Bewegte Bilder

Eisenstein in Guanajoto

Auf dem Heimweg wird es kalt. Vielleicht ist es auch gar nicht wirklich so kalt, vielleicht ist es nur der Gegensatz zwischen dem knallbunten, hitzigen Mexiko in Peter Greenaway’s Eisenstein in Guanajoto, aber ich ziehe mir auf dem Weg zur M 4 fröstelnd die Pashmina etwas höher und vergrabe die Hände tief in den Taschen. So heiß wie in Mexiko wird es hier nie.

Ich mochte den Film bestimmt eine ganze Stunde lang, weil ich Eisenstein mag und weil ich es mag, wenn sich ein Film traut, mehr als nur ein Guckkasten zu sein, und das Kunterbunte macht mir außerdem Spaß. Irgendwann in der zweiten Hälfte hatte Greenaway mich dann verloren, weil mir erst von den vielen Kreisfahrten der Kamera ein klein wenig übel wurde, und weil auf einmal dann doch das Clowneske der Darsteller das Menschliche überwog, und ich mir nicht vorstellen konnte, dass auch sie bluten, wenn man sie sticht.

Ein wenig manieriert schleppte sich der Film durch die Mittellagen, und als ich am Ende mit der J. vorm Kino stand, war ich mir nicht sicher, was ich über den Film denken sollte, ob ich ihn eher empfehlen oder eher vor ihm warnen sollte, oder es eher bedauern sollte, dass von all den großen Gefühlen, den Siegen und den Niederlagen, von all dem Feuer am Ende der Moderne nur ein paar Schlacken bleiben, die bisweilen ein wenig funkeln, nimmt sie einer noch einmal für eine Stunde des Spiels in die Hand.

Hobbit

Irgendetwas stimmt nicht mit dem Auenland. Ich kann gar nicht sagen, woran es genau liegt, aber auf sonderbare Weise sieht das Heimatdorf von Bilbo Baggins deutlich unechter aus als in dem doch einige Jahre älteren Herrn der Ringe. Diese Verschlechterung der Optik zieht sich durch den gesamten Film. Bruchtal sieht inzwischen haargenau so aus wie die beleuchteten, elektrisch bewegten Bilder sehr, sehr blauer Wasserfälle, die man in türkischen oder vietnamesischen Trödelmärkten kaufen kann.

Vielleicht hätten wir uns doch für eine sehr, sehr große Leinwand am Potsdamer Platz oder so entscheiden sollen, schaue ich schon eher skeptisch einer sehr sichtbar dem Computer entsprungenen Schlacht zu, bei der das Zwergenreich Erebor gegen einen in der Tat sehr feurigen Drachen verliert. Möglicherweise sieht das in 3D besser aus.

Leider findet 3D in dem kleinen Filmtheater am Friedrichshain bei mir um die Ecke nicht statt. Überhaupt hat man sich aus obskuren Gründen entschlossen, diesen ausgesprochen gigantomanen Film ausgerechnet im kleinsten Kinosaal 3 zu zeigen, in dem sich die Zuschauer nun wie gepackt drängen. Ich nehme an, woanders wäre es weniger eng. So habe ich drei Stunden lang meinen Mantel auf den Füßen.

Als die drei Stunden vorbei sind, kann ich über den Film erstaunlich wenig sagen. Ja, es ist, soweit ich mich der mehr als zwei Jahrezehnte zurück liegenden Lektüre des Kleinen Hobbits erinnere, alles drin, was reingehört, und – soweit ich mich nicht täusche – auch noch Einiges mehr. Sieht man von der merkwürdigen Künstlichkeit der Bilder ab, so sieht der Film auch wirklich gut aus: Es ist Peter Jackson einwandfrei gelungen, jeden Effekt aus dem Buch im Film erstaunlich originalgetreu umzusetzen. Als beispielsweise mitten in der größten Not – der böse Ork hat den Zwergenkönig schon fast am Schlafittchen – Adler kommen, um die Zwerge samt Zauberer Gandalf und Hobbit einzusammeln, so sieht die Szenerie genau so aus, wie man sich das halt so vorstellt. Auch die unterirdischen Trollhöhlen sind gut getroffen. Den einen oder anderen Disney-Effekt hätte man sich sparen können, so habe ich singende Protagonisten schon seit Schneewittchen gehasst, aber nun singen die Zwerge halt schon bei Tolkien, und so lasse ich den Gesang eben über mich ergehen.

In der Summe bleibt gleichwohl fast so etwas wie Enttäuschung, als ich mit dem J. langsam nach Hause gehe. Vielleicht hat man sich selbst an sehr großartige Bilder schon zu schnell gewöhnt? Vielleicht ist die Story doch ein bißchen dünn, um gedrittelt einen Film in Überlänge zu tragen? Vielleicht fehlt es, wie der J. meint, an einer Identifikationsfigur, mit der man ein wenig mitfiebern könnte? Vielleicht liegt es aber auch an mir, die ich mich mit den Jahren immer schlechter auf etwas Anderes einlassen kann. seien es Menschen, seien es Bücher, sei es ein Film.

Joseph und seine Brüder

Vielleicht liegt’s an der dreimonatigen Theaterabstinenz. Aber trotz der fast durchweg abscheulichen Kritiken, die man so liest: Mir hat es gefallen.

Gut, den speziellen Charme von Thomas Manns Tetralogie strahlen die rund drei Stunden“Joseph und seine Brüder“ im DT nicht aus. Das stellt man sich auch schwierig vor: Dieses Oszillieren aller dramatis personae, in der jeder einerseits er selbst in reinster menschlicher Dimension, andererseits aber sein eigener Mythos, also Archetyp wie Individuum gleichermaßen, darstellt und dies gleichzeitig auf unsagbar delikate Weise sowohl weiß als auch nicht weiß, ist kaum zu reproduzieren, und so hat es Dramaturg John von Düffel wohl auch gar nicht versucht. Einen Hauch der – wie soll man es anders sagen – lieblichen Heiterkeit der Geschichte vom hübsch-schönen Joseph und seinen ungeschlachten, ungeliebten Brüdern jedoch vermag die Inszenierung durchaus zu vermitteln, und die vielfach eingesetzten scherenschnitthaften Sequenzen hinter großen Laken wirkten auf mich (aber die bestallte Kritik sah das anders) liebenswürdig und nicht schlichter, als die an sich ja durchaus märchenhaft orientalische Geschichte verträgt.

Natürlich fehlt Einiges, was mir lieb ist. Die Eltern des Potiphar etwa, die ganze Geschichte um dessen Eunuchentum. Ganze Sequenzen, die den Roman umranken, derer er aber für den Fortgang nicht bedarf. Der Tod der Rahel, diese rührend unkitschige Sterbeszene, die wohl schönste, die Thomas Mann schuf, schöner noch als die beiden Kindestode, die des Hanno und die des Nepomuk Schneidewein, schöner auch noch als den Tod Aschenbachs in Venedig. Auch taucht Pharao nur kurz und schemenhaft auf, wo Thomas Mann den Echnaton, diese wohl interessanteste Figur der ägyptischen Geschichte, in einen weiten Bogen stellt. Zuletzt kommt auch Gott, der große Puppenspieler, Vaterbild und -vorbild, durchaus nicht so allwaltend auf, wie es in Thomas Manns Roman durchaus auch dort der Fall ist, wo man gerade nicht von ihm spricht. Die Regiesseurin Zandwijk hat also eine Art atheistischen Joseph auf die Bühen gebracht.

Gut unterhalten habe ich mich gleichwohl gefühlt. Einsam saßen wir, der W. und ich, oben im zweiten Rang, Reihe 1, ganz in der Mitte, und sahen auf die Bühne herab. Kalt war es geworden nach einer ganzen Woche Sommer, und ziemlich zufrieden fuhr ich heim, vorbei an den Bars, vorbei an den Restaurants, durch die sonderbar leere Torstraße unter nächtlich-schwärzlichen Bäumen und wog, einmal daheim, die vier beige-braunen Bände in der offenen Hand, die wohl nicht den wichtigsten deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts darstellen, wie man so sagt, aber, befragte man mich, den schönsten, den lichtesten, den, über den sich am weitesten ein blauer, lächelnder Himmel spannt von uns bis zu denen ganz am Anfang und vor aller Zeit.

Unfassbare Langeweile

Nie – ich wiederhole: nie – habe ich mich so unsagbar gelangweilt wie gestern abend im Friedrichstadtpalast während der rund 60 Minuten, in denen ich Robert Pattinson bei dem in jeder Hinsicht misslungenen Versuch zugesehen habe, Guy de Maupassants Bel Ami darzustellen.

Mit einem Wort: Es ging nicht. Aber beginnen wir von vorn:

Sicher ist die Verfilmung des Bel Ami nicht leicht. Romane der Belle Epoque verführen – dem widersteht auch diese Verfilmung nicht – dazu, sich sehr in den Ausstattungen zu verlieren und zwischen Plüsch, Spiegeln, Spitzen, Silber und Orchideen zu vergessen, dass wir über Vorgänge in einer überaus komplexen Gesellschaft sprechen, deren Mitglieder ebenso nüchtern wie wir ihre Interessen verfolgten, gute Rechner, vital und ausgebuffter als wir Kinder eines gezähmten und saturierten Zeitalters, das das Frankreich des dritten Napoleon nicht war, diese Gesellschaft von Aufsteigern mit einem guten Appetit und ohne die Müdigkeiten, die erst eine Generation später die Kinder dieser Gründerzeit befallen werden wie eine seltene und erlesene Krankheit.

Diese Raffinesse zeigt die aktuelle Verfilmung uns nicht. Es geht in Maupassants Roman nicht um Sex, erst recht nicht um Liebe. Es geht um Politik als Vehikel von Gier und Ehrgeiz. Es geht um Intrigen, es geht um die Frage, wie weit die Skupellosigkeit uns trägt, wenn wir ganz nach oben wollen in einer überaus dynamischen Gesellschaft, die Maupassant uns entkleidet aller moralischen und religiösen Bindungen beschreibt. Es geht um Winkelzüge, es geht um sehr kluge und sehr kalte Leute, die miteinander und gegeneinander spielen, nicht viel anders als ein Jahrhundert vor ihnen die Aristokraten der Liaisons Dangereuses. In dieser Verfilmung sehen wir von der Kälte und der Bösartigkeit der Pariser Gesellschaft in Politik und Presse aber nichts. Wir sehen keine Reptilien. Wir sehen nur ein paar Frauen, die sich von einem Vorstadtbeau beeindrucken lassen und dabei zwangsläufig enttäuscht werden. So simpel sind Maupassants Geschöpfe aber nicht. Der Film erzählt eine andere, eine einfachere und weniger interessante Geschichte als der Roman.

Das Drehbuch wird auch den Dialogen des Romans nicht gerecht. Alles, was die Protagonisten sagen, hat bei Maupassant einen doppelten Boden, denn jeder (und eben nicht nur Georges Duroy) instrumentalisiert und betrügt hier alle anderen, Liebhaber und Gatten ebenso wie Freunde, Freundinnen und Geschäftspartner. Dies aber sehen wir nicht, wir empfangen nicht einmal Andeutungen. Wir sollen dem Drehbuch die Wendungen glauben, die die Geschichte nimmt, aber nichts in dem, was wir sehen, motiviert das Wechselspiel der Personen untereinander.

Absurd auch und nicht zuletzt ist Besetzung. Robert Pattinson soll derzeit ein Star vorwiegend der minderjährigen Mädchen sein. Ich kenne keinen anderen Film, in dem er eine tragende Rolle spielt. Für den Bel Ami aber fehlt ihm alles, was diese gar nicht so komplizierte, aber eben nicht alltägliche Person auszeichnet: Pattinson fehlt der infame Charme, das Ruchlose an Duroy. Keinen Moment glaubt man diesem etwas simpel wirkenden Mann die Skrupellosigkeit, sich über Glück und Gefühl der Frauen auf seinem Weg gedankenlos hinwegzusetzen, die Gleichgültigkeit gegenüber dem öffentlichen wie innerlichen Urteil und insbesondere – hier aber wird es wirklich prekär – die Kraft für eine schmutzige Karriere, das Tierhafte, die guten Zähne und den guten Schlaf.

Ungefähr alle 20 Minuten zieht Pattinson sich aus. Die kleinen Mädchen wird das voraussichtlich freuen, die großen Mädchen und erst recht wohl die großen Jungs lassen diese Szenen vermutlich eher etwas ratlos zurück, denn für die Handlung sind sie nicht erforderlich, und für ein optisches Vergnügen reicht Pattinsons erotische Ausstrahlung schlicht nicht aus. Es hat sich mir keinen Moment lang erschlossen, warum eine erwachsene Frau – und sowohl Madeleine Forestier (Uma Thurman) als auch Mme de Marelle (Christina Ricci) und Mme Walters (Kristin Scott Thomas) sind erwachsene Frauen – sich auf Pattinson einlassen sollte. An Charisma, Optik und Charme kann es jedenfalls nicht liegen, zumal Pattinson als einziges Mittel der Verführung einen langen, direkten Blick einsetzt, der vermutlich nicht einmal dann zum Erfolg führen dürfte, wenn das Gegenüber deutlich schlichter wäre als alle weiblichen Hauptpersonen. Dass einige der anderen Schauspieler die Kunst der Darstellung fremder Leute wirklich beherrrschen macht es übrigens nicht besser, sondern stellt die Schwächen der Verfilmung eher noch deutlicher aus.

Am Ende bin ich also gegangen. Das Kino war voll. Neben mir saßen ein paar sehr junge Mädchen. Im Foyer tranken ein paar Leute Bier und lachten laut und fettig über irgendetwas, das ich nicht verstanden habe, und im Taxi nach Hause (es war noch nicht einmal eins) fielen mir die Augen kurz zu. Die Berlinale ist vorbei.

Bel Ami
UK, Italien, Frankreich 2012

Handwarme Mittellagen

Dann aber – morgens so gegen 12.00 Uhr auf der Friedrichstraße – gefällt mir der Film auf einmal doch nicht mehr so gut, obwohl in Was bleibt alles passt, wenn Hans Christian Schmid kunstgerecht eine Familie impodieren lässt, die binnen eines Wochenendes an ihren Wahrheiten zerfällt.

Die Schauspieler – allen voran der großartige Lars Eidinger – spielen sozusagen ordnungsgemäß. Die Ausstattung des Hauses der Eltern, eines Verlegers und seiner depressiven Frau, die nach 30 Jahren auf einmal ihre Medikamente absetzt, passt bis ins letzte Detail. So wohnen Eltern eben, und so sind ihre Kinder, der erfolglose Zahnarzt und der Bruder, der Berliner Schriftsteller mit der versägten Ehe und dem Sohn, dem einzigen Enkel Zowie. Auch die Dialoge passen, die Beziehungen untereinander wirken nachvollziehbar und zwingend, und doch fehlt etwas, nicht objektiv und nach den Regeln der Kunst, aber mir, mir ganz persönlich, denn so lauwarm ist das alles, so mittelgroß und mitteltragisch und egal, dass ich auf dem Weg zum Bus den Film schon so ein wenig vergesse.

Was bleibt
Deutschland, 2012

So viele Jahre

„So war ich auch mal 25.“, sage ich zum W., als wir vorm Kino stehen und zähle für mich die Jahre, die vergangen sind, seit wir so waren wie Marie und Francis aus Montreal und die Leute, mit denen Xavier Dolan sie umgibt.

So sahen auch unsere Parties aus, erinnere ich mich an ein fröhliches Chaos aus vielen Flaschen, Aschenbechern, einer wüsten Mischung aus sehr hübschen und sehr klugen Menschen, gelallten Gesprächen über Filme, Bücher und Bands und sehr, sehr lauter Musik. Überhaupt war das Setting recht ähnlich und auch die Manierismen von Marie und Francis pflegten auch manche meiner Freunde, die immer auf der Jagd waren nach einem eleganten, alten, verschlissenen Sessel aus Chintz, über deren Betten vergoldete Geweihe hingen und die sich anzogen wie Tote, deren Leben dramatischer und bedeutungsvoller erschien als das von uns Mittelstandskindern in den satten Jahren der Republik, in der wir erst Schulkinder waren und dann Studenten. Ich kann mich noch an die stilisierte, romantisch ausschweifende Handschrift des T. erinnern, an den Siegelring des Großvaters vom J.2, den dieser in der Oberstufe wochenlang trug, bis er ihn irgendwo an einem bretonischen Strand verlor. Die ganze Nacht haben wir gesucht.

Auch so verliebt wie Marie und Francis waren wir ständig. Es war das schiere Glück, nie in denselben Mann verliebt zu sein wie andere Freundinnen oder Freunde, denn auch wir hätten uns gehasst, in aller Freundschaft natürlich, um den Geliebten um die Wette geworben, uns gedemütigt, weil das zur Liebe dazugehört, und auch bei uns wäre es nie etwas geworden, weil ein glücklicher Ausgang im Drehbuch gar nicht vorgesehen war. Auch in Dolans Film kann man sich nicht einmal vorstellen, dass Marie oder Francis glücklich würde mit Nicolas, so einem blonden, zarten Epheben, der zuerst ein bißchen naiv erscheint, als würde er die Liebe gar nicht bemerken, und dann wie ein sehr, sehr guter Spieler, den es freut, wenn die Saat aus kleinen Aufmerksamkeiten und langen Blicken keimt und bunte, ausschweifende Blüten trägt, und der die Zeichen, die Marie und Francis begierig lesen, missdeuten, verrätseln und aufladen mit Drama und Spannung auf den erlösenden Schluss, bewusst setzt wie ein Maler bunten Pinselstriche auf eine Leinwand. Am Ende entzieht er sich beiden.

Traurig oder einsam wirken Marie und Francis trotzdem nicht. Es haut nicht hin mit der Liebe, Francis (gespielt von Dolan selbst) fügt einen weiteren Strich zu seiner Dokumentation amourösen Scheiterns an der Badezimmerwand dazu. S*x gibt es nur mit Freunden, mit denen es nur um Haut und nie um Herzen geht, doch gleichwohl wirkt der Film, der mit Bildern, Zitaten und Reminiszenzen spielt, heiter und nie so ernst, als sei die Liebe etwas, an dem man stirbt. Vielleicht ist es das Licht, denn der Film (und die Liebe) zeichnen einen Sommer nach bis im Herbst die Blätter fallen. Vielleicht sind es die Einblendungen von anderen Personen, die über Fehlschläge in der Liebe sprechen und das Geschehen so relativieren, denn das, was jedem zustößt, kann nicht außerordentlich sein. Vielleicht ist es auch die Freundschaft zwischen Marie und Francis, vielleicht aber ist es auch die Jugend aller Protagonisten, denn damals – so erinnere ich mich auf dem Weg durch den Abend die Torstraße hoch – war nichts so ernst, nichts wirklich dramatisch, alles nur Pose und Vorspiel und Spiel überhaupt.

„Es war schön, 25 zu sein.“, sage ich zum W. und verabschiede mich und biege ab an der Trust Bar vorbei durch die sich langsam erwärmende Nacht.

Les amours imaginaires (Herzensbrecher)
Canada, 2010

Journal :: 21.11.2010

Die Hölle sind nicht immer die anderen. Die Hölle, das ist man selbst. Zumindest Johnny Marco (gespielt von Stephen Dorff), Schauspieler in Sofia Coppolas neuem Film, ist eine Eine-Person-Hölle vom Feinsten, gefangen in Langeweile und Eintönigkeit, die ganz allein in Johnny Marco selbst ihren Ursprung hat und nirgendwo sonst.

Dass es Johnny an nichts fehlt, nicht an Erfolg, an Frauen, nicht an Komfort, macht die Sache nicht besser. Er treibt ziellos durch seine Tage, nichts entzündet seine Leidenschaft, er will nichts haben, nichts erreichen, er will nirgendwo hin. Johnny Marco ist angekommen, und am Ziel ist nichts. Fast wünscht man ihm ein kleines Problem, etwas Beherrschbares, vielleicht den Wunsch, einmal Hamlet zu geben oder eine unglückliche Liebe zu einer verheirateten, sehr ehrbaren Frau, aber alles, was einer wie Johnny sich wünschen könnte, scheint er zu haben.

Johnny Marco hat eine Tochter, eine hübsche, begabte Elfjährige, so frühreif, wie KInder halt sind, deren Eltern nicht erwachsen werden, und dieser Tochter ist er ein zugewandter, freundlicher Vater, aber auch das hilft nicht weiter. Die Sonne scheint, das Chateau Marmont ist ein Hotel, das genau richtig abgeschabt erscheint und genau richtig bequem. Ein kurzer Ausflug nach Italien – Johnny erhält einen Preis – zeigt eine Ecke des Wahnsinns, der sich an Berühmtheit festmacht, aber auch das führt nirgendwo hin. Johnny ist müde, aber selbst das vermag er kaum zu artikulieren. Ein kurzer Ausbruch am Telephon, als er seine Tochter im Sommercamp abgeliefert hat, die kühle Verständnislosigkeit am anderen Ende der Leitung, und schließlich führt der gemächlich mäandernde Weg des Johnny Marco irgendwo in die Weite. Er lässt seinen Ferrari am Straßenrand stehen und geht davon. Kann sein, er kommt wieder. Wo soll er auch schon hin, wo er ein anderer wäre als er ist, und aus dem Film voll der schönen, trägen Bilder von den glänzenden Oberflächen der Welt schlendern auch wir heim, ein kurzes Stück Straße, zurück in unser Leben, das nicht so komfortabel ist, auch nicht so leer an Leidenschaften und Zielen, und doch klafft vielleicht dort, wo der Kern im Fruchtfleisch sitzen sollte, ein schwarzes Loch und eine ziehende Sehnsucht, es möge etwas anders sein als es ist. Vielleicht sind das wir.

Journal :: 24.10.2010

Unfassbar. Man hätte nach zwanzig Minuten gehen sollen, als immer noch ein Trichter über der Bühne des Deutschen Theaters hing, durch den die Schauspieler sprachen. Nun steht – es ist ein Gastspiel – das Ensemble des Thalia-Theaters nebeneinander auf der Bühne und sagt die Rollen auf wie die Sänger in einer konzertant aufgeführten Oper.

Neben mir windet sich der J. Nun gut, Lessings Nathan war vielleicht noch nie der deutschen Literatur spannendstes Stück. Dass die Inszenierung von Stemann aber dermaßen quälend ausfallen würde, war nun auch wieder nicht klar. Es ist unfassbar und bodenlos grässlich.

Die Bühne ist so gut wie leer. Irgendwo auf der schwarzen Fläche stehen zwei Schreibtische, die Mikrofone, an denen die Schauspieler in Hose und Hemd stehen und sprechen, und als irgendwann sehr klassisch verkleidete Personen erscheinen, ist klar, dass ein Regisseur keinesfalls nun anfangen lassen kann, zu spielen, sondern irgendetwas anderes passieren muss. In diesem Fall bieten die Kostümierten einen Kommentar von Elfriede Jelinek dar. Ich wäre wirklich gern woanders. Der M., zwei Plätze neben mir, verlangt gut hörbar sein Geld zurück. Die M. neben ihm wirkt auch nicht so besonders erfreut.

Dass wir besser im Alt Wien geblieben wären und den aus reinen Zeitgründen nach dem Schnitzel nicht mehr bestellten Kaiserschmarrn nicht gegessen haben, bedauere wohl nicht nur ich gerade ganz erheblich. Ich hätte auch den ganzen Tag mit der J. weiterfrühstücken können, das wäre auch nicht übel, aber statt dessen quetsche ich mich ins Theater, das schon für meine 1,68 eigentlich nicht genug Platz bietet. Es ist gleichermaßen langweilig und peinlich. Da Regisseure aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen ihr Publikum regelmäßig für bescheuert halten, hat auch Stemann diese Inszenierung ganz offensichtlich mit dem Holzhammer entworfen. Ideenlosigkeit und die fixe Idee, ein Theaterstück müsse möglichst originell auf die Bühne gebracht werden, gehen eine unverdauliche Melange ein, und das Beste, was sich über diese Inszenzierung sagen lässt, ist, dass sie um zehn endet.

Leicht benommen sitzen wir in den Schwarzwaldstuben und warten zwei geschlagene Getränke lang auf den Kaiserschmarrn der M. Dann laufen wir heim. Die Nacht ist wärmer als gedacht und der Mond leuchtet voll durch das gelbe, spärliche Laub.

Geschichten vom lieben Gott

Es gibt keine grausamere menschliche Erfindung als Gott.
Onkel P. (1982)

Es gibt zwei sehr einleuchtende Geschichten, die Joel und Ethan Coen in ihrem aktuellen Film erzählen.

Die erste Geschichte ist schlicht: Gott beschließt eines Tages im Jahre 1967 seinen Knecht Larry Gopnik auf die Probe zu stellen. Larry ist rechtschaffen und redlich und gottesfürchtig, meidet das Böse schon aus Phantasielosigkeit, und verdient seinen Lebensunterhalt als Physikprofessor in einer jüdisch geprägten Kleinstadt im mittleren Westen der USA. Er ist verheiratet, er hat zwei Kinder im Teenageralter, sein leicht verwirrter Bruder lebt bei ihm, und außer einer Festanstellung fehlt ihm nichts Sichtbares für ein wohltemperiertes, wenn auch etwas klägliches Glück.

Dann aber beginnen Gottes Proben. Seine Tochter stiehlt Larry Geld für eine Nasen-OP. Ob sein kiffender Sohn als Bar Mitzwa die Torah-Verlesung fehlerfrei hinbringen wird, ist äußerst fraglich. Ein Student erpresst und besticht ihn. Kurz vor der Beratung über seine Festanstellung tauchen diffamierende Briefe bei der Universiätsleitung auf. Seine Frau will sich von Larry trennen, um mit einem unglaublich öligen Witwer zusammenzuleben. Larry soll ausziehen und landet im Jolly Rogers, einem ungewöhnlich tristen Motel. Sehr, sehr traurig ist das alles, und – immerhin handelt es sich um eine Komödie – unendlich komisch.

Larry trägt diese Schicksalschläge maximal mittelmäßig gut. Er habe doch nichts getan, beteuert er wieder und wieder, und weil er sich auf all dies keinen Reim machen kann, beschließt er, Geistliche aufzusuchen. Die drei Rabbis aber helfen ihm nicht im Ansatz weiter. Larrys Welt ist aus den Fugen.

Am Ende hält Larry den Versuchungen Gottes nicht stand. Gerade als sich Larrys Schicksal wieder verbessert, taucht ein neuer Tiefschlag in Form einer hohen Anwaltsrechnung auf, und Larry geht auf die Erpressung des Studenten ein. Statt eines „F“ soll es ein „C“ sein. Bestanden. Das Geld steckt er ein. In diesem Moment aber spuckt Gott Larry Gopnik aus, um ihn zu zertreten: Sein Arzt ruft an, und es hört sich schlimm an. Auf die Schule seines Sohnes rast ein Tornado zu, und in des Sturmes schwärzlicher Säule sehen wir den rächenden Herrn aller Himmel in seinem Zorn. Soweit, so gut.

Die andere Geschichte aber ist weniger erbaulich: Vielleicht interessiert Gott sich ganz und gar nicht für Larry Gopniks Redlichkeit, seine Standfestigkeit und seine Tugend. Vielleicht spielt Gott mit Larry wie eine junge Katze mit einer Maus. Vielleicht wird Larry zertreten, weil er gerade da war, vielleicht lacht Gott über Larry, weil sein Unglück eine außergewöhnlich komische Dimension hat. Vielleicht wirft Gott auf Erden alles durcheinander, und manchmal trifft es eben ein Geschöpf mehr als die anderen. Vielleicht – aber diese Möglichkeit ist angesichts von so viel Unglück geradezu skandalös – gibt es Gott schier gar nicht, und alles Leiden ist so sinnlos wie die Rechtschaffenheit und die Redlichkeit, und die Gottesfurcht geht ins Leere zwischen den gleichgültigen Körpern im Raum.

(Wir aber lachen)

So egal wie einfach alles.

Caravaggio, Staatsoper am 19.12.2009

Malakhov tanzt, aber das geht mich nichts an. Nicht gerade gelangweilt, aber allerhöchstens halbwegs interessiert statt mitgerissen sitze ich im ersten Rang und schaue dem Ensemble der Staatsoper zu, wie sie in einer Choreographie eines (mir unbekannten, aber der Rest der Welt scheint ihn zu kennen) Mauro Bigonzetti das Leben Michelangelo Caravaggios glatt und hübsch und leidenschaftslos heruntertanzt. Es sieht ganz nett aus: Recht gekonnt, soweit ich das beurteilen kann, und komplett asexuell.

Irgendwann nach der Pause fallen mir sogar kurz die Augen zu. Ich kann nicht einmal sagen, dass mir die Tänzer gefallen. Nun gut, ich verstehe nichts davon, aber keinem der sichtbar gut trainierten Menschen auf der Bühne nehme ich die Leidenschaft ab, die das Sujet verlang: Lebensgier und Brutalität, Radikalität, Lust am Vulgären, am betäubenden Übermaß. Hingabe und Hingegebensein, Schweiß, Sp*rma und Blut und die grellen Kontraste, die außerordentliche Berührbarkeit dieses fleischlichsten Malers des italienischen Barock: Man sieht nichts davon.

Kunstvoll verdrehen sich die Solisten um- und nebeneinander, führen vor, was sie können, und das ist nicht wenig, und obwohl sie kaum etwas anhaben, wirken sie so geschlossen wie dunkle, blinde Schaufenster in einer verwaisten Fußgängerzone am Sonntag. Dazu fiedelt ein wenig Monteverdi.

Ich gähne. Neben mir wippt ein junger Mann ungeduldig mit dem Fuß und schaut ab und zu auf die Uhr. Möglichst lautlos ziehe ich meine Lederschärpe wieder fest und schlage die Beine andersherum übereinander, um halbwegs bequem zu sitzen, und sehe mir die älteren Damen in der Reihe vor mir an, die sorgfältig onduliert gebannt auf die Bühne starren, und denen der Abend sichtlich gefällt, weil sie vielleicht von Fleisch und Blut und Leben nicht mehr erwarten als das.