„Das ist merkwürdig.“, sage ich zum J. beim Essen. In den letzten zehn Jahren muss irgendetwas passiert sein, denn als wir so alt waren wie die, die derzeit in der halben Welt demonstrieren, hatten wir diese Angst nicht im Geringsten, mit unseren Examen nichts anfangen zu können.
Anfang, Mitte zwanzig waren wir damals. Die New Economy war gerade vorbei, aber bis auf ein paar Parties haben wir davon nichts mitbekommen. Die Kanzleien wurden gerade groß und stark und international, fusionierten in alle Richtungen und luden uns ein zu Vorträgen oder Essen oder irgendwelchen Events, auf denen die Partner der Kanzleien über Deals und Gehälter sprachen, die wir aufregend fanden und ein bißchen frivol für Leute wie uns, die ja praktisch nichts konnten. Die Unternehmensberatungen stellten ein, wenn jemand etwas eher Exotisches studiert hatte. Die Verbände boten Jobs, die Unternehmen Trainee-Programme, und meine Freundinnen gingen reihenweise zum Staat und wurden Ministerialbeamtin und Richterin oder leiten heute irgendwo ein Finanzamt.
Angst, auf der Straße zu sitzen, hatte niemand von uns. Wir promovierten, weil es noch nicht so schnell losgehen sollte mit dem Erwachsensein, und bekamen alle entweder einen Job an der Uni oder ein Stipendium. Es war genug für alle da.
Dass es damit vorbei zu sein scheint, haben wir nicht bemerkt. Wir wurden Senior, Partner, Richter am Landgericht, Regierungsdirektor. Wir haben uns Wohnungen gekauft und Kinder bekommen. Wir sind 35. Wir fahren ein bißchen herum, wir gehen ins Theater, wir kochen, wir lesen viel und wir sehen kaum fern. Vielleicht haben wir Teile der Welt einfach ausgeblendet, weil sie nicht so schön aussehen und uns ein bißchen ratlos machen. Wir zahlen unsere Steuern, wir wählen am Ende dann doch alle grün, wir wissen auch nicht weiter, und wenn wir uns fragen, wann die Welt sich verändert hat, zucken wir mit den Achseln.
Ich weiß es nicht, sagen wir dann. Ich habe davon nichts mitbekommen.
Die Entwicklung wurde von Leuten eingeleitet, die 10 oder 15 Jahre älter sind als sie. Sie haben andere Werte gehabt (sprich weniger voranbringende) als Ihre oder meine Eltern. Bei denen hatte Bildung hatte noch etwas Anständiges an sich und Lernen war attraktiv.
Selbst im Fernsehen wurden Karrieren durch ein anständiges Studium als begünstigt dargestellt.
An diesem Selbstverständnis wurde gerüttelt, als das Fernsehen nur mehr Filme brachte, in denen Dreißigjährige in Wohnungen lebten, die sich kaum Sechzigjährige Manager leisten können. Double Income war gefragt, die Kinder hat man vors Fernsehen gesetzt und dort wurde ihnen eine Standard vorgespielt, der tatsächlich als unerreichbar galt.
Ein Paradegrüner wurde Außenminister und hat eine Kriegserklärung unterzeichnet. Die Politiker der SPD begannen, sich nicht mehr von denen der CDU unterscheiden zu lassen. Rechtsanwälte lassen den letzten moralischen Anspruch sausen, wenn sie sich in den Dienst von Abmahnfirmen stellen. Das Internet kam, ohne dass die zugehörige Ethik oder Moral dazu entworfen wurde. Die Anonymität wucherte. Politiker übernehmen keine Verantwortung (in A noch weniger als in D), warum sollte es da sonst jemand tun. Grundwerte wie Anständigkeit verlieren an Bedeutung. Alles ist nur mehr eine Frage des Geldes, das selbst aber auch an „Verantwortung“ verloren hat. Mit der Aufgabe der Golddeckung hat Geld nur mehr den Wert eines Versprechens. Versprechen werden schneller gebrochen, als Minister wegen Betrug zurücktreten müssen. Deutschland macht alles etwas gründlicher als die anderen. Die Amis werden sich noch ein bisschen halten, sind aber mittlerweile genauso auf die schiefe Ebene gekommen. Deutschland macht einmal nichts nach sondern vor.
Zwei Kernpunkte haben sich entwickelt:
die Existenz der ISA-Gesellschaft (ich, sofort, alles – (haben will))
die Grundverantwortung: nach mir die Sintflut
Bei letzterem hat die Geschichte gelehrt, was dann passiert.
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In England fängt es an. Statt dass die Superreichen ein bisschen etwas hergeben, verteidigen sie ein Eigentum, das sie eh nicht essen können. Die Aufstände sind vorgezeichnet.
In Deutschland geht es noch zu gut. Von Hartz-IV kann man ganz gut leben, wie ich sogar hier bei einer Bloggerin lesen konnte. 19 Jahre alt, lehnt einen Job ab, weil sie dabei eine Trainingsausbildung machen soll, die ihr zu blöd erscheint.
-Anfangen tut die Misere aber mit den Kindern, die mit zwei Jahren den Babysitter Fernsehen kennen lernen. Ab da ist alles andere vorgezeichnet. Und jetzt befinden wir uns halt schon in der zweiten Generation.
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ISA-Gesellschaft. Das muß ich mir merken, den Begriff hätte ich schon ab und an gebrauchen können.
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Ich habe die Welt nie so negativ gesehen wie Sie, aber vielleicht sind meine Ansprüche auch geringer. Mir beispielsweise ist das, was Sie „Ansändigkeit“ nennen, bei Personen des öffentlichen Lebens komplett egal. Fern sehe ich nicht und was andere Leute besitzen, berührt mich nicht.
Ich mochte aber eigentlich die Welt de Neunziger, ich mag die kühle, schnelle, ein wenig entgrenzte Freiheit, weil sie Leuten wie mir eine Menge zu bieten hat. Ich wundere mich nun ein wenig, dass das nicht mehr zu gelten scheint.
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Es mag sein, dass Sie sich aus der Menge heraushalten. Doch der Effekt, den Sie schildern, ist ja deswegen so empfunden, weil sich die „Masse“ ändert. Es gibt auch heute noch Inseln, wo sich gleiche Lebensqualität wie damals empfinden können und wo die Jugendlichen keine Sorge um den Arbeitsplatz haben.
Die treten aber nicht sichtbar in der allgemeinen Öffentlichkeit auf.
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Ich glaube, die Welt der alten Bundesrepublik, die Ihnen wohl vorschwebt, gefällt mir nicht. Das st so nostalgische Scheinidyllen. Mir ist das kein Sehnsuchtsort. Ich mag die Geschwindigkeit der Gegenwart, ich bin auch ein echter Fan der Globalisierung, die es erlaubt, sich morgen in New York einen Job zu suchen, und die Freiheit, sein Leben selbst zu gestalten, erscheint mir attraktiver, als Sicherheiten, die ich eng finde und etwas muffig. Die Phänomene, die Sie schildern, kenne ich allerdings auch nicht. Solche Leute halte ich nicht für symptomatisch für die Gegenwart, sondern für verkommen.
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Die alte Bundesrepublik mochte ich nicht besonders. Mir schwebt eher die Welt des Österreichs 1960 -1970 vor. Möglicherweise Kindheitserinnerungen. Aber damals hatten die Firmen noch Veranstaltungen für Studenten und warben um sie. Ich erinnere mich an einen sehr netten Abend im Hotel France.
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Das mit der Globalisierung ist so eine Sache. Ich selbst war ja global genug, mit meinen Dienstreisen von Kalifornien bis Japan, die mich in Summe vielleicht 60 mal um den Globus gebracht hätten.
Allerdings hat die Globalisierung auch ihren Preis. Und die Schnelligkeit kann ich nicht in jedem Fall befürworten. Es scheint heute unmodern zu sein, sich etwas „erarbeiten“ zu müssen. Obwohl ich recht gute Lehrerfolge habe, pflege ich im privaten Kreis auf die Frage: „Können Sie mir das einfach in fünf Minuten erklären?“ folgendermaßen zu beantworten. „Wissen Sie, ich habe ungefähr 20 Jahre gebraucht, bis ich es annähernd verstanden habe. Ich glaube, ich kann das nicht (in 5 Minuten erklären)“
Lange Gesichter.
Die Freiheit sich morgen einen Job in New York zu suchen, gab es auch schon 1986. Ich weiß das so genau, weil ich da anlässlich des Prager Frühlings und russischer Besetzung wirklich an Auswandern nach Amerika gedacht hatte. Ich glaube aber nicht, dass es heute leichter ist, irgendwo einen Job zu finden als 1968.
Die Freiheit sich irgendwo einen Job zu suchen, hängt aber von dem ab, was man gelernt hat, an Sprachen, an verwertbaren Wissensinhalten. Meine Tochter, Mag. jur. fand auch leichter in Uganda einen Job als in Österreich. Zumindest den Job, den sie will.
Prinzipiell stimme ich ja zu, dass Internationalität leichter geworden ist. Aber das wollen die Menschen doch gar nicht (in der Masse). Sie wollen einen Job, der 2 Km von ihrem Zuhause entfernt ist. Schon allein, wenn ich an die Schwierigkeiten denke, heute jemand mit Reisebereitschaft für einen Job zu finden, frage ich mich, was sich die Menschen eigentlich erwarten. Globalisierung, billige Flüge nach Fernost, aber am liebsten das Geld nach Hause getragen zu bekommen.
Ich habe nur Mitleid mit Menschen, die aufgrund der heutigen Lage tatsächlich ausgebeutet werden, unter Kollektivvertrag bezahlt werden oder zu unbezahlten Überstunden zu unmöglichen Zeiten gezwungen werden. Ich habe wenig Mitleid mit Studenten, die keinen Job bekommen. Wenn sie sehr gut sind, können sie es sich noch immer aussuchen.
Meine fünf Studenten, fertige Bachelors – noch ein Jahr bis zum Master, könnte ich -arbeitsrechtliche Zustimmung vorausgesetzt – jederzeit in Österreich oder Deutschland einsetzen.
Und serbischen Studenten geht es nicht so gut wie unseren. Und Studiengebühren müssen sie auch zahlen.
Ich kann nur für mich sprechen: Bemerkt, nicht ausgeblendet, kein Achselzucken. Irgendwann der Punkt: mitmischen und die Welt von gestern ein Stück in die Gegenwart holen – jedenfalls mein wunderbar freies Gefühl davon – fürs Kind.