Der B., die D. und das Vergessen

„Hey!“, begrüßt mich der B. auf dem Markt vorm Stand vom Metzger und schiebt mit der linken Hand seinen kleinen Sohn an einer Frau mit Zwillingswagen vorbei. Es gehe ihm gut, entnehme ich dem kurzen Gespräch in der Schlange, er habe die Kanzlei gewechselt, seine Freundin geheiratet, mit der er das Kind hat, und ganz um die Ecke eine Wohnung gekauft. – „Schöne Grüße an die D., wenn ihr euch noch seht!“, lässt er noch ausrichten, als die Verkäuferin mich zum zweiten Mal aufruft, zu bestellen. „Richt‘ ich aus!“, wende ich mich noch einmal kurz nach hinten und ordere dann frische Weißwürste, ein Stück Leberwurst und werfe einen begehrlichen Blick auf die Lammrippchen. Dann gehe ich heim.

„Ach – der!“, gluckst die D. am Montag drauf, als ich die Grüße ausrichte. Der, meint sie. Der mit den Halluzinationen. Die D. lacht und auch am Telephon höre ich die D. fröhlich den Kopf schütteln. Dann fällt auch mir alles wieder ein: Der B. und die D. und der nie geklärte Pfingstmontag.

Eines Tages nämlich – das ist schon ziemlich lange her – saßen die D. und ich vor dem 103 in der Kastantienallee. Da gehen wir schon lange nicht mehr hin, aber damals waren wir andauernd da, frühstückten, tranken frischen Pfefferminztee und den schlechtesten Wein der Stadt, und meistens trafen wir irgendwen, weil alle dahingingen. An diesem Tag, es war ein Pfingstmontag, trafen wir irgendwann spät auch den B. Der B. war ein Bekannter von mir, der D. aber sichtbar auf Anhieb sympathisch.

Was wir alles getrunken haben, habe ich vergessen. Irgendwann schloss das 103 und der große, schlanke Kellner, der, glaube ich, Klaus heißt, klapperte so ausdauernd mit Gegenständen, dass wir gingen. Irgendwann waren wir dann in Mitte. Und in Friedrichshain. Und noch später wieder in der Metzer Straße in der Wohnung vom B.

Die Wohnung vom B. war damals eine Art antibürgerliche Installation. Es war wirklich schmutzig, aber es gab noch Bier und Wodka, und als ich ging, war sogar immer noch etwas da. Mit mir brach der K. auf, den hatten wir irgendwo in Mitte aufgelesen, und erzählte mir am Rande des Bauspielplatzes in der Kollwitzstraße eine lange, ziemlich unwahrscheinliche Geschichte. Während dessen wurde es unfassbar hell.

Ein paar Tage später traf ich die D. wieder irgendwo. Es sei nicht mehr viel passiert in dieser Nacht, meinte sie eher beiläufig. Sie sei irgendwann beim B. auf dem Sofa eingeschlafen und am nächsten Morgen hätte sie mit dem B. im MS Völkerfreundschaft gefrühstückt. „Netter Kerl so an sich.“, meinte sie, und dann sprach sie nicht mehr vom B.

Der B. dafür sprach um so mehr von der D. Anders als jene meinte der B. nämlich sich durchaus an bemerkenswerte Vorfälle zu erinnern, auch sei das Frühstück (hier stimmten wenigstens wieder die gemeinschaftlichen Rahmendaten) durchaus romantisch verlaufen, und so fühlte sich der B. wohl durchaus zumindest subjektiv zu recht enttäuscht, dass die D. keinerlei Anstalten machte, sich erneut zu verabreden oder sich zumindest an ihn zu erinnern. Auf ein oder zwei SMS kam wohl keine Antwort.

Die D. dagegen schwor Stein und Bein, da sei nichts gewesen. Die D. gehört auch nicht zu den Leuten, die solcherlei Intermezzi absichtsvoll verschweigen. Man darf der D. daher abnehmen, dass sie sich zu Erinnerungen bekennen würde, besäße sie jene, und auch, dass sie derlei Ereignisse an sich nicht einfach vergisst. So viel, dass das Vergessen pharmakologisch bedingt eingetreten sein könne, habe sie zudem bei weitem nicht getrunken, behauptet die D. bis heute und so schwebt ein Mysterium über diesem Pfingstmontag, ein dunkler Fleck in der Privatgeschichte der D.und des B., unaufklärbar wie alle wahren historischen Rätsel.

3 Gedanken zu „Der B., die D. und das Vergessen

  1. Ach das 103, von Institutionen wie diesen, seien sie vielleicht auch schon ein verblassender Schimmer, träumt man hier in Los Angeles, wie einst die Alten von den goldenen Gärten der Hebriden.

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