von Trauer und blutiger Liebe, von all den Toten für das römische Reich, der übernationalen, überzeitlichen Idee eines Imperiums, aber nichts liegt in unseren Händen, und die Jahre wenden sich ab und schütteln den Kopf auf alle unsere Fragen.

Mag sein, es wurde nicht geschrieben. Mag sein, es hat nichts getaugt. Aber singen und erzählen muss der Mensch, und wenn nichts, kein Wort, kein Vers, keine Träne und kein scherzhaftes Wort auf uns gekommen ist, so mag es der Geist der Geschichte selber sein, der seine ungeratenen Kapitel schweigen heißt, wie auch unsere Jahre vielleicht schweigen, später, wenn dies alles vorbei ist, und nichts von uns und unseren Tagen bleibt als eine vage Erinnerung an etwas Wüstes, an die Auflösung einer alten Ordnung, an den Verfall einer ehrwürdigen Kultur zugunsten etwas Grellem, Lautem, an die vergeblichen, lächerlichen Versuche der Restauration, an die Trauer um etwas, dessen Verwesung wir nur zuschauen können. Die Erinnerung wird auch uns vielleicht einmal die Hand über den offenen Mund legen, damit auch wir kein Zeugnis ablegen von unseren verdorbenen, faulenden Tagen und dem Schmutz aller unserer Nächte. Ruhig wird es dann sein.

Und am Ende, wenn alles gut geht, spült das Meer von den Küsten, was von uns übrig bleibt, und aus den Wogen wird sich etwas Neues erheben, sauber und klar, weiß wie ein Sommermorgen, Stahl und blitzende Zähne. Ein menschenleerer Stier wird an Land gehen, und wir werden vergessen sein wie jene, und vielleicht ist das gut.

6 Gedanken zu „Schweigen

  1. Wie schön,

    dass der angesprochene ‚Geist der Geschichte‘ Ihnen offenbar eine andere Direktive gegeben hat, als Sie schweigen zu heißen…!
    Nur zu gerne wüßte ich allerdings Näheres über Ihren speziellen Auftrag,liebe Frau Modeste…?
    Ich stell mir einfach vor, jener ‚Geist‘ habe Sie geheißen so zu ‚bloggen‘, dass am Ende Ihrer Geschichten dem Leser die Wüste bis zum Hals steht und das ist ganz sicher gut so!

  2. Es kann die Spur von meinen Erdentagen

    (oder heißt es: von unseren Erdentagen) nicht in Äonen untergehen, klingt ja auch ziemlich verzweifelt. Nun ist gut zweihundert Jahre her, seitdem dies Goethe schrieb. Und ich weiß schon nicht mehr genau, ob er sich in der Einzahl oder Mehrzahl sah. Was soll erst paar hundert Jahre später mit Goethen geschehen? Er wird vergessen sein. Ja, aber wenn selbst Goethe vergessen sein wird…
    Vielleicht ist tatsächlich in jenen noch ferneren Zeiten eine „Hochkultur“ versteckt und vergessen. Es ist wohl alles nicht so wichtig, und die eigentlichen Menschheitsfragen bestehen schon seit Jahrtausenden, und es gibt keine Antworten. und so wird es wohl fernerhin sein, oder.

    lieben Gruß

    Mukono

  3. Wüsten, Herr Wallhalladada, liebe ich ja. Das Nichts, die totale Reduktion. Nichts als Sand, Herr Gheist: Das, was am Ende überbleibt, das Unzerstörbare, Taube, Gefühl- und Bewusstlose. Schönheit der Auslöschung.

    Und am Ende, Herr Mukono, ist wohl Goethe auch nicht wichtiger als ein Blatt, ein Blumenstrauß, und dieses Schweigen am Ende, Furcht und Sehnsucht.

  4. Wenn ich anfange, Ihre Texte zu lesen, dann geht es mir wie Stanislaw Jerzy Lec: „Hinter jeder Ecke lauern ein paar Richtungen„. Heute sagt man dazu wesentlich prosaischer: „Der Weg ist das Ziel“.

    Hat der Sie gekannt, liebe Frau Modeste?

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