„Der steht total auf dich!“, versichert die blonde Freundin ihrer dunkelhaarigen Begleitung am Nachbartisch im 103. „Und warum ruft er dann nicht an?“, fragt die mit den langen, dunklen Haaren ihre blonde Freundin nach den Beweggründen eines gewissen Florian und rührt mit einem langstieligen Löffel in einem Glas frischen Pfefferminztees, als ginge es darum, die schwimmenden sattgrünen Blätter möglichst klein zu hacken. „Der ist total schüchtern.“, behauptet die Blonde und zieht das „a“ bei „total“ ganz, ganz lang. „totaaaaal“, sagt sie, so ein bißchen nasal.
Der anrufverweigernde Florian traue sich einfach nicht heran an eine so starke Frau wie die dunkelhaarige, erklärt die Blonde die Psyche des unbekannten Florian ihrer Nachbarin und greift sich energisch in die dünnen Haare. Florian, der irgendwo auflegt, markiere zwar die coole Sau, aber das sei alles nur Fassade. Florian müsse deswegen ermutigt werden, ordnet sie an. Ihre Freundin nickt.
Einfach anrufen ginge aber nicht, denn die Dunkle, die anscheinend Nicki heißt, hat Florian offenbar schon einmal angerufen. Ziemlich wortkarg sei er am Telephon gewesen, berichtet die Dunkle und spielt mit einem riesengroßen Plastikring. „Klar!“, nickt die Blonde, als habe sie genau das erwartet. Der Anruf der Dunkelhaarigen habe Florian so aus dem Konzept gebracht, dass er gar nichts hätte sagen können. Deswegen riefe er jetzt auch nicht an, erläutert sie weiter. Florian hege Versagensängste und hätte die Befürchtung, einer so tollen Frau wie der Nicki nichts zu sagen zu haben.
Leicht mokant, mit der winzigen Hebung der linken Augenbraue, die ich nie beherrschen werde, nimmt meine Begleitung die Ausführungen am Nachbartisch zur Kenntnis. „Oh mein Gott.“, murmele ich, nehmen einen tiefen Schluck aus meinem Glas heißer Zitrone, und hole tief Luft.
„Geht’s euch noch gut?“, überlege ich einen kurzen Moment meine Nachbarin einmal laut anzusprechen. „Florian wird überhaupt nie anrufen.“, würde ich fortfahren. „Florian hat einfach kein Interesse an dir, denn jenseits des zwanzigsten Lebensjahres pflegen nur noch diejenigen Menschen heimlich verliebt zu sein, die guten Grund zu der Annahme haben, ein Geständnis ihrer Gefühle werde vom Adressaten als lästig empfunden. Wer interessiert ist, dem merkt man das auch an.“
Wenn ich schon so schön in Fahrt wäre, würde ich natürlich gleich weitermachen: „Florian, wer auch immer das ist, hat auch keine Angst vor starken Frauen, sondern höchstens eine Antipathie gegen dicke Frauen, und dick ist für den durchschnittlichen Berliner DJ jede Frau, die mehr als 45 Kilo auf die Waage bringt. Florian hat vermutlich auch kein Faible für Frauen über dreißig, nicht mal dann, wenn sie sich benehmen, als seien sie zwölf.“
Statt dessen trinke ich weiter. Die beiden Frauen zahlen und gehen, und in der Tür dreht sich die Dunkelhaarige noch einmal um. Sehr alt sieht sie in diesem Moment aus. Noch sieht man die Falten neben ihrem Mund nicht so genau, und nicht die hängenden Wangen. Man ahnt ein bißchen, wo die Markierungen einmal sein werden in nicht mehr ganz so vielen Jahren.
Unseren täglichen Selbstbetrug gib uns heute, murmelt es halb amüsiert, halb sarkastisch neben mir, und ich schwöre mir, so ehrlich wie möglich zu sein, wenn es einmal so weit ist, und fürchte, dass mehr Ehrlichkeit den beiden Frauen nicht möglich ist, die jetzt an den Fenstern der Bar vorbeigehen, die Kastanienallee hoch, und sich freundlich anlügen, weil das Leben kalt und grau und nicht auszuhalten ist, wenn Florian nicht anruft, und auch keiner sonst.
Meisterhaft geschrieben, Modeste, wunderschön!
Ich überlege mir, Dich künftig mit „Eure Süffisanz“ anzureden.
„Florian hat vermutlich auch kein Faible für Frauen über dreißig, nicht mal dann,
wenn sie sich benehmen, als seien sie zwölf.“ ist super!
Wobei ich einwende, dass es wirklich Männer über 20 gibt, bei denen frau nicht merkt,
wenn sie verliebt sind. Ich verstehe etwas davon, denn ich gehöre dazu.
Klingt nach einer späten Generalabrechnung … war Modeste mal in einen Berliner DJ verliebt? 🙂
Ach Fräulein Modeste,
irgendwann werf ich mich nach einer ihrer Geschichten aus dem Fenster. Ehrlich.
Und das heute, wo ich, dunkelhaarig, auf Anruf eines Florians warte. Es wird immer absurder.
103
Ich weiß nicht, was das „103“ ist. Aber Bach scheint es gewußt zu haben: seine Kantate 103 heißt im Titel „Ihr werdet weinen und heulen“. Da Bach auch eine Kantate für das Zimmermannische Caféhaus in Leipzig komponiert hat (BWV 211, „Schweigt stille, plaudert nicht!“), gibt es eine gewissen Berechtigung zu vermuten, dass das o.g. Werk ebenfalls eine entsprechende Zielgruppe anspricht. Aber es könnte natürlich auch umgekehrt sein: dass Bach überhaupt an sowas nicht gedacht hat, die Macher des „103“ sich in der Voraussicht des zu erwartenden Publikums aber genau diesen Namen ausgesucht haben.
Es kann aber auch alles mit nichts zu tun haben. Oder irgendwie alles mit allem ein bißchen.
REPLY:
Interessante Beobachtung
Dass es auch Männer über 20 gibt, denen man das Verliebtsein nicht anmerkt, Che, höre ich immer mal wieder, indes schien mir besagter Florian nicht zu der Sorte zu gehören, bei denen sich dies so verhält. Die Berliner DJ’s scheinen mir eher nicht schüchtern zu sein, und die zur Schüchternheit gehörenden Selbstzweifel sind dort wohl eher nicht zu Hause (außer vielleicht: sitzt mein Haar?). Dies wohl, Herr Stimme, einer der maßgeblichen Gründe, weshlab mich diese Herren tatsächlich nie besonders gereizt haben. ich habe ein unglückliches Faible für Männer mit Brillen und vielen Büchern, die ihrerseits allerdings meistens eher keine Vorliebe für kurzsichtige Frauen mit vielen Büchern haben, aber das ist ein anderes Thema.
Was Ihren Florian angeht, Frau Veen, so handelt es sich hoffentlich nicht um den Herrn, von dem die Rede war, denn von denjenigen Herren, die man so gemeinhin als „coole Sau“ spricht, kann ich nur abraten. Wie auch immer – ich hoffe, er hat angerufen. Und so depriminierend geht es hier doch gar nicht zu, oder?
Das 103, Herr Reuter, eine Bar zu nennen, trifft es sozusagen nur fast. Bei diesem, auf der Ecke Kastanienallee/Zionskirchstraße belegenen Lokal handelt es sich vielmehr um einen der magischen Orte von Mitte, die jeder kennt, fast jeder hasst, und trotzdem mindestens einmal monatlich hingeht.
Und interessant, Herr Sokrates, ist ja so gut wie alles.