Die Anderen

Ab und zu spreche ich mit Leuten, die sich beruflich mit Politik beschäftigen, und die Gespräche verlaufen dann oft ein wenig ungut: Ich sage, was ich über irgendetwas denke, und mein Gegenüber verweist auf die Anderen. Die Anderen, die das, was ich will, nicht wollen. Die Anderen finden etwa, wie ich bisweilen höre, Arbeitsplätze seien wichtiger als Ökologie. Sie finden Protektionismus gut. Sie sind stolz auf deutsche Autos. Sie haben mehr Angst vor Kriminalität als vor einem Polizeistaat. Alle diese Annahmen teile ich nicht, aber wie man mir sagt, komme es auf meine Überzeugung nicht an. Die Anderen seien nämlich zahlenmäßig viel, viel stärker als Leute, die ähnlich denken wie ich, und deswegen seien Leute wie ich als Wähler im Grunde zu vernachlässigen.

Dies allein wäre nun an sich unproblematisch. Es gehört zum Wesen einer Demokratie, dass Minderheiten sich selten durchsetzen. Zum Problem wird der Glaube an die Anderen aber durch die Annahme, die Anderen seien ein bißchen blöd. Diesen Hinweis höre ich öfters, etwa, wenn ich das Niveau der politischen Auseinandersetzungen als einen der Gründe benenne, weshalb ich mich mit Politik ungern beschäftige. Mir ist – neben der Abwesenheit wirklicher Diskussionen – zudem die Inszenierung von Politik unangenehm, das Anbiedern, die Schauspielerei, der Politiker (im besten Fall ein Visionär, im schlechteren der unbegabte Leiter einer Behörde) sei eigentlich ein Jedermann und unterscheide sich nicht von seinen Wählern. Ich leide bei derlei Bildern stets ein wenig an der mit Händen zu greifenden Herablassung, die aus solchen Szenen spricht. Die Anderen, sagt man mir, wollen das aber so. Die Anderen wollen Politiker zum Anfassen (wie man so sagt), die auch in der Schrebergartenkolonie eine gute Figur machen. Die Anderen merken dabei angeblich nicht, dass man sie sehr sichtbar nicht als Gesprächspartner auf Augenhöhe betrachtet.

Für die Politik bedeutet dieser Glaube an die Beschaffenheit der Anderen eine große Versuchung, der sie keineswegs standhält. Gilt der größere Teil der Bevölkerung als dumm, so muss und kann das politische Handeln ihnen gegenüber nicht mehr verteidigt, diskutiert und gerechtfertigt werden. Wer glaubt, seine Wähler seien zu dumm, um überzeugt zu werden, wird um so mehr Kinder tätscheln, markige Rede halten oder derlei Dinge mehr. Nimmt man an, der Rest der Bevölkerung sei möglicherweise normal intelligent, aber zu klein, um Wahlen zu entscheiden, so wäre es unökonomisch, die Diskussion mit diesen Leuten zu führen.

Politik wird durch das Axiom der Dummheit der Anderen damit ein unernstes Geschäft, ein bißchen wie Waschmittelwerbung oder das Self-Marketing von Fernsehschauspielern. Diese dem Ernst der zu klärenden Fragen letztlich unangemessene Leichtigkeit ist dem politischen Betrieb nun aber nicht peinlich. Aus irgendwelchen, von außen schlecht durchschaubaren Gründen, ist man vielmehr stolz auf die Annahme, Wahlen würden durch Manipulation dummer, eher ressentimentgetriebener, jedenfalls ein wenig subalterner Menschen gewonnen. Es mag sein, dass hierbei ein gewisses Überlegenheitsgefühl mitspielt, und wie immer, wenn eine These für denjenigen, der sie vertritt, sehr angenehm ist, wird am Glauben an die Dummheit der Anderen auch dann festgehalten, wenn er sich in der Praxis nicht bewährt, und die Anderen nicht dankbar, sondern ablehnend reagieren, wenn die Politik ihre vermeintlichen Affekte bedient: Statt das Axiom von der Dummheit der Anderen fallenzulassen, nimmt der politische Betrieb an, man sei ihr entweder noch nicht weit genug entgegengekommen, oder die Anderen hätten – dämlich wie sie sind – die Erfüllung ihrer Wünsche durch die Politik nicht verstanden. Das ist dann der Zustand, in dem das Schlagwort vom Vermittlungsproblem fällt.

Dass es aber möglicherweise die Anderen in dieser Form nicht gibt, dass die Mehrheit der Leute, die wählen gehen, großmütiger, mutiger, weltoffener und kreativer sind, als ihnen die Gewählten und ihr Tross zutrauen, dass Leute oft dann klug reagieren, wenn man ihre Klugheit anspricht: Dass bezeichnet der Betrieb gern kopfschüttelnd (aber Modeste!) als ein wenig naiv.

Ich glaube aber trotzdem, dass es stimmt.

17 Gedanken zu „Die Anderen

  1. Falls Sie in Ihrer Einschätzung betreffs der Wirkung oder der Anwendbarkeit oder der Aktualität von demokratischen Bestrebungen im Zweifel sein sollten (wie ich auch), so wäre vielleicht ein kurzes Studium der neueren Geschichte Indonesiens interessant.

    Nach Suharto.

  2. hm….. sehr schön auseinandergedröselt…. denke ich, während ich lesend nicke…. und mich dabei ertappe, wie ich die mehrheit gelegentlich auch für dumm halte, weil ich mir den irrsinn oft nicht anders erklären kann.

  3. Mich interessiert, in welcher Funktion diejenigen unterwegs waren, die Ihnen im Gespräch dieses Bild vom Wahlbürger vermittelten. Waren das wirklich Politiker, für die doch das Eingeständnis, daß sie ihre eigene Wählerklientel für geistig zurückgeblieben und leicht manipulierbar halten, potentiell karrierebeendend sein könnte? Und mit welchen Mitteln haben Sie sie dazu gebracht, diese weiche Flanke zu öffnen?

  4. REPLY:
    Ich habe keine Ahnung, was und wie andere Leute wählen. Ich habe auch nicht an jeder Wahl teilgenommen, und auch im September wird es mir schwer fallen, eine Entscheidung zu treffen.

  5. REPLY:
    Glauben Sie mir, es ist eine eher unbequeme, weil äußert nervtötende Tatsache. Man braucht sich ja nur anzuschauen wie die alle Auto fahren… oder was sie wählen… oder was sie essen…

  6. Liebe Madame Modeste: Ich teile Ihren Glauben.

    Andererseits denken vermutlich 79,567% der Menschen tatsächlich dieses:
    „Die Mehrheit ist dumm. Mindestens 80%, eher mehr *seufz*.“

    In diesem Falle wären die Politikerinnen und Politiker mit ihrer Ansicht nicht als Ausnahme sondern als Regel zu verstehen.

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