Irgendwann schon ganz kurz vor Berlin lotst uns der Navi von der A 115 herunter auf immer schmalere Straßen. Es ist dunkel, kurz nach elf Samstagabend, und im Scheinwerferlicht wogt das üppige Grün der Bäume hin und her durch die Nacht. Außer uns ist niemand zu sehen. Irgendwo links von der Straße wuchert der Waldfriedhof Stahnsdorf, alle Wege führen ins Nichts, und schließlich befiehlt uns der Navi ohne Anlass noch Erklärung eine Kehrtwende um einen Kreisverkehr herum und führt uns zur A 115 zurück. Irgendwo hinter dem Wald flackert unstet und bläulich ein Licht, und ich starre in das undurchdringliche Schwarz unter den blattlosen Ästen eines alten, geborstenen Baums. Mir ist kalt.
„Weißt du,“, sage ich erst wieder auf der Autobahn zum J., „vielleicht war es gar kein Datenverarbeitungsfehler.“ Der J. nickt unkonzentriert und schaut auf die Fahrbahn. „Vielleicht waren es Zombies.“, mutmaße ich.
Möglicherweise, entwickele ich den Gedanken weiter, ist es hochbegabten Untoten gelungen, im Bunde mit den Gewalten der Unterwelt Navigationssysteme zu manipulieren. Vielfach sind vielleicht schon in den letzten Monaten Autofahrer rund um Berlin von den Autobahnen weggelockt worden in entlegene Gegenden der Stadt. In heruntergekommenen Hinterhöfen der östlichen Vororte etwa, auch gern in den entvölkerten Dörfern rund um die Stadt, endeten dann die vermeintlich richtigen Routen, die tonlos-neutrale Frauenstimme aus dem Lautsprecher ging über in ein hämisches Heulen, und im Scheinwerferlicht erhoben sich zitternd die entfleischten Körper der Zombies.
„Oha.“, äußert sich der geschätzte Gefährte durchaus eher verhalten, und ich fahre fort.
Dass bis heute nichts über diese Vorfälle in den Zeitungen steht, erläutere ich, sei an sich gar nicht erstaunlich. Im Regelfall nämlich bemächtigen sich die Zombies einsamer, verwahrlost aussehender Gestalten, hoffnungsloser Reisende etwa in schmutzigen, ehemals weißen, steinalten VW Golf, trauriger Männer mit heruntergezogenen Mundwinkeln, die keiner vermisst, wenn ihr Wagen ohne Insasse irgendwo am Rand von Berlin gefunden wird. Der Alkoholiker X. habe sich mutmaßlich im Wald erhängt, wird die Polizei in ihre Akten schreiben, oder der depressive und gelegentlich verwirrte Y. sei beim Urinieren im Unterholz vom Wege abgekommen und erfroren, in einem der vielen brackigen Tümpel ertrunken oder schlicht eingeschlafen im herbstlichen Moder aus Blättern und Moos. Irgendwo in den schlechteren Vierteln der Stadt steht dann ein paar Wochen eine Wohnung leer, in einer schmierigen Kaffeemaschine schimmelt der Filter, ein Kanarienvogel fällt verhungert von der Stange, und irgendwann kommt ein Putztrupp, und jemand anders zieht ein.
„Und deswegen haben die Zombies uns wieder weggeschickt?“, fragt der J. kurz nach und fährt ohne weitere Reaktion auf die Avus. „Genau!“, nicke ich: Zu zweit. Schon schlecht. Im Mietwagen. Noch schlechter. Schließlich will auch ein Zombie keinen Ärger mit der Polizei, und so ist die einzige Chance, den gefräßigen Toten das Handwerk zu legen, abseits der Staatsgewalt zu verorten. Beispielsweise, so fahre ich fort, in einer dieser filzigen Kneipen der Peripherie, von denen bei Qype oder in den Stadtmagazinen nicht einmal abgeraten wird, und die „Zapfhahn“ heißen oder „Uwes kleiner Keller“ oder ebenso schlicht wie sachfremd „Garage“. In dieser Kneipe – nennen wir sie „Zur dicken Margot“ – ist das gesamte Mobiliar aus einem dunkelbraunen Eichenfurnier noch aus sehr alten Vor-Wendezeiten, auf dem Boden liegt eine dünne, bier- und schmutzgetränkte Auslegeware, und auch die 15 bis 20 Gäste, die von der Wirtin (der dicken Margot nämlich) ihr Bier samt Korn entgegennehmen, sind durchaus von gestern: Ehemalige wegen Rückenschmerzen frühpensionierte Postboten stelle ich mir vor. Arbeitslose Lastenträger. Boten einer untergegangenen Bürokratie, die nun beraubt ihrer bescheidenen Ämter, verlassen von ihren Frauen und vergessen von dem Rest der Welt ihre Renten in Bier und Bockwurst umsetzen.
Bei 15 bis 20 Stammgästen fällt das Verschwinden eines einzelnen Gastes schon irgendwann auf, und so würden, stelle ich mir vor, die frühpensionierten Alkoholiker der dicken Margot irgendwann auf die Suche gehen, wenn einer ein paar Tage oder Wochen nicht käme. Die drei, vier denkbaren Aufenthaltsorte des verschwundenen Zechkumpans wären schnell abgeklappert, und nur wenige Tage später stünde der Suchtrupp am Fundort des leeren Wagens des Verschwundenen. Möglicherweise fände dann einer die Blutspur.
Die Polizei hört solchen Gestalten natürlich gar nicht zu. Die Berliner Polizei schneidet schon ganz anderen Leute rüde das Wort ab, eine Horde übelriechender Säufer bräuchte da gar nicht anzukommen, und so würden sich die Gäste der dicken Margot ohne die Unterstützung der Staatsgewalt aufmachen, bewaffnet mit nichts als ein bißchen Gartengerät und ein paar Flaschen Doppelkorn.
(Morgen suchen sie weiter.)
liebe madame modeste,
voller bewunderung bin ich wiedermal von der brillianz der erzählung begeistert. danke dafür.
lg
waldviertelleben
Ich mag diesen Gedanken. Die Kombination von Grauen und Technik mutet fast japanisch an — oder zumindest empfinde ich sowas seit The Ring als japanisch. Schönen Sonntag noch!
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Vielen herzlichen Dank! Ich mag meine Zombies, ich habe fast Skrupel, sie heute abend noch restlos zu pulverisieren.
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Danke!