„Groß!“, strahlt mein bald zweijähriger F. und steigt auf jede Kiste und jede Bank. „Großes Bett!“, gibt er vor meiner Freundin C. mit seinem neuen Kinderbett ohne Gitter an. „Beba!“, zeigt er auf einen Säugling und grenzt sich sichtbar ab von den kleinen Kindern, die noch im Tragetuch sitzen und nicht so würdevoll durch den Volkspark traben wie er.
So fängt es an, denke ich. Und geht jetzt immer so weiter. Groß will er sein, mein F., und wünscht sich ein Dreirad, ein Fahrrad, ein Auto. Groß will er sein, größer als der kleine M. oder der kleine E. aus der Kita. Bestimmt reicht er deswegen den Eltern so ernsthaft die Hand, wenn er sich verabschiedet, und zeigt mit sichtbarem Stolz, wie gut er puzzelt. Groß will er sein, und wird im nächsten Jahr bestimmt vorm Weihnachtsbaum stehen und ein Gedicht aufsagen oder etwas singen. Weil er groß sein möchte, will er allein Semmeln einholen, und dann bestimmt allein in die Kita. Vielleicht laufe ich ihm heimlich hinterher.
Weil er groß sein möchte, wird er in ganz, ganz wenigen Jahren schneller laufen, besser Klavier spielen oder Schachturniere gewinnen wollen und weinen, wenn nichts daraus wird. Weil er noch größer werden will, macht er vielleicht beim Bundeswettbewerb Mathematik mit. Oder ist schrecklich stolz auf seine Schulpreise in Griechisch und Latein. Ich sehe ihn, steigt er auf seine Kisten, schon heute manchmal in seiner Aula stehen, die ich mir vorstelle wie meine Aula. Links die Orgel und rechts an der Wand die Büsten irgendwelcher griechischen Feldherren und Philosophen.
Vielleicht treibt ihn der Wunsch nach Größe an die Spitze einer Bank, auf einen Lehrstuhl, ans Bundesverfassungsgericht oder auf ein Treppchen mit Medaillen um den Hals. Vielleicht aber wendet sich der Wunsch, größer zu sein, als er ist, gegen ihn, und er endet als ein frustrierter alter Mann, der bei der Welt Online menschenfeindliche Kommentare abgibt. Oder die Größe will legal nicht zu ihm finden, und ich suche ihm irgendwann einen guten Strafverteidiger und besuche ihn alle zwei Wochen am Freitag.
Irgendetwas aber wird der Wunsch nach Größe mit ihm machen, denke ich, wie bei uns allen. Keiner von uns kann die Füße stillhalten, nie reicht es, nie ist es genug, obwohl es speziell mir an nichts fehlt, und ich nicht reicher werden will, sondern nur – tja – größer im allerdiffusesten Sinne.
Du hättest es gemütlicher, stündest du nicht auf der Kiste, denke ich und strecke die Hand nach ihm aus. „Groß!“, schreit er, streckt die Händchen zum Himmel und denkt, ich zöge ihn aus Ungeduld so eilig von seinem Podest.
Aber vielleicht wirft der F. auch nach der Abiturrede, eine Tasche in den alten, roten Peugeot und fährt leise lächelnd bis nach Antibes oder schickt Monate später ein paar Zeilen aus Nepal und noch ein wenig später trägt er die Kiste unter dem Arm, der er entwachsen ist, weil man vielleicht doch nur groß wird, wenn man kein Erdenkloß bleibt und sich Erinnerungen macht und irgendwann ein Gedächtnis hat aus Erinnerungen und Erfahrungen, das bleibt.
Das wäre schön. Ich hoffe, dass er immer wissen wird, was wirklich groß ist, und auch, was ihm gut tut.