Dass die Deutschen mit ihrer Vergangenheit im Reinen sind, glaube ich erst, wenn sich Szenen wie gestern nicht wiederholen: Der J. und ich stehen also im KaDeWe. Eigentlich sind wir hier auf der Suche nach einer göttlichen Tasche namens BL0494, aber die ist nicht mehr zu haben. Leicht belämmert (ach, hätte ich doch in Stockholm zugeschlagen) schleppen wir uns durch das überfüllte Haus auf der Suche nach anderen Waren, die den weiten Weg durch die völlig verstopfte Stadt nicht als vergeudet erscheinen lassen, und stehen wenige Minuten später im ersten Stock. Hier gibt es Herrenoberbekleidung.
Der J. ist in dieser Hinsicht nicht gerade das gleichgültigste Wesen der Welt. Wer elf Anzüge nicht nur besitzt, sondern gleichsam liebt, und die Vorzüge wie Nachteile aller gängigen Herrenausstatter sogar nachts aus dem Schlaf gerissen repetieren könnte, ist im KaDeWe Schlussverkauf je nach Perspektive entweder genau richtig oder hoffnungslos verloren. Wir stehen also sehr, sehr lange dort, wo es Kleidungsstücke von HUGO gibt, und der J. zieht langsam und mit maximaler Aufmerksamkeit einen Anzug nach dem anderen an und dreht sich in kleinen, eleganten Schwüngen vor dem Spiegel. Leider ist keiner der Anzüge perfekt.
An einer weiteren Stange hängen Mäntel und der J. zieht alle an. Ein beigefarbener Sommermantel ist nicht mehr in Größe 50 zu haben. Ein dunkler Mantel sieht zwar gut aus, passt aber nicht über eine Anzugjacke und scheidet deswegen aus. Ein weiterer, ebenfalls dunkler Mantel aber sitzt. Er sitzt sogar gut. Für einen Moment sehr zufrieden mit sich und der Welt steht der J. vor dem Spiegel und zupft den Mantel zurecht.
Dann aber holt die deutsche Vergangenheit den J. ein. In seinen Mundwinkeln beginnt es zu arbeiten, um seine Augen tritt ein besorgter, leicht gespannter Zug. Der geschätzte Gefährte dreht sich um. Ob ich nicht auch finde, dass der Mantel – wie solle er es sagen: Der Mantel erinnere ihn an eine Uniform. An eine schwarze Uniform, an eine Uniform aus alten Filmen. Die Schulterklappen des Mantels etwa. Das abgesetzte Stück Stoff, das von den Schultern vorn und hinten bis auf Brusthöhe fällt und mit einem Knopf fixiert werden kann wie ein Cape. Der ganze Schnitt des Mantels sei so absolut Leni Riefenstahl. „Vielleicht ist das wieder modern.“, gebe ich zu bedenken und wende mich ab. Ich will noch in die Abteilung mit den Sachen für mich. Der J. soll den Mantel kaufen oder weghängen.
Für einen Moment schwankt der J., den Mantel unschlüssig in der Hand. Dann zieht der J. den Mantel wieder aus. Unmöglich könne er einen Mantel tragen, in dem er nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen Leute an einen preußisch schnarrenden SS-Offizier erinnere. Ein einziger Witz gleichgültiger Passanten, und er müsse den Mantel auf der Stelle ausziehen und verbrennen oder zöge ihn zumindest nie wieder an. Zwar sehe der Mantel großartig an ihm aus, wie für ihn geschaffen sozusagen (der J. seufzt), aber die Assoziation, welche dem Mantel anhaftet, sei zu viel für ihn als Mantelträger, und so bleibt der Mantel im KaDeWe.
Auf dem Weg in die Damenabteilung kommen wir bei Karl Lagerfeld vorbei. Auch hier hängt ein ganz ähnlicher Mantel. Die deutschen Designer, stellt der J. fest, würden von der deutschen Vergangenheit auf unselige Weise ästhetisch heimgesucht. Aber er werde sich dem verweigern. Die Deutschen, zumindest der J., stelle ich fest, sind mit schwarzen Unifornmänteln für dieses und das nächste Jahrhundert erst einmal durch.
Ohne Mantel, mit nichts als einer französischen Bluse in einem grau abgetönten Lavendel, verlassen wir den Kurfürstendamm.
Empfehle dem Herrn die antiquarische Suche nach einem Kleppermantel: Der zeugt von individuellem Stil, paßt zum wechselhaften Wetter und veranlaßt garantiert niemanden, beim Anblick des Trägers reflexhaft die Hacken zusammenzuknallen!
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Der J. denkt darüber nach.
danken Sie dem J. bitte sehr dafür von mir.
Sind wir schon wieder so weit, dass wir schwarze Mäntel tragen dürfen?
Ich meine: ja.
Gleichwohl ist es zu respektieren, wenn andere zu anderem Ergebnis kommen.
Hat HUGO BOSS nicht ohnehin einst die SS eingekleidet? Da lagen vermutlich noch ein paar Schnittmuster herum, die nun wieder genutzt werden.
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Der J. wäre seines Mantels nicht froh geworden.
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Die Kriegsgeneration war ja noch nie dafür, wegzuwerfen, was man noch verwenden kann.
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Ich habe es ihm ausgerichtet.