Onkel A. findet, man sollte sich schämen. Tante M. findet, Weihnachten solle man nicht über den Krieg sprechen und über den Kommunismus könne gar nicht wenig genug gesprochen werden. Onkel A. solle besser noch ein Stück vom Stollen essen und vielleicht ein bißchen Klavier spielen. Widerstrebend setzt sich Onkel A. auf den Schemel und klimpert ziemlich lustlos Weihnachtslieder. „Die Kinder sollen mitsingen!“, fordert Tante M. uns auf, aber wir bleiben sitzen. Tante M. seufzt.
Auf dem Tisch türmen sich auf mehreren Tellern Schokoladenweihnachtsmänner und stanniolverpackte Süßigkeiten. Nougatgefüllte Kugeln, Nüsse, Mandarinen und gebräuntes Königsberger Marzipan, kleine runde Schokoladenplätzchen mit bunten Streuseln drauf, Lebkuchen und Plätzchen. Die mit den roten Klecksen in der Mitte sind von Tante M. Ab und zu stößt uns die Großmutter an, auch von den Plätzchen der Tante zu essen. Tante M. sei sonst traurig, flüstert sie uns zu. Ihre eigenen Plätzchen sind auf diese Ermahnung nicht angewiesen. Kleine Kokosberge gibt es und Vanillekipferl, bunte Butterplätzchen und Zimtsterne, Schokoladenhäufchen und Engel mit einer Nuß im Bauch.
„Modeste verträgt keinen weißen Zucker.“, behauptet meine Mutter. Das stimmt nicht, aber ab und zu erinnert sich einer Erwachsenen an die mütterlichen Ermahnungen und schiebt den Teller weg, wenn ich komme. Meine Großmutter dagegen weiß, dass Zucker nicht schädlich ist für Kinder, und steckt mir Süßigkeiten zu, wenn meine Mutter nicht hinschaut, und gelegentlich auch, wenn meine Mutter danebensitzt. Meine Mutter schweigt. Ihre Schwiegermutter sei schwierig, wird sie ein paar Tage später ihrer besten Freundin erzählen.
Damit ich auch etwas zu naschen habe, hat meine Mutter extra Süßigkeiten mitgebracht, Fruchtschnitten und Studentenfutter aus dem Reformhaus. Die mag ich nicht. Die meisten Fruchtschnitten isst deswegen der lustige Onkel U., der seine neuen Freundin mitgebracht hat, mit der keiner spricht. Ziemlich geschminkt ist die Freundin, die ich Jahre später als Internistin an einem Berliner Krankenhaus wiedertreffe. „Die Kellnerin“ nennt sie meine Großmutter, als sei das etwas Unanständiges. Irgendwann tuscheln Onkel U. und seine neue Freundin miteinander und fahren dann einfach weg, obwohl wir doch so schön zusammensitzen, Kinder, sagt die Großmutter vorwurfsvoll. Mein Großvater nickt. Schuld ist die Kellnerin, die keinen leichten Stand haben wird in den nächsten Jahren, trotz Hochzeit und Kind. Die Scheidung musste ja so kommen, werden die alten Damen eines Tages sagen, die Schwestern des Großvaters, die nebeneinander am Couchtisch sitzen und viel zu selten besucht werden. Kinder sind undankbar, ist man sich einig.
Die Hunde müssen in der Küche bleiben, denn im Wohnzimmer steht der Weihnachtsbaum, der umkippen könnte, wenn ein Hund dagegenläuft. Im Esszimmer haben Hunde nicht zu suchen, und so hört man es gelegentlich in der Küche bellen und jaulen, wo vier Hunde aufgeregt auf viel zu engem Raum zusammengesperrt warten. Meine Mutter schmollt, weil ihr Hund trotz nachweislicher Wohlerzogenheit auch nicht ins Wohnzimmer darf.
Die Tante H. hat letztes Jahr versucht, sich umzubringen, und hat nun wie ein rohes Ei behandelt zu werden. Benommen von Medikamenten, von denen sie wieder fröhlich werden soll, sitzt sie verschämt auf dem Sofa. So etwas tut man nicht, sagt die alte Tante D. in der Küche zur Großmutter. Wir sollen im Gästezimmer spielen, aber die Bücher habe ich schon ausgelesen, die neue Puppe mag ich nicht, und Cousin J. will seinen Lastwagen nicht hergeben. Geschrei, Cousin J. weint, und ich muss mich entschuldigen. Cousin L., der schon 15 ist, ängstigt die Kleinen mit Geschichten von menschenfressenden Gespenstern und wird deswegen in die Küche beordert, Geschirr abtrocknen.
Tante H. wird nun doch etwas lebhafter, weil die Medikamente wirken, und findet es nicht gut, dass es Weihnachten nur um Kommerz geht. Weihnachten ist das Fest der Familie, weist meine Großmutter sie zurecht. Onkel A. findet Weihnachten auch verlogen, mein Vater scheitert am Aufbau eines Fischer-Technik-Baukrans, und seine Tanten sprechen ununterbrochen auf ihn ein.
„Die Kinder sollen singen.“, fordert Tante M. und nochmal auf. „Ich will nach Hause!“, plärrt eine der kleinen Cousinen. „Kinder, kommt ihr singen?“, greift Tante M. sich rechts und links je ein Kind und schleppt uns zum Klavier. – „Lass doch die Kinder in Ruhe!“, steht Onkel A. vom Klavierhocker wieder auf und schließt den Deckel. „Tu den Kindern doch den Gefallen!“, befiehlt die Tante ihn vergeblich zurück. – „Es gibt gleich Essen.“, unterbricht die Großmutter. Tante M. ist beleidigt.
„Nächstes Jahr bleiben wir zu Hause.“, behauptet meine Mutter am nächsten Morgen auf dem Heimweg. Stur schaut mein Vater geradeaus auf die Autobahn. „Das können wir meiner Mutter nicht antun.“, wird er zwölf Monate später meiner Mutter vorhalten.
Ein weiteres Jahr später aber ist der Großvater tot, die Großmutter folgt zwei Jahre später, und fünf weitere Jahre später hören meine Eltern auf, Weihnachten zu feiern und fahren einfach weg, irgendwohin, wo keine Weihnachtsbäume wachsen.
Großfamilie? Mit vielen Tanten und Onkels?
Irgendwie blieben mir große Familienfeste mit Unstimmigkeiten vorenthalten.
Was macht denn Tante H. heute?
Ihr Weihnachten hielt gut die Waage zwischen Katastrophe und Lachnummer.
meine eltern hörten vor sieben jahren auf, weihnachten zu feiern. allerdings wollen sie es dieses jahr mal wieder versuchen. immerhin mit kindern und noch einer großmutter. ob das gut geht …
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Das ist kein Verlust. wir hatten auch so eine Feier, allerdings nach Weihnachten, am Todestag meines Großvaters. War nicht immer angenehm. Dabei sind die eigentlichen Dramen natürlich totgeschwiegen wurden. Hätte sonst auch „Das Fest“ betitelt werden können.
Großfamilie ist, Herr (?) Nielsson, etwas übertrieben. Allerdings kamen schon ein paar Leute zusammen, wenn alle Geschwister der Großeltern und die Kinder samt Kindeskindern aufgetaucht sind. Die Tante H. ist übrigens nach wie vor am Leben und inzwischen in Pension, nehme ich an. ich habe aber nicht viel mit diesem teil der Familie zu schaffen.
Dass solche Treffen eher unangenehm verlaufen, scheint in der Natur der Sache zu liegen, Herr Marbot, wenn auch wirklich fette Leichen in unseren Tiefgeschossen eher nicht so unterwegs waren, oder aber man hat sie mir nicht erzählt. Vielleicht geht’s aber auch viel netter, Frau (?) Breezerbox, und Ihr Weihnachtsfest wird trotz familiärer Beteiligung super.
Ob mehr katastrophal, oder mehr komisch, Herr F, hängt wahrscheinlich sehr von der Perspektive ab. Ich fand’s okay, ich war zu klein, um groß Performance machen zu müssen, und als ich alt genug war, so etwas unerquicklich zu finden, fanden diese Feiern nicht mehr statt.
Gruseligees Szenario… auch schlimm ist, wenn man Blödflocke eerm Fiepklotz erm Blockflöte spielen muß. Dann muß man nämlich schon irgendwann, also ich weiß nicht mehr genau wann, aber meine getrübte Erinnerung sagt mir was von Mitte Mai, könnte auch August gewesen sein, anfangen die Weihnachtslieder zu üben. Wo das doch eigentlich keiner hören will. Wo man doch so schlecht spielen kann wie man will, die Eltern sind immer ach-so-stolz. Meine waren das nie. Deswegen spiel ich jetzt Negergehopse auf dem Klavier. Hallelujah!
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Die Blockflöte, dieses Folterinstrument für die ganze Familie – ich habe jahrelang spielen müssen und weiß seitdem, wie sich die Posaunen des Jüngsten Gerichts aus der Nähe anhören.