Oktober, 7

„Wir waren doch schon zur Hochzeit zu spät.“, jammere ich und laufe so schnell ich kann. Neben mir schnauft der J. im Anzug. Nur der F. schnauft nicht, aber der wird ja auch gefahren. Hochzufrieden schaut der Kleine uns zu auf unserem eiligen Weg zur Kirche. Atemlos und leicht verschwitzt schleichen wir uns die drei Stufen hoch, schnell durch die Tür und dann in die letzte Reihe. In der ersten Reihe sitzt J.2 mit Familie. Heute wird seine Tochter getauft.

Zum Glück macht der F. keine Anstalten, den Gottesdienst zu stören. Eher werden der J. und ich etwas unruhig, weil wir in den letzten Jahren verlernt haben, noch irgendwo zu sitzen und ohne iPhone zuzuhören. Außerdem ist der Gottedienst nicht so spannend. Ungefähr eine halbe Stunde warte ich auf die eigentliche Taufe, aber dann zieht sich die ganze Angelegenheit noch Stunden um Stunden. Zumindest kommt es mir so vor.

Nach dem Gottesdienst finden wir uns mit der Festgesellschaft zusammen. Fast alle Teilnehmer des Gottesdienstes gehören dazu. Einfach so erscheint hier offenbar niemand, um am Sonntag morgen dem lieben Gott in Friedrichshain zu huldigen. Ich schüttele ziemlich viele Hände, erneuere alte und ganz alte Bekanntschaften, schließe neue, und freue mich, dass es so ungeheuerlich viele Kinder hier gibt, die alle ziemlich nett aussehen, so dass es auch gar nicht auffiele, wenn mein eigenes Kind sich schlecht benähme und etwa schreit. Tut es aber nicht, das eigene Kind.

Auch beim Mittagessen ist der Kleine ruhig. Ich rede nach links und rechts, höre mir Anekdoten über Immobilien, Reisen und Familie an, liefere mein Geschenk ab und esse zu viel, und die ganze Zeit sitzt mein Baby mit weit aufgerissenen Augen auf meinem Schoß und in seinem Wagen. Alte Tanten lassen ihn mit Schmuck spielen, kitzeln ihn, man kneift ihn in die Wange, und der F. gluckst fröhlich und isst große Mengen Brot.

Als wir das Lokal verlassen, schläft der F. auf der Stelle ein. F. ist groggy. „Wieso sind wir eigentlich immer zu spät?“, jammere ich schon wieder, hechte in meine Wohnung, reiße dem F. die Windeln ab und springe schon wieder los. Mit mir springen der J. und der F., letzterer wieder im Wagen.

In der M 4 schreibe ich eine Besänftigungsmail an die I. Aus der S 9 eine weitere, und als wir geschlagene 60 Minuten später im Grunewald am Kaffeetisch sitzen, entschuldige ich noch einmal für diese gigantische Verspätung. Irgendwie scheint sich aber keiner zu wundern. Man kennt mich. Man sagt kein Wort und gibt mir einfach Torte.

Den Rest des Tages verbringe ich bei der I. und dem S. auf dem Sofa. Ich trinke Sekt, rede so über dies und das, gratuliere zu einem neuen Job und einem neuen Haus, spiele mit dem Kind der M. und des M. und esse zu viele Chips. Mein F. kriecht unterdessen mit neuerworbener Mobilität unter ein Sofa. Ich sollte ihm ein Staubtuch unter den Bauch binden, überlege ich und ob es irgendwo im Netz einen Staubtuch-Strampler gibt, und denke darüber nach, ob auch ich meine Wohnung farblich mehr gestalten sollte. Die I. hat – ebenso wie die M. – immer ziemlich gute Einrichtungs- und Dekorationsideen. Ich habe überhaupt kein Ambiente. Nur Möbel.

Irgendwann laufen wir den Weg zurück zur S-Bahn. Schön ist es hier. Rechts und links säumen Villen den Weg. Vielleicht wohne ich hier, wenn ich alt bin, male ich mir aus, und überlege, wann das wohl sein wird, als ich schlafen gehe, irgendwann ziemlich spät.

„Wann sind wir alt?“, frage ich den J., als er ins Bett kommt, irgendwann kurz nach zwölf. „Später.“, beruhigt er mich, und dann schlafen wir alle drei.

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