Wir sind ja alle Kleinstadtkinder. Wir sind irgendwann in den letzten 20 Jahren aus unseren westdeutschen Käffern nach Berlin gezogen, um Berliner zu werden. Umgekehrt ist Berlin natürlich auch ein bisschen so geworden wie wir. Also so ein Ort, in dem Leute im Chor singen, sich gegenseitig fragen, was sie für den Weihnachtsmarkt in St. Immanuel mitbringen und neuen Nachbarn Kekse und Milch vorbeibringen. So ungefähr begannen auch die Beziehungen des K. zu den neuen Nachbarn, über die er relativ schnell berichtete, sie seien Russen, aber sehr nett.
Wir lachten alle über das „aber“ und vergaßen die neuen Nachbarn sofort. Erst Monate später tauchten die Russen von nebenan wieder in den Erzählungen des K. auf, denn diese hatten einen Sohn. Jener ist ungefähr im selben Alter wie der Sohn des K., also heute so circa sechs oder sieben, und zunächst freute sich der K., dass die Buben sich gut verstanden. Was für den schon eher etwas vorsichtigeren K. schwer ins Gewicht fiel: Endlich hatte sein Sohn jemanden zum Spielen, der besucht werden konnte, ohne dass das Haus verlassen und Straßen überquert werden müssen. Der K. lebt nämlich zwar schon seit über zehn Jahren in Berlin, hat aber nie aufgehört, sich vorm Großstadtverkehr ein wenig zu fürchten, selbst wenn es den am Arkonaplatz am Rande des Prenzlbergs eigentlich gar nicht gibt.
Nach einer Weile jedoch verdüsterte sich das Bild. Zwar war der kleine Russe von nebenan weiter ein häufiger Gast. Der K. sah sein Kommen aber nicht mehr mit der selben Sympathie, denn zwischenzeitlich hatten sich beide Kinder ein neues Hobby beigelegt. Sie spielen nun Schach. Das Problem an der Sache: Der Kleine von nebenan spielt viel besser – also viel, viel besser – als der Sohn des K. Er gewinnt deswegen praktisch immer. Zu alledem gewinnt er nicht dezent, sondern so, wie es eben die Art der Sechsjährigen ist: Er jubelt. Er reisst die Arme hoch. Neulich ist er zwei Runden um den Esstisch gelaufen und hat dabei eine Art Indianergeheul ausgestoßen. Zu allem Überfluss rühmt er sich seine Siege mit einer Strichliste.
Sinnvoll wäre es sicher, der Sohn des K. würde mit dem Nachbarskind schlicht nicht mehr Schach spielen. Oder zumindest aufhören, sich zu ärgern. Der Sohn tut nun aber weder das eine, noch das andere. Er spielt immer weiter, er verliert immer weiter und er ärgert sich jedesmal. Der K. ist machtlos.
Nun ärgert der K. sich schon über die stete Störung des Familienlebens, die entsteht, wenn jeder Besuch des Nachbarsjungen in Tränen endet. Der Tag ist dann jedesmal gelaufen. Außerdem entwickelt sein Sohn langsam so eine Art Fixierung, liest Schachbücher und übt mit einer Chess-App, die er seinen Vater auf das Familien-iPad herunterzuladen gezwungen hat. In der Zeit kann dann natürlich niemand anders ans iPad. Das alles würde der K. zwar noch verschmerzen. Was aber wirklich schmerzt: Der K. und seine Frau gehören zu denjenigen Menschen, die glauben, dass Kinder ausgesprochen zarte Pflänzchen und Frustrationserlebnisse für Kinderpsychen veheerend seien. Deswegen bejubeln sie mehr oder weniger alles, was der Junge so treibt, und tadeln ihn immer nur ganz vorsichtig, damit er keine Komplexe bekommt und später einmal komisch wird. Wie aber, fragt sich der K. nun, soll sich nun ein so grauenhaftes Frustrationserlebnis auswirken wie das stetige, hoffnungslose Verlieren im Schach gegen den kleinen Russen von nebenan. Möglicherweise, so glaubt der K. heute, wäre großstädtische Anonymität gegenüber speziell diesen Nachbarn doch die bessere Alternative gewesen. Aber wer kann das vorher schon wissen.
Ist doch toll dass der russische Junge nur Schach spielt und nicht Pokern oder gar Counterstrike. K.s Sohn stellt sich der Herausforderung, ist doch prima. Bloß nicht vor Frustrationen bewahren wollen, das hat Folgen für das Bewältigen späterer Herausforderungen.
Unser Sprössling wurde damals von mir auch viel zu sehr vor Frustrationen bewahrt, das war ein Fehler, er gibt sehr schnell auf und hat Probleme bei der Sache zu bleiben.
Ich glaube auch, dass Frustrationserfahrungen eigentlich kein Ding sind. Außer, es gibt nichts anderes.
Das Leben ist ein Risiko, im Straßenverkehr ebenso wie beim Schach.
Das Kind wird lernen müssen, dass er immer der schlechtere ist, wenn er sich nicht bemüht. Anscheinend hat er es schon begriffen. Und wird es dem Papa erklären müssen, irgendwann.
vielleicht ist das leben auch nur erfahrung. und manchmal ein spiel. kein wettkampf.
als vater würde ich mit den beiden jungs auf dem arminplatz zum bolzen gehen.
Was mir, diese Anmerkung sei mir gestattet, allerdings nicht weniger kompetetiv erscheint.