Der J. trödelt. Der J. sucht in der ganzen Wohnung nach seinen Schuhen, verwirft die schwarzen mit der Ledersohle aus Witterungsgründen, hält zwei andere Paare prüfend nebeneinander, und bindet mit aller Gemächlichkeit schließlich das ausgewählte Paar zu. Eingepackt in eine Barbourjacke mit Fell, eine rote Pashmina und warmen Stiefeln stehe ich an der Tür. Die Handschuhe habe ich schon wieder ausgezogen. Es ist 18.35.
Auf der Schwedter Straße ist kein Vorankommen. Unruhig rutsche ich auf dem buckelig-vereisten Bürgersteig hin und her. Zwanzig Meter hinter mir, seelenruhig mit den Händen in den Taschen, spaziert der J. zur U-Bahn. Wir hätten doch noch 35 Minuten, wehrt der geschätzte Gefährte jede Eile ab.
„Ja, eben!“, bemühe ich mich, nicht hier an Ort und Stelle auf der Ecke zur Schönhauser zu explodieren. Es gelingt eher mäßig. Um 19.15, halte ich ihm vor, seien wir vorm Haus der Berliner Festspiele verabredet, welches sich bekanntlich am anderen Ende der Welt befindet. Außerdem haben wir die Karten, auch für die J. und die C.
Um 18.41 verpassen wir die Bahn. 19.17 wären wir mit dieser Bahn – inklusive Umsteigen – am Bahnhof Spichernstraße gewesen, das geht nun nicht mehr, und deswegen steigen wir am Alex aus. Es ist 18.55. So schnell es geht, laufe ich über den Platz, an Kaufhof vorbei, im Slalom um Passanten herum, die in hellen Heerscharen einfach so auf dem Alexanderplatz herumstehen. Aufreizend gemütlich schlendert der J. hinterher. Vor der S-Bahn warten die Taxen.
Um 19.02 fährt das Taxi los. Es werde knapp, teilt der Fahrer mit, denn am Potsdamer Platz demonstrieren irgendwelche Leute gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen. „Das ist mir egal! Wir haben es eilig!“, rufe ich aus, und der Fahrer fährt ein wenig zusammen. „Zentrale – hat sich die Demo am Postdamer Platz aufgelöst?“, fragt er über Funk an. Gott sei Dank. Die Demo ist vorbei. Der J. sieht mich strafend an. Diese verfluchten Ausbrüche, kann ich es ganz deutlich auf seiner Stirn geschrieben sehen.
Als wir im Foyer stehen, ist keiner da. Es ist 19.18, weder die J. noch die C. warten, und dass die C. auch nicht in allernächster Zukunft eintreffen werde, teilt sie per SMS mit. Sie brauche noch zehn Minuten. Inzwischen ist wenigstens die J. erschienen. Außer uns ist ganz Westberlin da. Der Altersschnitt liegt deutlich über vierzig. Das Foyer ist voll und vor den Garderoben drängeln sich ältere Herren mit den Mänteln ihrer Frau.
Es läutet. Die C. ist noch nicht da. Um 19.29 gebe ich ihre Karte am Einlass ab. Um 19.30 geht der Gong zum zweiten Mal. Um 19.31 rauscht die C., ohne den Einlass auch nur eines Blickes zu würdigen, durch die Tür. Mit offenen Mündern stehen die Einlasswärter und sehen der C. nach. Kreidebleich – sie muss gerannt sein – lehnt die C. an der Holzvertäfelung und japst ihre Anginaviren in die warme Luft. Den Mantel behält sie an.
Hinter uns schließt sich die Tür und parallel zum Erscheinen der Schauspieler drücken wir uns unter halblauten Entschuldigungen durch die Reihe. Tut mir leid, flüstere ich ungefähr sechs- bis siebenmal. Dann geht es los. Ullrich Matthes spricht. Und ja – der Onkel Wanja ist tatsächlich so grandios, wie alle sagen.
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