Geschichten vom F.

Schöner leben mit der Echse

Weil des F. Grundschule den Katholizismus verachtet, feiern alle anderen Schulen Karneval, nur beim F. kam vor einigen Wochen ein dürres Schreiben aus dem hervorging, am Faschingsdienstag (der in dem Schreiben natürlich ganz schlicht „5. März“ hieß) finde ein Thementag „Dschungel“ statt. Man könne sich verkleiden.

Der F. verkleidet sich eigentlich nicht so besonders gern. Und wenn er sich verkleidet, will er dabei gut aussehen. Also, das was man eben für „gut“ erachtet, wenn man sieben ist. Also nicht als Banane, nicht als Bockwurst … hoppla: Gibt es überhaupt Bockwürste im Dschungel? Was gibt es im Dschungel überhaupt? Schmetterlinge scheiden aus, wenn man sieben ist und kein Talent zum Rebell gegen Geschlechtsstereotypen erkennbar. Tiger und Affen leben im Dschungel, aber vermutlich kommen alle Buben als Tiger. Das stört ein Kind nicht, aber als Mutter möchte man – denken Sie sich hier ein betont ironisches Zwinkern – doch, dass die Einzigartigkeit des eigenen Kindes sich auch nach außen hin manifestiert. Gesucht wird also ein anderes Kostüm. Zusätzliche Komplikation: Es ist Samstag, der 2. März. Noch drei Tage bis Fasch… also Thementag Dschungel.

Am Samstag schlafen wir erst mal aus. Also so richtig, richtig. Dann ist es zehn, dann ist es elf, dann schaue ich lange in den weitgehend leeren Kühlschrank und dann verlassen wir das Haus. Mit der M4 fahren wir zum Alex. Bei Galeria soll es Thementagskostüme geben, behauptet der geschätzte Gefährte, und deswegen steigen wir am Alex aus. Quer über den Platz, an Primark vorbei zu Galeria.

Ich habe noch nichts gegessen. Und der Alexanderplatz ist … nun speziell. Das mag an der unglaublich abscheulichen Architektur liegen, aber vor allem liegt es an den seltsam verformten Leuten, die mit einer andernorts unbekannten mürrischen Freudlosigkeit, die jeden Moment in offene Aggression umschlagen kann, riesige Primark-Taschen tragend über den Platz schieben. Wenn es dieselben sind, die in Umfragen behaupten, ihr Hobby sei „Shoppen“, dann haben sie sich jedenfalls ein sehr, sehr düsteres Hobby gesucht. Zu alledem stinkt es nach billiger Bratwurst. Meine Stimmung ist also bereits beim Betreten der Galeria – eins der scheußlichsten Kaufhäuser der ganzen Welt – schon sehr, sehr verdüstert. Dass es in der Spielzeugabteilung grässlich voll ist, macht die Sache dann auch nicht besser.

95% aller Berliner Eltern sind auch hier. Und sie haben alle, alle Kostüme in Größe 128 gekauft. Es gibt eigentlich nur noch Dirndl und Feuerwehruniformen aus Plastik, aber die trägt man nicht im Dschungel, und einen Tropenhelm, für den der F. sich interessiert, gibt es auch nicht. Außerdem ist es mir hier zu voll, das einzige Tigerkostüm ist zu groß, und so langsam fängt in mir ein Topf Misanthropie an zu kochen und schäumt bereits ganz bedenklich. Noch fünf Minuten und ich sage etwas, für das ein Bundesminister zurücktreten müsste. Zum Glück kennt der J. mich und stopft mir im Erdgeschoss schnell ein Stück Kuchen in den Mund. Da schlendern wir also alle drei kauend die Linden abwärts.

Bei H&M in der Friedrichstraße werden wir schließlich fündig. Es gibt zwar kein Tierkostüm mehr, Superhelden scheiden auch aus, aber es gibt noch ein einziges grünes Dinokostüm, das von uns zum Echsenkostüm deklariert wird, zum Dschungelechsenkostüm nämlich, und mit einer Tüte Langarmshirts und Socken für den F. verschwinden wir.

„Sei nicht traurig, Echse.“, sagt der F. auf der Rolltreppe zum Kostüm. „Zuhause warten viele neue Freunde.“

„Ist ja doch noch ein ganz guter Tag.“, sagt die Echse, als wir im Lafayette sitzen. Und dann isst die Echse einen Burger Colette und schlürft eine Auster.

 

Gold und Lichter

Dieser ewige, unbarmherzige Sommer ist nun doch zu Ende. Die Natur legt sich schlafen, wird weich, löst sich auf in feuchten Blättern und der immer noch warmen Erde. Im Volkspark laufen die Jogger gedämpfter, selbst der Schall ist nun müde, und um die Laternen bildet sich ein goldener Hof aus sattem Licht.

Der F. und sein Freund ziehen mit ihren Laternen am Schwanenteich vorbei und singen leise und ein bisschen verloren ihre Lieder. Ab und zu tauchen Spaziergänger aus dem Dunkel auf, helle Jacken reflektieren, da: Haare und Haut, und versinken wieder in Schwärze.

Komm, sage ich, und der F. greift überraschend fest nach meiner Hand. So viele Abschiede werden wir nehmen in den nächsten Jahren, die kleine Hand wird nicht bei mir bleiben, wird wachsen, wird sich mir entziehen, aber heute Abend läuft er noch einmal mit mir zurück und auf dem Stein dieser Stadt leuchten die Blätter wie das pure Gold dieser Jahre.

Angela Merkel und ich

Vor ungefähr einem halben Jahr war F.’s Kitagruppe im Bundestag. Der örtliche Abgeordnete stellte sich vor, erzählte gemeinsam mit seinem Büroleiter, was Abgeordnete eigentlich den ganzen Tag so tun, und dann liefen die Kinder einmal durch die Reichstagskuppel und schauten sich alles an. Am Nachmittag kam der F. heim und berichtete, der Abgeordnete interessiere sich für Strom, im Bundestag stehe die deutsche und die europäische Flagge, und er habe genau gesehen, wo Angela Merkel sitzt.

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In den nächsten Wochen wuchs sein Interesse an der Kanzlerin. In der Kita wurde als Teil des auch den Bundestagsbesuch umfassenden Projektes eifrig abgestimmt und gewählt, immerzu befand sich der F. im Wahlkampfmodus, und vermutlich verehrt der F. die Kanzlerin nicht nur, weil sie derzeit Deutschlands oberste Bestimmerin ist, sondern weil es ihr auch gelungen ist, mehrfach wiedergewählt zu werden. Wahrscheinlich denken nur noch Frauke Petry und Frau Merkels Büroleiterin mehr an das Regierungsoberhaupt der Republik, anders als bei Frau Petry steht der F. der Kanzlerin allerdings sehr positiv gegenüber, insbesondere über ihre Flüchtlingspolitik ist er ganz anderer Ansicht als jene. Erst kürzlich verstieg er sich gar zu der Ansicht, Frau Merkel habe nichts falsch gemacht, eine Ansicht, die nicht einmal Mitarbeiter und Parteigänger in dieser Absolutheit teilen.

Vor kurzem erfuhr der F. nun, dass Angela Merkel sich nächstes Jahr einer Wiederwahl stellen muss. Seitdem tobt der Wahlkampf. Zuerst wurden wir gefragt, ob wir denn auch wirklich Merkel wählen und ernsthaft vermahnt, nichts Falsches zu tun. Dann wurden andere Eltern unterwiesen. Kürzlich hat der F. auch seine Erzieherinnen interviewt, und wenn mich nicht alles täuscht, verbreitet sich im östlichen Teil des Prenzlauer Berges gerade das Gerücht, der J. und ich seien stramme Christdemokraten. Wir müssen das bei Gelegenheit mal richtigstellen.

Fleischlos glücklich

Nun, an mir lag es nicht. Ich habe dem F. niemals verschwiegen, dass das von ihm hochgeschätzte weiße Fleisch einmal einem Hühnchen als Brustmuskel gedient hatte. Ich kaufe auch ganze Hühner, bei mir hat eine Lammkeule einen dicken Knochen, und ab und zu kaufe ich sogar ein Kilo Markknochen und streiche das Mark dick auf Weißbrot. Das esse ich dann mit Salz. Wir sind mit dem F. auch mehrmals auf Bauernhöfe gefahren, und jeden Sommer fahren wir zum Hoffest in Brodowin, damit er sieht, woher der Inhalt der Kiste kommt, die er jeden Freitagmorgen vor der Wohnungstür findet.

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Richtig zu ihm durchgedrungen scheint die Erkenntnis, dass irgendwo eine Kuh für seinen Bulette gestorben ist, aber trotzdem nicht zu sein. Erst vor einigen Wochen, wir gingen zu Fuß vom Einkaufen nach Hause, sprach der F. mich auf den Fleischverzehr an. Ob es den Kälbchen denn weh täte, wenn man das Fleisch abmacht. Ich wand mich. Ich stotterte. Ich sagte ihm schließlich die Wahrheit.

Die schnellen Stimmungswechsel von Minderjährigen sind berühmt. Der friedlich neben mir einhertrottende kleine Kerl mutierte also auf der Schnelle zu einem kreischenden, schluchzenden Derwisch, nicht ganz unähnlich meiner Vorstellung eines Altägyptischen Klageweibs. Tatsächlich spritzten aus seinen Augenwinkeln Tränen kraftvoll einige Zentimeter nach rechts und links. Die armen Kälbchen. Die armen Kä-ä-ä-älbchen. Die erbärmlichen, bösen Kackmetzger.

Am nächsten Tag will der F. kein Würstchen. Wir sprechen lange über den Kreislauf der Natur, über den Tod, über die Frage, ob Tiere dazu da sind, gegessen zu werden, und am Abend isst der F. zum aller-, allerletzten Mal eine Bulette. Am nächsten Tag folgt die aller-, aller-, allerletzte Wurst, begleitet von Verwünschungen des F. bezüglich der gewerblichen Fleischverarbeitung.

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Am nächsten Tag kaufe ich, müde der häuslichen Auseinandersetzungen, vier vegetarische Buletten bei REWE. Zwei Wochen später habe ich alle gängigen vegetarischen Produkte durch. Gelegentlich vergisst der F. die Tierliebe, dann wird doch ein Würstchen verschlungen, aber danach gibt es meistens Tränen, deswegen steigen wir fast vollständig auf pflanzliche Würste um. Parallel fahre ich die Milch- und Eierversorgung hoch. Irgendwann fällt mir auf, dass der F. das mögliche Leid der Fische nicht vergleichbar ernst nimmt. Seither essen wir ständig Lachs. Aufmerksam beobachte ich den F., seine Entwicklung und sein Verhalten: Bisher fällt mir noch nichts Nachteiliges auf.

Der äußerste Optimismus

Die halbe Welt macht sich angeblich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder. Ich dagegen, und mit mir mein geschätzter Gefährte, sehen mit Optimismus in die Zukunft unseres F., und das liegt nicht etwa an unseren nicht vorhandenen Reichtümern oder an einer gleichfalls nicht erkennbaren Hochbegabung. Hochbegabung kann hier schließlich jeder. Der F. dagegen lässt weit wertvollere Anlagen erkennen.

Nehmen wir etwa so einen gewissen Hang zur Manipulation. Wir etwa kürzlich so auf dem Spielplatz. Der F. rennt mit seinem Freund A. zwischen den Klettergerüsten herum, rutscht, schaukelt, und dann steht er lange vor dem Gerüst und starrt nach oben. Das Gerüst ist hoch, erst recht, wenn man selbst nur so circa einen Meter und zehn zählt, und oben könnte man – das kann man deutlich sehen – ziemlich tief fallen. Der F. starrt also den Turm an und der Turm starrt zurück. Schließlich fällt dem F. etwas ein.

„Da kommst du nicht rauf.“, wendet sich der F. laut an den A., den ebenfalls vierjährig neben ihm steht. „Das kann niemand. Nur mein Papa!“, vertieft der F. seine Äußerung und deutet herausfordernd auf die oberste Plattform. Als der gleichwohl A. zögernd am Fuße des in der Tat ziemlich hohen Spielgerüsts stehen bleibt, legt der F nach: „Da kommst du auch nicht drauf, Lalalala!“.

Wenige Minuten später hat er den A. soweit: A. sitzt auf dem Klettergerüst ganz oben. Der F beginnt vorsichtig, ebenfalls die Stufen zu erklimmen. Und als er auf der ersten ungefähr mittigen Plattform dann doch den Mut verliert, brüllt er nur kurz noch oben: „Da oben ist es viel zu warm.“

Mit Freuden entdecken der geschätzte Gefährte und ich auch eine gewisse Neigung zur beherzten Angeberei. So ist es dem F. vor einiger Zeit gelungen, seine Freunden weiszumachen, er könne schon lesen und schreiben.  Bisweilen zieht man ihn nun als Experten heran,  dann hilft er sich mit einer Mischung aus einem gut entwickelten Sinn für das Wahrscheinliche und der Kenntnis einzelner Buchstaben. Erst kürzlich auf einem Kindergeburtstag brüllte er beherzt auf die Fragen der Gastgebermutter, wer denn die Namen auf den Geschenktüten schon entziffern können: „Ich!“ Stolz sahen der J. und ich uns an. Unternehmensberater? Investmentbanker? Oder einer der erfolgreichsten Anlagebetrüger des noch jungen Jahrhunderts?

Auch die Fähigkeit, mit der ernsthaftesten Miene der Welt die unwahrscheinlichsten Geschichten zu erzählen, wird den F. noch weit bringen. Wer in Flugzeugen lauten Vordersitzern mit der Tötung durch Angela Merkel droht, und bei einem Waldspaziergang behauptet, erst kürzlich mit seinem in unserem Keller wohnhaften Drachen eine Wildschwein- und Hirschkontrolle auf Vollständigkeit durchgeführt zu haben, muss sich keine Sorgen machen, wenn er dermaleinst Banken gegenübertritt, um Finanzierungen inklusive üppiger Gehälter zu ermöglichen, sich Finanzprodukte ausdenkt oder gar eine Sekte gründet.

Wie ich gehört habe, wird der Teil der Schulbildung, den man schlicht lernen muss, sowieso immer kleiner. „Skills“ seien gefragt. Das ist vermutlich genau F.’s Ding.

Weit weg und immer weiter

„Du bist meine Lieblingsmama“, gähnt der kleine Kerl und nennt sich mein „allerliebstes Kuscheltierchen von der Welt“. Ich singe ihm sehr, sehr leise Abendlieder vor und puste das feine, braune Haare zur Seite, das mir die Nase kitzelt. Schlaf gut, sage ich und sperre mit den roten Samtvorhängen die Stadt aus, bis nur noch ein sanfter Kindermond seinen kleinen Himmel füllt. Schon hat er die Augen geschlossen und träumt wohl vom Fallenstellen, von Mammuten, von der ganzen Tafel Schokolade, die er sich kaufen will, wenn die Oma ihm Geld gibt.

Mama, ächzt er noch im Schlaf und ich streiche ihm sanft über Brust und Arme. Vier ist er jetzt. In zwei Jahren kommt er zur Schule. In sechs Jahren wird er schon Sextaner sein, dem es peinlich sein wird, wenn ich ihn abhole und umarme. In zehn Jahren muss er sich vielleicht sogar schon ein bisschen rasieren. Ob er dann schon eine Freundin haben wird? Und ob er direkt mit 18 auszieht oder aber noch ein paar Jahre zu Hause bleibt? Doch ob er mit 15 für ein Jahr nach Portland geht, oder mit 19 in Paris studieren möchte: Von diesem Abend an, ach: von dem Moment an, an dem sie ihn mir im Krankenhaus Friedrichshain auf den Bauch gelegt haben, wird er sich immer weiter und weiter entfernen, bis ich ihn kaum noch sehen kann, und ich kann mir nicht vorstellen, ihn nicht jeden Abend schmerzhaft zu vermissen, an dem wir weiter entfernt sein werden, als jetzt.

Ausgerechnet Bananen

Meine Damen und Herren, ich habe ein Geständnis abzulegen. Anders als so gut wie jeder billig und gerecht Denkende, als der Löwenanteil der Zeitungsleser, Parkspaziergänger und Elternkindcafébesucher glaube ich nicht – hier denken Sie sich einen Trommelwirbel samt Tusch – an die Frühförderung kleiner Kinder. Also eigentlich aller Kinder vor dem Grundschulalter.

Vielleicht handelt es sich bei dieser Ansicht lediglich um eine Rationalisierung meiner Bequemlichkeit, um auch künftig mit gutem Gewissen auf dem Sofa zu sitzen, während andere Mütter mit ihrem Nachwuchs auf englisch turnen und mit eigens für die Förderung von Kleinkindern verfertigten Büchern und Kunststoffkästen deren Zahlenverständnis pauken. Vielleicht macht mir in nur wenigen Jahren der F. bittere Vorwürfe, weil alle anderen Erstklässler alles Mögliche können, was der F. nicht beherrscht, aber tatsächlich hat mir des F. Entwicklung bis heute eigentlich bestätigt, dass Kinder sich sowieso nichts merken und nichts lernen, es sei denn, sie streben nach dieser Fertigkeit von selbst. Konsequenterweise besucht der F. einfach die nächstgelegene Kita.

Heute nachmittag allerdings bin ich in Hinblick auf die Bildbarkeit Dreijähriger dann doch etwas schwankend geworden.

Dazu muss man wissen, dass der F. nach einer langen praktisch omniphagen Phase in den letzten Monaten etwas wählerisch geworden war. Nudeln ja, aber ohne Soße. Sushi ja, aber nur mit Lachs. Oliven ja, aber niemals Tomaten. Gurken ja, aber nur mit Schale. Äpfel ab und zu, Bananen niemals. Ab und zu Weintrauben und Orangen. Anderes Obst: Fehlanzeige.

Mir ist das tatsächlich ziemlich egal. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Kind Mangelerscheinungen zeigt, nur weil es nur noch drei bis vier Obst-und Gemüsesorten isst. Mein Gott, Äonen der Menschheitsgeschichte haben Menschen weniger Gemüsesorten gekannt und gegessen als heute. Im Norddeutschland der Steinzeit gab es schließlich auch Menschen, und selbst die Tundra ist nicht menschenleer. In der Kita allerdings muss des F. Verweigerungshaltung auf weniger Verständnis getroffen sein, denn am vergangenen Mittwoch Abend verlangte der F. auf einmal nicht nur nach Reis und Wurst, sondern auch nach meinem Linsencurry mit ordentlich Garam Masala und viel Koriander und erklärte: „Linsen machen sehr stark.“ Ich schaute auf. Der F. strahlte sein Linsencurry an. Spinat mache noch stärker, erklärte er. Dann aß er das Curry auf. „Hat deine Erzieherin dir das erzählt?“, fragte ich nach, und der F. nickte kauend und siegesgewiss.

ich unterdrückte den Impuls, dem F. zu erläutern, die gesundheitliche Wirkung des Spinats beruhe auf einem Messfehler und ließ ihn essen. Am nächsten Tag verlangte er nach einer Birne und aß mehrere rohe Möhren hintereinander auf. Freitag verzehrte er eine halbe Gurke, und am Samstag aß der F. einen ganzen Teller Mangold-Sellerie-Cremesuppe mit Croutons und knusperte nicht nur die Croutons. „Jetzt bin ich sehr stark!“, fuchtelte er mit dem Löffel und erklärte, er halte in seinem Zimmer einen Drachen, der sehr gefährlich sei, aber sich vor dem F. fürchte. „Kein Wunder – du bist ja so stark.“, versicherte ich ihm, und der F. strahlte über beide runde, rote Backen.

Am Sonntagnachmittag dann liefen wir von der Tram nach Hause. „Mir ist kalt.“, nörgelte der F., und das war vermutlich wahr. Es ist nämlich deutlich kühler, als man so denkt, wenn man aus dem Fenster schaut. „Ich werde bestimmt erkältet.“, drohte der F. mit dem schlimmsten aller Übel sozusagen, aber dann kam ihm der rettende Gedanke. Er wolle, verlangte er, jetzt auf der Stelle eine Banane.

Ich glaubte nicht recht an den neu erwachten Bananenhunger des F. Man lehnt doch nicht ein ganzes, halbes Jahr den Bananenverzehr als „eklig“ ab, und beißt dann in die nächste Banane, weil eine Erzieherin gesagt hat, dieses Obst sei besonders gesund. Entweder mag man Bananen oder nicht. Aber gut, gute Vorsätze soll man fördern: Ich spazierte also in den knallvollen LEKR-Markt, der auch am Sonntag einfach alles verkauft und erstand drei Pfund Bananen. Ich würde, nahm ich mir vor, des abends ein Bananenbrot backen.

Nun aber sitze ich hier. Es gibt kein Bananenbrot. Es gibt aber auch keine Bananen mehr, denn kaum war ich zuhause und hatte die Bananen abgeladen, riss der F. die erste Banane auf und biss herzhaft in die gelbe Südfrucht. Dann ging ich spazieren. Als ich wiederkam, saß der J. auf dem Sofa und spielte Gitarre, der F. stand mampfend in der Küche, und auf dem Mülleimer lagen die Schalen von fünf Bananen.

Metamorphosen

Bin ich alle. Im Ernst, so erschöpft, wie ich gerade bin: Da könnten sie woanders eine ganze Klinik mit ausstatten. So viel Erschöpfung, da könnte ja so ein ganzer Hofstaat, ach was, ein ganzer Zwergstaat, in einen hundertjährigen Schlaf fallen, und ganz bestimmt wacht da keiner auf, nur weil ein lausiger Prinz in eine Dornenhecke reitet.

Sie – ich sehe es Ihnen an – tippen nun bestimmt auf meinen Beruf. Da liegen Sie aber daneben. Also, wenn ich meinen Beruf nicht hätte, wo ich zumindest ab und zu in aller Ruhe auf meinem Stuhl an meinem Tisch sitzen darf und schweigend Kaffee trinken kann, dann wäre es nämlich gleich morgen mittag ganz zu Ende mit mir. Quell dieser Tiefenerschöpfung ist vielmehr in Wirklichkeit mein Kind. Der F.

Dabei macht der F. gar nichts Besonderes. Der F. ist freundlich, er macht nichts kaputt, er bekommt keine Wutanfälle, er ist weder zurückgeblieben noch hochbegabt, so dass er auch keine besondere Förderung benötigt. Der F. ist ein frischgebacken Dreijähriger, der seinen Bär liebt und gern singt, Kopffüssler malt und in seiner Kinderküche Nudeln zubereitet. Nur seine Phantasiedrüse produziert irgendwie mehr und schneller als die von anderen Leuten, und die daraus resultierenden Metamorphosen: also, Ovid ist gar nichts dagegen. Da wird vielleicht einmal (einmal!) aus einem Gott ein Stier. Ich aber, ich habe ein Kind, das war erst vor zwei Stunden Rotkäppchen. Weil er einen Korb gesehen hatte, der musste einfach Rotkäppchen gehören. Und dann hat er ein langes Telefongespräch mit meiner Mutter über Wölfe geführt. Der gefährlichste Wolf, ich hab’s genau gehört, wohnt übrigens in der Wand zwischen unserem Wohnzimmer und der Bibliothek.

Kurz nach der Verwandlung in Rotkäppchen war der F. dann ein Fisch. Kiemenatmung, Schuppen, alles dabei. Ich mutierte gleich mit, wurde zum größeren, dickeren Fisch, und der F. zwang mich, auf dem Badewannenrand mit dem iPhone in der Hand laut „blubb, blubb“ zu machen. Ich kenne das schon. Letzte Woche war ich auch schon mal Fisch. Also fast. Genauer gesagt: Seepferdchen. Da musste ich wiehern und Seegras essen. Auf meinem Rücken im Pool saß der F. als kleines Seepferdchen und prustete mir fröhlich in den Nacken.

Freitag waren der F. und ich dagegen Bienen. Eine kleine Verstimmung trat ein, als ich auf dem Weg in die Kita nicht bereit war, mit den Flügeln zu schlagen und laut zu summen, aber da tauchte immerhin der E. auf, des F. bester Freund, der seine Rolle als Biene besser ausfüllte als ich. Als Bärengroßmutter, Bärenmutter (der F.!) und Bär (aus Plüsch) haben wir inzwischen sogar schon einige Routine und sind richtig gut. An Morgen, an denen der F. Bär ist, gibt es zum Beispiel immer Honig.

Als Reh war ich sogar in der Vorstellung des F. eine Fehlbesetzung. Und als Hund weigerte ich mich, beim Bäcker zu bellen. Ich bin auch nicht gern Seppl, auch wenn der F. einen Superkasperle gibt, aber das macht der E. sowieso so unvergleichlich gut, dass ich höchstens zu Hause mal den Seppl markieren muss. Ab und zu bin ich Mama Krokodil, aber das ist ziemlich langweilig und schon deswegen nicht besonders erschöpfend. Man muss nur auf dem Boden liegen und, wenn jemand vorbeikommt, schnappen.

An und für sich sind die meisten dieser Metamorphosen, wenn ich es recht überlege, nicht besonders anstrengend. Nur in Summe, da macht mich dieses ständige Hin und Her jetzt doch irgendwie fertig. Fell sprießen lassen, dann Fell wieder ab. Kriechgang, Sprünge, Schleichgang. Ab und zu sogar als völlig unbelebte Masse: Das ist man, halten zu Gnaden, schließlich gar nicht mehr so richtig gewöhnt.

Alles in allem: Eine anstrengende Phase. Ich hoffe, das wird bald besser. Ich habe mir sagen lassen, später muss man da nicht mehr immer mit. Ältere Kinder gehen ja auch allein in die Schule. Und noch ältere gehen bisweilen gar nicht mehr. Auch ich setze auf jene Jahre, in denen der F. allein vor sich hin morpht. Also so vom Liberalen zum Marxisten und zurück. Grüne Haare, alles ab, Vollbart. Maler, Straßentheater, Studienrat oder doch Richter am Verwaltungsgericht Jena. Da muss er dann allein durch. Ob das für mich allerdings wirklich entspannender wird: Man wird sehen.

Papagei

„Kommt ein Papagei …“, kommt der F. um die Ecke und grinst übers ganze, runde Gesicht. „Und dann?“. frage ich. „… zum Arzt!“, kreischt der F. auf, stampft vor Freude ein paarmal mit dem Fuß auf den Boden und biegt sich buchstäblich vor Lachen. Ich bin fasziniert: Dass jemand tatsächlich vor lauter Freude eine Art Verbeugung macht, mit den Armen rudert, fast hinfällt und sich dann geräuschvoll mit den flachen Händen auf die Schenkel schlägt: Das habe ich wirklich noch nie gesehen.

„Wie geht es weiter?“, frage ich den F., als er fertig gelacht hat. „Kommt ein Papagei …“, hebt er wieder an, und diesmal springt er so lange und so intensiv durch die Küche, dass er ausrutscht. Leicht belämmert sitzt er auf dem Parkett, steht langsam auf, klopft sich die Strumpfhose ab, und nach Witzen ist ihm die nächsten zehn Minuten nicht zumute.

Nach dem Mittagessen hilft er beim Backen und knetet hingebungsvoll in einer Schüssel Streusel. „Kommt ein Papagei zum Arzt.“, tippt er mich auf einmal wieder an den Arm. Mist, denke ich. Schon wieder ein T-Shirt schmutzig, denn an meinem schwarzen Ärmel hängen nun Butter und Mehl. „Sagt der Papagei …“, fährt der F. fort, und dann fängt er so laut an zu lachen, dass die Katze erwacht und sich um die Ecke ins Wohnzimmer schleicht. „… der Papagei!“, kreischt der F. derweilen, und dann steigt er auf einmal ganz schnell von seinem Hocker und läuft o-beinig ins Bad. An sich ist der F. nämlich schon so gut wie trocken. Aber wenn doch ein Papagei zum Arzt kommt, gibt es auch hier kein Halten mehr. Ich stelle die Küchenmaschine aus und laufe schnell hinterher. Verdammt: Das war die letzte Strumpfhose.

Abends im Bett lese ich vor. Der F. kuschelt sich ganz eng an mich und lässt sich von Gina Ruck-Pauquèts kleinem Zauberer erzählen, der seinen Zauberstock verliert. Der F. liebt den kleinen Zauberer und überhaupt das ganze Geschichtenbuch, und weil der kleine Zauberer am Ende der Geschichte mit seinem Zauberstab tanzt, muss auch der F., wenn schon nicht tanzen, so doch zumindest singen, und weil er vom Singen sehr lustig wird, unterbricht er mich und fängt wieder an. „Kommt ein Papagei …“. Dann lacht und strampelt er so wild, dass das Deckbett auf den Boden fällt, und ich kurzzeitig für den Deckenstuck fürchte.

Schließlich schläft der F. doch. Ein sanftes Lächeln umspielt seinen Mund. Ich ziehe die Decke über seine Brust. Hat er sich etwa bewegt? Im Schlaf greift sein Arm nach meiner Hand, und er flüstert ganz leise: „… zum Arzt.“

Komische Schuhe

Das Geheimnis der Komik, sagte mir mal einer, sei eigentlich simpel: Scheitern, ohne dass etwas Schlimmes passiert. Beides gehöre stets zusammen. Erfolg einerseits sei nämlich nicht lustig. Wenn also einer einen Kuchen backt, den alle mögen, sei das schlechthin nicht komisch. Wenn der Kuchen aber so grotesk missrate, dass jeder, der davon esse, in hohem Bogen gegen die Wand, na, Sie wissen schon, dann sei das in gewissen Kreisen sozusagen abendfüllend. Andererseits sei es natürlich auch nicht lustig, wenn jeder, der vom Kuchen nimmt, tot zusammenbreche.

Gemessen an diesem Maßstab lachen Sie bitte jetzt, denn der J., mein geschätzter Gefährte, der vielgeliebte J., hat sich gestern vormittag in Rosenheim ein paar schwarze Schuhe von Jack Wolfskin gekauft.

Die Schuhe sind natürlich hässlich wie die Nacht. Nirgendwo auf der Welt, stelle ich mir, haben Leute absichtlich so etwas an den Füßen. Es handelt sich um Schnürschuhe aus einem leichten Material aus Kunststoff, nicht unähnlich grau-blauen Turnschuhen, und als der J. gestern Nachmittag das erste Mal mit den Schuhen in den Kuhstall des Bauernhofs gegangen ist, in dem wir gerade Urlaub machen, sah er schon ganz schön belämmert aus.

Belämmerung aber ist noch nicht Scheitern. Scheitern, so sagt man, kann man ja stets nur an den eigenen Erwartungen. Zum Beispiel an den Erwartungen des J. an sich als einen gutgekleideten Mann. Also einem Mann, der auch bei 40 ° C ein weißes Hemd trägt. Und kein T-Shirt auf dem irgendetwas Idiotisches steht. Wir haben solche Leute gesehen. Auf ihren Shirts stand allen Ernstes irgendein erfundener oder auch nicht erfundener Ortsname oder eine Universität, die sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht besucht haben, meistens, weil eine Bildungseinrichtung dieses Namens nicht existiert. Oder Aussagen, die nicht einmal dann Sinn ergeben, wenn sie nicht aufgedruckt, sondern ausgesprochen werden. „Talk To My Paw“, ich bitte Sie. Oder „High Five Mountain“. Oder auch der Hersteller. Der J. und ich sind ja in den Achtzigern sozialisiert und haben ein BOSS-T-Shirt-Trauma. Hemden sind also weiß. Oder blau. Und es steht auch nichts drauf. Hosen sind blau oder beige. Pullover haben einen V-Ausschnitt, und Schuhe sind aus Leder. Plastik sollte es in Zusammenhang mit Bekleidung gar nicht geben. Bei Regen geht ein vernünftiger Mensch einfach nicht raus, und für ganz kurze Strecken gibt es Schirme und die Barbourjacke des J.

Diese nicht allzu ehrgeizig formulierten Erwartungen des J. erfüllte dieser Jahr für Jahr solange ich ihn kannte. Zeitweise besaß er gar keine Kleidungsstücke, die nicht beige, blau oder weiß waren. Wenn er doch einmal etwas anderes kaufte – ein rosa-weiß-kariertes Hemd etwa – dachte der J. lange darüber nach. Dann aber fuhren wir eines Tages ins Krankenhaus Friedrichshain und kamen mit dem F. wieder.

Zu Anfang war er noch ganz klein und störte die Bekleidungsvorstellungen des J. eigentlich gar nicht. Also, wenn man mal von der bespuckten Windel auf der Schulter absieht, aber die kann man ja abnehmen, wenn man vor die Tür geht. Als der F. ein Jahr alt wurde, saßen wir uns also gegenüber, der J. und ich, und versicherten uns, dass die Leute, die alle behaupten, mit Kind werde alles ganz anders, Quatsch erzählt hätten. Urlaube, Kleider, Freizeitverhalten: Wir saßen uns im Cavallino Rosso in Mitte gegenüber, waren angezogen wie immer, im Buggy neben uns schlief der F., und wir hatten gesiegt. Dachten wir. Damals.

Im nächsten Winter froren wir eigentlich schon sehr, als wir bei 4° C auf dem Spielplatz standen. Und meine hochhackigen Schuhe trug ich eigentlich nur noch selten. Dafür hatte der J. verhältnismäßig oft eine hässliche, blaue Jacke an, die er sich eigentlich nur für eine einzige Wanderung gekauft hatte. Aber noch waren wir ganz obenauf. Der Winter war auch ziemlich warm, und besonders schmutzig kann man sich in Berlin ja auch gar nicht machen.

Die Wochen aber schwanden. Die Monate zogen vorbei. Der F. wurde größer und frecher. Der F. plantschte im Meer, der F. begann, ziemlich viel zu sprechen. Inzwischen spricht er eigentlich ununterbrochen, außer, er schläft. Das ist unpraktisch, denn eigentlich ist das schon eher mein Part. Seit er sprechen kann, hat er natürlich auch Interessen. Baumaschinen gehören dazu. Die Zubereitung von Speisen. Und nicht zuletzt: Die Landwirtschaft. Also so eine idealisierte Landwirtschaft, wie sie in Kinderbüchern vorkommt.

Wer kann seinem Erstgeborenen widerstehen. Wir buchten eine Woche Bauernhof. Hier sitzen wir nun, irgendwo in Oberbayern, unweit des Tegernsees. Der Hof liegt einsam wie nur was, es gibt Kühe, Pferde und Katzen, es riecht nach tierischen Exkrementen und Milch, und der Hof ist zwar einerseits so gespenstisch sauber wie ganz Bayern, aber andererseits reicht auch der sehr wenige Schmutz und der gestern einsetzende Regen, um des J. Red Wing Schuhe ganz und gar zu durchnässen.

Einen Tag und eine Nacht dachte der J. nach. Ideale wirft man nämlich nicht so einfach über Bord. Dann setzten wir uns in unseren Mietwagen, fuhren nach Rosenheim und betraten eins dieser Geschäfte, von denen wir gedacht hatten, sie besuchten immer nur die anderen.

Jetzt lachen Sie bitte. Denn das ist Scheitern. Oder lachen Sie auch nicht. Denn komisch, wir erinnern uns, ist etwas nur dann, wenn es nicht schlimm endet. Und Sie haben des J. Schuhe noch nicht gesehen.