Gegen zehn nach neun treffe ich den R. vor dem Fahrkartenautomat in der U-Bahn. Den R. – obschon an sich gut befreundet – habe ich tagelang nicht gesehen, auch gestern abend war er nicht da, und so stürze ich auf den R. zu, erzähle dies und das und noch ein bißchen mehr, und dann frage ich ihn nach seinen Eltern. Seine Eltern waren zu Besuch, das hatte er uns erzählt letzte Woche, und wie immer winkt der R. ab. Anstrengend sei es gewesen.
Dann steigen wir in die Bahn.
Morgens ist die Bahn voller Leute, die zur Arbeit fahren. Ganz früh kommen die Männer in den Arbeitsjacken und die Frauen in ihren billigen Steppjacken über den Chenillepullovern. Dann tauchen Anzüge auf, die Anzüge werden besser, und dann, ab halb zehn ungefähr, wird es einerseits studentisch und andererseits alt.
Weil es noch nicht halb zehn ist, stehen um uns herum nun auch Leute, die ungefähr so aussehen wie wir. Jüngere Anzugträger, Leute mit Bürojobs, die Wert darauf legen, nicht dasselbe anzuhaben wie die Leute im Büro nebenan. Alles schaut stumpf gegen die schwarzen Fenster.
„Magst du dich setzen?“, fragt der R., und dann sitzen wir beide. „Weißt du eigentlich, wieso meine Eltern da waren?“, fragt der R. auf einmal, und ich schüttele den Kopf. Seine Eltern kommen doch öfter, überlege ich und schaue ihn an. – Er habe geheiratet, sagt der R. dann einfach so, und ich schaue ein wenig entgeistert. Nicht, dass mich so an und für sich wundert, dass der R. und die I. nun doch noch geheiratet haben. Gott, denke ich. Andere Leute heiraten auch. Aber so ganz ohne alles, so ganz ohne Freunde, ohne Feier, ohne Kleid, und nicht einmal mit beiden Eltern? Und wieso eigentlich heiraten, wenn es auch ohne Heiraten sichtlich gut ging die letzten zwanzig Jahre? Warum auch lichtet sich der Kreis der Unverheirateten mehr und mehr, und wie reagiert man eigentlich, wenn man ein klein wenig beleidigt ist, so einerseits, weil einem keiner vorher was sagt, und man andererseits sehr herzlich gratulieren will, weil die Ehe ja generell als erstrebenswert gilt.
„Herzlichen Glückwunsch! Das ist ja toll.“, trompete ich also und freue mich auf die verdutzte Miene des J.
Passender hätten Sie gar nicht reagieren können – aber Sie sind ja gesellschaftlich mit allen Wassern gewaschen. Ich hingegen habe viele Jahre gebraucht, um diese Sätze einsetzen zu lernen, wenn ich über Verheiratungen, Schwangerschaften, geglückte Fortpflanzung informiert werde. Jetzt aber: Ohne mit der Wimper zu zucken. „Herzlichen Glückwunsch! Das ist ja toll!“
„Aber so ganz ohne alles, so ganz ohne Freunde, ohne Feier, ohne Kleid, und nicht einmal mit beiden Eltern?“
So hat auch der Start in meine erste Ehe ausgesehen, und die hat unter einem sehr, sehr schlechten Stern gestanden.
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bei mir war’s genau andersherum. bei ersten mal das ganze tamtam, beim zweiten mal „geheim“ zu zweit an einem symbolträchtigen ort. ein tag mit nur einem festen programmpunkt und hochzeitsfotos im passfotoautomaten. man, war das entspannt.
aber ich glaube, da gibt’s kein „richtiges“ rezept …
REPLY:
Rezept gibts sicher keines, aber es hängt hier wohl von den Beweggründen ab. Allein zu zweit mit lieben Trauzeugen und einer überglücklichen Schwiegermutter in kleinem Rahmen zu feiern war ein guter Beginn meiner zweiten Ehe; der kleine Rahmen bei meiner ersten Eheschließung war allerdings so nicht geplant und hatte seine Wurzeln in der hoffnungslos zerstrittenen Familie meines ersten Ehemannes, deren Intrigen sich auch weit bis in mein Umfeld hinein erstreckten. Sollte dem bei Frau Modestes Bekanntem ebenso sein, sehe ich eher schwarz …
und warum heiratet man nochmal?
REPLY:
Ja, wozu eigentlich?
Frage ich mich auch, und zwar vergeblich.